Gaia (die Erde und alle ihre Lebewesen) ist eine Einheit und entwickelt sich als eine Einheit. Jede Komponente von Gaia, einschließlich jedes Menschen, ist eng verbunden mit und abhängig von jeder anderen Komponente. Diese Einheit von Gaia ersetzt die Vorstellung der Autonomie und Unabhängigkeit der einzelnen Komponenten von Gaia, die Grundlage unserer heutigen Kultur ist.

Seit rund 2000 Jahren oder mehr wurde Zivilisation bestimmt durch ein soziales Paradigma, auf dem alle Aspekte der EuroAmerikanischen Kulturen beruhen – dem „Beherrscher-Paradigma.“ In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat sich jedoch ein neues soziales Paradigma herausgebildet, das die weitesten, tiefsten und fundamentalsten Auswirkungen auf die menschliche Zivilisation haben könnte, seit die Hominiden von den Bäumen herunterstiegen. Das alte Paradigma platzierte den Menschen in einem zweckmäßigen Universum, von einer übernatürlichen Kraft für die Beherrschung und Nutzung durch den Menschen geschaffen. Das neue Paradigma, dass wir „ein Gaia-Paradigma“ nennen werden, schlägt ein sich spontan selbst organisierendes Universum vor, in dem die Menschheit nur eines der erschaffenen interdependenten Gewebe des Seins ist.

Ein Gaia-Paradigma

Das neue Paradigma hat nicht nur viele Wurzeln, sondern kann und wird immer mehr, die Grundlage eines neuen globalen Netzwerkes der Kulturen, anstelle der jetzt herrschenden und beherrschenden Menschen-zentrierten industriellen Kulturen. Diese neue Kultur wird, wie alle Kulturen, eine ganzheitlich vereinigte Kohärenz von interdependenten Komponenten sein – von Religion, Wirtschaft, Sozialem, Kunst und vielem anderen. Das Auftauchen des Gaia-Paradigmas wird in einem tiefen, fundamentalen Wandel unseres Weltbildes, unserer sozialen Einrichtungen und unserer Lebensweise münden. Die Notwendigkeit dieser Veränderung wird immer offensichtlicher durch die wachsende Zahl von Gefahren, die dem Industrialismus innewohnen. Und der Übergang geschieht bereits, er wird verwirklicht durch das Aufkeimen vieler positiver und kreativer sozialer Innovationen.

Grundlagen für ein Gaia-Paradigma

GaiaViele grundlegende wissenschaftliche Beobachtungen haben zu diesem neuen wissenschaftlichen/ gesellschaftlichen Paradigma geführt. Die Entwicklung der Gaia-Theorie, die Etablierung von Chaos- und Komplexitäts-Theorien und neue Konzepte der Evolution sind einige davon.

Die Wissenschaft hat erkannt, dass die biologische Evolution nicht so verlief, wie Darwin es vorschlug – als eine Reihe von kleinen Änderungen, die im Laufe der Zeit zur Entstehung neuer Arten geführt haben. Vielmehr geschieht Evolution in der Regel durch Quantensprünge. Große biologische Veränderungen und neue Arten werden in relativ kurzer Zeit erschaffen, nach einer langen Zeit der Stabilität. Diese Beobachtung wurde von Stephen Jay Gold als „unterbrochenes Gleichgewicht“ bezeichnet.

In einem anderen Gebiet haben James Lovelock und Lynn Margulis 1974 in ihrem Papier, „Atmosphärische Homöostase durch und für die Biosphäre – Die Gaia-Hypothese“ festgestellt, dass die Biosphäre der Erde sich grundlegend von allen anderen Planeten unterscheidet. Lovelock hat darauf hingewiesen, dass die Atmosphäre und andere Eigenschaften des Planeten Erde erstaunlich konstant geblieben sind, und zwar innerhalb des Bereiches, der Leben möglich macht. Lynn Margulis, Mikrobiologin, studierte zur gleichen Zeit die Evolution von Mikroorganismen über die Milliarden von Jahren, bevor die Tiere auf der Erde erschienen. Sie fand heraus, dass alle Lebewesen voneinander abhängig sind. Leben auf der Erde ist nur möglich durch eine Symbiose aller Lebensformen. Alles ist abhängig von allem anderen. Leben hat sich sein eigenes Biom geschaffen. Lovelock und Margulis schlugen vor, dass die ganze Erde ein sich selbst organisierendes und erhaltendes Ökosystem ist. Auf Anregung der eines Nachbarn von Lovelock, William Golding (Autor von „Herr der Fliegen“), nannten sie dieses lebendige System Erde „Gaia“, nach der griechischen Göttin der Erde.

