Was sind eigentlich Alter und Tod? Beide sind Ausdruck von Veränderung. Und damit sind sie auch Abschiede. Denn wir verabschieden uns ständig, mit jeder Sekunde geht etwas aus unserem Leben, auch wenn wir das fast nie so direkt wahrnehmen. Weil wir uns oft fast automatisch gegen den natürlichen Fluss der Veränderung stellen, erfahren wir immer wieder den Schmerz des angestrengten Festhaltens.

Aktuell ist mir das noch einmal bewusst geworden, weil eine Kollegin, mit der ich seit 17 Jahren zusammengearbeitet habe, in Rente gegangen ist. Sie ist ein warmherziger und kluger Mensch, mit dem ich aus den Texten immer das Beste herausgeholt habe. Ich habe sie liebevoll mein „externes Gehirn“ genannt, denn sie hat so manchen Text gerettet, wenn ich mal nicht in Form war. Und nun ist sie weg und ich merke, wie mir das richtig weh tut. Wie ich unseren humorvollen Umgang miteinander vermisse und ihre Bereitschaft, in ihrem Denken auch über den Tellerrand zu gucken…

Dabei habe ich doch immer noch Kontakt zu ihr und kann sie anrufen, wenn ich will. Warum halte ich dann so gerne an vergangenen – als positiv erlebten – Ereignissen und Beziehungen fest? Weil ich glaube, dass das, was danach kommt, weniger gut und im Extremfall unersetzbar ist. Dass vielleicht sogar nichts wirklich Gutes nachkommt und mein Leben ab jetzt schwieriger und weniger schön wird. Mit anderen Worten: Ich misstraue dem Leben, dass es auch in Zukunft gut für mich sorgt. Nicht umsonst heißt es in spirituellen Kreisen so schön: Stirb, bevor du stirbst! Heißt: „Lass jetzt schon dein Misstrauen dem Leben gegenüber los und gib dich jedem Augenblick neu hin. Dann wird es ein schönes Leben. Wenn du wartest, bis der Tod dich zum endgültigen Loslassen zwingt, hast du das echte Leben leider verpasst.“ Misstrauen dem Leben gegenüber ist einfach Angst.

Letztes Jahr bin ich im Sommer durch einen zweiwöchigen Prozess tiefster Angst gegangen, bei dem sich Tonnen von Angst verabschiedet haben. Am Ende des Prozesses ging ich durch meine Wohnung, nahm irgendetwas in die Hand und überlegte, ob ich es wegwerfen sollte. Da kam der Gedanke: Ich könnte es ja noch mal brauchen. Als ich verstand, was ich da gedacht hatte, rollte ein Tsunami durch meine Gehirnwindungen. Ich habe eine Woche lang in meiner Wohnung Tag und Nacht fast ohne Pause Zeug rausgeräumt und insgesamt rund 40 Kisten „könnte ich ja noch mal brauchen“ entweder verschenkt oder zur BSR gefahren. Eine Erleichterung, von der ich immer noch zehre…

Jörg Engelsing

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