Tabu Wochenbettdepression

Auf die Geburt des ersten Kindes bereiten sich heute die meisten Frauen (und Partner) in Geburtsvorbereitungskursen vor, studieren Ratgeber über Schwangerschaft, Geburt und Kindererziehung. Hohe Erwartungen an das Geburtserlebnis und an das neue Leben zu dritt, aber auch Ängste und Sorgen über die Gesundheit des Babys oder die materielle Seite der Elternschaft prägen die Zeit der Schwangerschaft. Ein realistisches Bild über die Zeit nach der Geburt haben wohl die wenigsten Frauen/Paare. Verklärte Bilder aus der Werbung mit strahlenden oder friedlich schlafenden Babys und glücklich in die Kamera lächelnden Eltern herrschen vor.

 

Die Realität sieht für die meisten Mütter / Eltern wesentlich anders aus. Die Geburt, besonders des ersten Kindes, birgt eine enorme Umstellung sowohl auf körperlicher als auch auf seelischer und sozialer Ebene in sich.

Die meisten Frauen werden im Wochenbett mit Schlafentzug, Erschöpfung, Angst vor der lebenslangen Verantwortung, einer veränderten Paarbeziehung und dem Rückfall in das traditionelle Rollenmodell konfrontiert. Zwischen Stillen, Wickeln, Kind trösten und der Organisation des Haushalts bleibt oft überhaupt keine Zeit mehr für ihre eigene Erholung. Mehr oder weniger starke Erschöpfungszustände der Frau gelten als Bestandteil des Anpassungsprozesses an das Leben mit einem Kind. Bei den meisten Frauen stellt sich nach kurzer Zeit wieder normales Wohlbefinden ein, sie empfinden Liebe für ihr Kind, entwickeln einen neuen Lebensrhythmus und genießen die neuen Erfahrungen, die ihnen eröffnet werden.

Doch wo endet der „normale Wahnsinn“ nach der Geburt und wo beginnt die psychische Erkrankung?

In der Literatur wird heute meist zwischen folgenden Phänomenen bzw. Erkrankungen unterschieden:

  • Baby-Blues
  • Postpartale Depression 
  • Postpartale Psychose

Der Baby-Blues

Allen bekannt ist der so genannte „Baby-Blues“ (Heultage), den über die Hälfte der Wöchnerinnen erleben.

Er zeigt sich durch:

  • allgemeine Verstimmung
  • Ängste und Unruhe 
  • Verletzlichkeit und Weinen 
  • Reizbarkeit und Schlafstörungen

und vergeht nach ein paar Tagen von selbst wieder. Das Phänomen Baby-Blues wird in allen Ratgebern erwähnt, in den Geburtsvorbereitungen besprochen und vermittelt den Frauen/Paaren das Gefühl: Ein paar „verrückte“ Tage sind erlaubt, aber dann hat sich das normale Glück einzustellen.

 

Die Wochenbettdepression (= Postpartale Depression)

Bei 10-20 Prozent der Frauen zeigt sich innerhalb des ersten Jahres nach der Geburt leider eine andere Entwicklung. Sie zeigen folgende Symptome:

  • Niedergeschlagenheit und Traurigkeit
  • Antriebs- und Lustlosigkeit 
  • innere Leere (bis zur Unfähigkeit zu weinen) 
  • Denk- und Konzentrationsstörungen 
  • Appetitstörungen 
  • Schlafstörungen 
  • Gefühl der Hilflosigkeit und Überforderung 
  • Schuldgefühle, nicht den Erwartungen bzgl. der Mutterrolle zu entsprechen 
  • somatische Beschwerden wie Kopfschmerzen, Muskelverspannungen und Verdauungsstörungen 
  • Ängste, innere Unruhe, extreme Reizbarkeit, Panikattacken und Zwangsgedanken (wiederkehrende destruktive Vorstellungen und Bilder) 
  • zwiespältige Gefühle dem Kind gegenüber

 

Nicht alle Symptome müssen gleichzeitig auftreten und können von leicht bis schwer differieren. Typisch bei der postpartalen Depression ist eine schleichende Entwicklung, d.h. die Betroffene und die sie umgebenden Menschen merken nicht so recht, wie sich der Zustand verschlimmert. Dazu kommt, dass die Symptomatik sich erst später (bis zu einem Jahr nach der Geburt) entwickeln kann.
Die meisten Frauen wissen gar nicht, dass es sich bei ihrem Zustand um eine Krankheit handelt. Sie denken, dass sie keine gute Mutter sind und erhalten mehr oder weniger gut gemeinte Ratschläge aus ihrem Umfeld. Sie sprechen aus Scham nicht über ihre Probleme und hoffen, dass dieser Zustand mit der Zeit von selbst wieder vergeht. Nur wenige der von postpartaler Depression befallenen Frauen nehmen professionelle Hilfe in Anspruch.

 

Wenn Sie das Gefühl haben, unter einer Wochenbettdepression zu leiden, rate ich Ihnen:

  • Sprechen Sie möglichst bald mit jemandem darüber – mit Ihrer Hebamme, Ihrem Gynäkologen/Ihrer Gynäkologin, Ihrem Hausarzt/ Ihrer Hausärztin, mit einer Vertreterin der Selbsthilfegruppe. Sie sind nicht willensschwach oder unfähig, sondern es kann sein, dass Sie krank sind und deshalb nicht alles nach Wunsch verläuft.
  • Lassen Sie sich entlasten durch Ihren Partner, Angehörige oder Freunde. Sorgen Sie für Entspannung, tun Sie sich etwas Gutes. Erinnern Sie sich daran, was Ihnen vor der Geburt Spaß gemacht hat und versuchen Sie, das umzusetzen. 
  • Suchen Sie sich ärztliche oder psychologische Unterstützung. Wochenbettdepressionen können mit Medikamenten und Psychotherapie behandelt werden. In manchen Fällen kann auch ein Klinikaufenthalt notwendig sein. In Berlin gibt es inzwischen mehrere Kliniken, die Mütter gemeinsam mit ihren Kindern aufnehmen können.