Gesellschaftlicher Wandel

Die Erkenntnis des „unterbrochenen Gleichgewichts“ gilt gleichermaßen für die soziale und kulturelle Evolution, wie für die biologische Evolution. Solange eine Gesellschaft kompetent an die Werte und Bedürfnisse der Menschen angepasst ist, denen sie dient, wird sie dazu neigen, die Werte und Verhaltensweisen, die sie erhalten haben zu bewahren und sich jedem Wandel widersetzen. Aber wenn die Dinge auseinanderfallen (Wirtschaftskrisen, Gewalt auf der Straße, Zerfall der Familie, Krieg, religiöse Unsicherheit, Hunger, ökologischer Kollaps, oder was auch immer) werden selbst tief verwurzelte kulturelle Prämissen schnell wieder aufgegeben. Die Macht von Unsicherheit und Chaos setzt ein. Wenn neues Wissen eine völlig neue Weltsicht offenbart, ersetzt eine neue kulturelle und soziale Struktur die alte. Die Gesellschaft ist heute in ihrer tiefgreifensten Phase von Chaos und Veränderung überhaupt.

In den kommenden Jahren ist es sehr wahrscheinlich, dass jede soziale Institution, die sich im Laufe der letzten 2000 Jahre oder mehr entwickelt hat, im Lichte des neuen wissenschaftlichen/gesellschaftlichen Paradigmas in aller Tiefe, fundamental und radikal überprüft werden wird. Die neue Denkrichtung gibt der Menschheit ein neues, leistungsfähiges Werkzeug zur Erkenntnis und Vorbereitung auf eine ungewisse Zukunft. Es könnte sein, dass bald eine Flut sich selbst organisierender sozialer Phänomene das Alte ersetzt.

Der heutige Schritt in der sozialen Revolution ist weit fundamentaler als alle vorherigen Verschiebungen des sozialen Paradigmas. Es ist der tiefgreifendste und fundamentalste Wandel in den fünf Millionen Jahren der Evolution des Menschen. Die meisten menschlichen Kulturen entwickelten sich mit dem Verständnis von einzelnen Personen, die abhängig sind von der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft und ihr Leben der Verbesserung des Wohlbefindens der ganzen Gemeinschaft widmen. Die Gesundheit und Sicherheit der Gemeinschaft sicherte gleichzeitig die Gesundheit und Sicherheit jedes Mitglieds der Gemeinschaft. Aber die EuroAmerikanischen Kulturen haben einen anderen Weg eingeschlagen – das Beherrscher-Paradigma.

Das Gaia-Paradigma schlägt vor, dass der Übergang, den wir alle wollen nicht nur dazu dient, die Fehler der Vergangenheit oder der Gegenwart zu beheben. Er ist weit grundlegender als die Revolutionen nach Kopernikus, Newton und Darwin. Selbst wenn es keines von den Übeln gäbe, die wir so oft in unserer gegenwärtigen Kultur erleben, wäre der Übergang vom Beherrscher-Paradigma zum Gaia-Paradigma noch immer die Basis für einen radikalen Wandel in unserem Weltbild, unserer Mentalität und unserer Kultur. Die Zukunft wird völlig anders aussehen als die Vergangenheit, weil sie auf eine radikal andere Wissensbasis aufbauen wird. Und es geschieht bereits.

Wissenschaft und Religion

GaiaEin weiterer Aspekt des Gaia-Paradigmas ist die Verschmelzung von Wissenschaft und Religion.

Ein Teil der Neubewertung der Wissenschaft verlief gleichzeitig mit der Neubewertung der Religion in einer ganzheitlichen Neubewertung des Stellenwerts von Wissen in der Gesellschaft. Eine neue Suche nach Sinn und Spiritualität entstand aus dem Friedens-, Menschenrechts- und Ökologiebewegungen und dem Feminismus der 1960er Jahre. Die Suche nach dem Sinn wurde intensiviert von den kühnen Abenteuern in „New Age“-Sekten und -Fantasien, der tiefen Suche durch östliche Religionen und der uneingeschränkten Akzeptanz von fragwürdigen Pseudo-Wissenschaften. Dies wurde jedoch zur Frucht gebracht durch eine tiefe wissenschaftliche und theologische Neubestimmung der religiösen und wissenschaftlichen Lehren.

Am wissenschaftlichen Ende gibt es eine wachsende Demut. Die Wissenschaft akzeptiert verständlicherweise die Verurteilung des Einsatzes von Technologien, von denen nachteilige Auswirkungen auf die Gesellschaft und die Umwelt ausgehen. Sowohl die Grenzen als auch die Unsicherheit der Wissenschaft werden jetzt hervorgehoben, so dass mehr Raum für eine rationale religiöse Spekulation entsteht. Gleichzeitig wird mit dem Aufkommen der Quanten- und Relativitätstheorie und noch mehr in den neuen Wissenschaften von Gaia, Chaos und Komplexität anerkannt, dass die Wissenschaft als „Wissen für das Verständnis“ relevant ist, um Schumachers Worte zu gebrauchen. Heute ist Wissenschaft nicht nur eine Basis für neue Technologien, sie offenbart auch, wie wenig vernunftgegründetes, sicheres Faktenwissen wir über den Kosmos und die kosmische Evolution besitzen. Dieses beschränkte Wissen ist relevant für den Platz der Menschheit im Universum. Es impliziert Regeln, nach denen die Menschheit leben sollte, wenn sie weiter existieren will. Ein neues Zeitalter der Wissenschaft bricht an.

Gregory Bateson weist in „Steps to an Ecology of Mind“ darauf hin, ein lebender Organismus könne nur fortbestehen, wenn er drei biologische Prinzipien erfüllt: (1) Gesundheit, die Fähigkeit, innerhalb seiner Umgebung zu existieren, (2) Kompetenz, die Fähigkeit, Versorgung aus seiner Umgebung zu beziehen und (3) adaptive Flexibilität, die Fähigkeit, sich mit seiner Umwelt zu verändern. Diese Grundsätze gelten für soziale Systeme ebenso wie für biologische Systeme. Sie lehren uns, wie wir leben müssen, wenn die Menschheit sich selbst erhalten möchte. Tom Ellis formuliert die ethischen Implikationen der Gaia-Theorie in einen neuen kategorischen Imperativ: „Triff alle Entscheidungen auf Grundlage dessen, was die Gesundheit, Kompetenz und adaptive Flexibilität deiner selbst und des größeren Systems fördert, von dem du ein Teil bist.“ Wissenschaft verbindet sich mit Religion, um den Verhaltenskodex zu enthüllen, der für die Existenz des Menschen notwendig ist.

Die Verschmelzung von Religion und Wissenschaft folgt Spinoza’s Glaube, dass Gott die Natur ist und Einsteins Konzept, dass Religion das Gefühl von kosmischer Ehrfurcht, Wunder und Geheimnis ist, die mit dem tiefen Studium dessen, was ist, einhergeht – der Wissenschaft. Sie übertrifft den menschlichen Verstand. Sie bedeutet, die ultimative Wirklichkeit zu erfahren. Gott, in diesem Sinne, kann nicht auf menschliche Eigenschaften reduziert werden. Gott, so definiert, ist reiner Geist, unsichtbar für den Menschen. Gott ist jenseits des Materialismus und der Schwächen menschlicher Verfehlungen. Für den Menschen heißt über seine Attribute zu streiten, seine Größe zu verringern. Man kann einfach nicht das Wort „Gott“ gebrauchen und beschreiben. Gott ist mehr ein Zustand des Seins, als ein Attribut. Gott transzendiert Definition.

Die neuen Wissenschaften von Chaos, Komplexität und Gaia bringen ein neues Weltbild, in dem die Menschheit ein integraler und gleichberechtigter Teil eines sich selbst organisierenden Kosmos ist. Jedes Teil, und der Kosmos als Ganzes, ist gleichermaßen heilig und verehrenswürdig. Das Gaia-Paradigma – dass alles, was es gibt, die Gewebe des Seins sind – schlägt ein neues Konzept vor – von Gott als Kosmos und Wissenschaft als Offenbarung.

Es ist gut möglich, dass die Menschheit an der Schwelle eines neuen Zeitalters der Wissenschaft und eines neuen Zeitalters der Religion steht: einer einheitlichen Suche nach grundlegendem Wissen, das sie vor der Apokalypse zu retten vermag, von der sie aktuell bedroht ist.