Die Wochenbettpsychose (= Postpartale Psychose)

Die seltener vorkommende Postpartale Psychose ist eine sehr schwere Erkrankung, die 0,1 bis 0,2 Prozent aller Wöchnerinnen betrifft. Die Symptome einer Wochenbettpsychose entwickeln sich oft abrupt und verlangen sofortiges Handeln der Angehörigen. Wenn die Frau im folgenden genannte Krankheitszeichen zeigt, sollte umgehend ein Arzt eingeschaltet, der Sozialpsychiatrische Dienst des zuständigen Bezirks oder der rund um die Uhr besetzte Berliner Krisendienst angerufen werden:

  • Hören von Stimmen
  • Allmachts- und Retterphantasien 
  • Phasen sehr starker Erregung 
  • panische Angstzustände, Verfolgungsängste 
  • Einbilden/Sehen von Dingen und Ereignissen, die nicht der Wirklichkeit entsprechen 
  • ernsthafte Aggressivität gegen sich selbst oder andere Personen

Da die betroffene Frau ihren Zustand meist falsch einschätzt oder ihn selbst nicht erkennen kann, ist sie auf Hilfe angewiesen. Eine Behandlung mit Medikamenten und ein stationärer Aufenthalt sind meist unerlässlich.

 

Eigentlich sollte ich glücklich sein – Der Umgang mit der postpartalen Krise in der Öffentlichkeit

Das Thema findet auch bis heute kaum Eingang in Geburtsvorbereitungskurse und in Ratgebern rund um die Geburt finden Wochenbettdepression und -psychose nur vereinzelt Erwähnung. Dies führt dazu, dass die betroffenen Frauen und Familien völlig unvorbereitet mit einem Zustand konfrontiert werden, für den sie keine Erklärung haben.
Die Frauen entwickeln Schuld- und Schamgefühle, weil sie dem Idealbild der glücklichen Mutter in unserer Gesellschaft nicht entsprechen und haben das Gefühl, die einzige schlechte Mutter unter all den glücklichen zu sein. In herkömmlichen Mutter-Kind-Gruppen etc. finden die Frauen im Allgemeinen wenig Unterstützung, weil für dieses Problem wenig Offenheit herrscht. Die Angst vor Ablehnung und Stigmatisierung hindert viele Frauen daran, ihre Gefühle zu offenbaren. Dabei könnte ein entlastendes Gespräch schon der erste Schritt zur Besserung sein. Die Chance der Früherkennung wird von den Fachleuten, die Frau und Kind nach der Geburt betreuen, zu wenig genutzt. Dies steht in krassem Gegensatz zu den gut ausgebauten medizinischen Vorsorgeprogrammen vor und nach der Geburt, die jedoch das psychische Wohlbefinden der Frau nach der Geburt meist ausklammern. Hebammen, GynäkologInnen und KinderärztInnen werden in ihrer Ausbildung nicht oder unzureichend auf die kritische Phase nach der Geburt vorbereitet. Die gesellschaftliche Tabuisierung des Themas und die eigene Unsicherheit führen dazu, dass in vielen Fällen eine Wochenbettdepression nicht erkannt wird und die Frauen keine oder erst nach einer langen Odyssee Hilfe erhalten. Hinzu kommt, dass in der BRD kaum spezifische Angebote für Frauen mit Wochenbettdepressionen bestehen, an die eine Betroffene verwiesen werden könnte.

 

Wo können Sie sich weiter informieren?

In Berlin gibt es seit 1996 eine Selbsthilfegruppe für Frauen mit Wochenbettdepressionen und -psychosen. Wir beraten Betroffene, ihre Angehörigen, aber auch Fachleute telefonisch und helfen bei der Suche nach geeigneten Therapiemöglichkeiten. Den meisten Frauen tut es gut, andere Betroffene kennen zu lernen und sich über ihr Befinden auszutauschen. Ehemals Betroffene können hilfreiche Tipps geben, wie sie selbst die Krise nach der Geburt überwunden haben.


Abb: ©Katharina Meewes

Bücher

Petra Nispel: Mutterglück und Tränen. Das seelische Tief nach der Geburt verstehen und überwinden. Herder Spektrum. Freiburg 2001

Bettina Salis: Freudentränen und Baby-Blues. rororo. Reinbek bei Hamburg 2001

Jutta Gier: Baby-Blues, Wochenbettdepression, Wochenbettpsychose. Ein Ratgeber für Hebammen: Der Umgang mit psychischen Auffälligkeiten im Wochenbett.
(Erhältlich bei: Geburtshaus für eine selbstbestimmte Geburt – Beratung und Koordination e.V., Tel.: 030/3223071, eMail: kontakt@berliner-geburtshaeuser.de)

Eine Antwort

  1. Kia

    Sehr geehrte Frau Gier,

    können Sie mir eine Beratungsstelle empfehlen zum Thema Geburt.
    Ich möchte unser Kind gerne im Wasser zur Welt bringen, ggf. im Krankenhaus mit einer Beleghebamme, die für die Vor- und Nachsorge zu uns nach Hause kommt. Gerne in der Nähe Wilmersdorf. Geburtstermin ist Feb.2011.

    Über ein schnelle Antwort würde ich mich sehr freuen, Kia.

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