Ein Gaia-Werte-System

Wir gehören zum Gewebe allen Seins – zum Kosmos – zur Erde – zu Gaia.

Die Zugehörigkeit ist der Über-Wert, von dem alle anderen Werte sich ableiten.

Wir gehören zur Physiosphäre, zur Biosphäre, zur Ideosphäre.

Wir gehören zu Gaia.

Wie die Aborigines sagen: „Wir sind Eigentum des Landes, nicht die Eigentümer des Landes.“
Wie Chief Seattle sagte: „Wir können das Land nicht besitzen, wir sind Teil des Landes.“

Wir gehören zu und sind untrennbar verbunden mit unserer Kultur – miteinander – mit der Erde – mit Gaia.

Wir sind abhängig von allem, was ist.

Die Zugehörigkeit ist eine wissenschaftliche Tatsache, und mehr als eine wissenschaftliche Tatsache.

Die Zugehörigkeit ist nicht nur „ein Mitglied sein“, sondern ein abhängig sein von, in Partnerschaft leben mit – verantwortlich sein für.

Wir gehören zu – und sind verantwortlich für die Geflechte allen Seins – das Universum – die Erde – Gaia.

Die Zugehörigkeit zu Gaia bedeutet, anzuerkennen, dass wir eingewoben sind in die Geflechte des Seins und dass unser Wohlbefinden abhängig ist vom Wohlergehen Gaias.

Wenn wir Gaia zerstören, vernichten wir uns selbst.

Zugehörigkeit bedeutet „Kooperation“ – arbeiten mit dem, was ist – mit Gaia – den Geweben des Seins.

Zugehörigkeit bedeutet „Gemeinschaft.“ In unserem Beziehungen von Angesicht zu Angesicht, zu Menschen, mit denen wir Gemeinschaft bilden – wir gehören zur Gemeinschaft.

Zugehörigkeit bedeutet „Verantwortung.“ Wir sind verantwortlich für Gaia.

Wir sind verantwortlich füreinander.

Zugehörigkeit bedeutet „Liebe“.

Wir können Liebe (agape) nicht von der Tatsache trennen, dass wir zu Gaia gehören.

Wir lieben, weil wir lieben müssen, um Gaia zu bewahren – um uns zu erhalten – um das Geflecht allen Seins zu bewahren.

Kulturen, die auf andere Werte gründen als auf Zugehörigkeit, sind verdammt zur Selbstzerstörung.

Eine Kultur, die auf der „Beherrschung der Erde und aller Tiere darauf“ gründet, wird verschwinden.

Eine Kultur, die auf „Eigennutz“ basiert, ist verurteilt zu zerfallen.

Eine Kultur, die auf dem „Überleben des Stärksten“ basiert, wird nicht überleben.

Eine Kultur, die auf Wettbewerb und Konkurrenz beruht, wird sich selbst zerstören.

Um stabil und nachhaltig zu sein, muss eine Kultur sich gründen auf Zusammenarbeit, Gemeinschaft, Verantwortung, Liebe, Ehrlichkeit, Pflege, und die anderen Werte, die implizit mit dem Verwoben-sein und der Zugehörigkeit einhergehen.

Wir können uns nicht mehr von der Zugehörigkeit – von Gaia – trennen und eine tragfähige Kultur bleiben, als ein Sauerstoff-Atom sich von den Wasserstoffatomen trennen und die Eigenschaften des Wassers behalten kann.

 

Dieser Artikel ist ein Auszug aus dem Buch „A Gaian Paradigm“ von William N. Ellis, dass in voller Länge im Netz zu lesen ist. Das Buch fasst die aktuellen Entwicklungen unter dem Gesichtspunkt der Gaia-Hypothese zusammen und versucht auszumachen, welche aktuellen Projekte und Praktiken eine wichtige Rolle für die Zukunft spielen könnten.

 

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Bilder

Gaia: Verfasser unbekannt

Gaias Atem: Josephine Wall

 

Über den Autor

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studierte Physik, arbeitete für UNESCO und die Weltbank, und sich schließlich als Netzwerker für NGOs und das TRANsnational NETwork for Appropriate Technology (TRANET).
Das Buch „A Gaian Paradigma“ ist eine Zusammenstellung aus bearbeiteten Artikeln, Gedanken und Tagebucheinträgen die sich“spontan zu einem Gesamtbild organisierten.“

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