Iris Disse begab sich auf ein Retreat in die Anden und lernte dort, dass es auch gut tun kann, den vorgeschrieben Pfad zu verlassen. Und das Wasser ein sehr kostbares Gut ist.

Regeln beachten oder nicht…

Ich halte mich nicht gerne an Regeln. Selbst meine eigenen sind eher flexibel – es ist gut, wenn es sie gibt, um sich dann im besonderen Fall bewusst nicht daran zu halten. Als Künstlerin habe ich gelernt, dass es spannend ist, die Freiheit in der Regel, das heißt in einer vorgegebenen Form sowie dem kreativen Chaos zu finden. Beide Pole sind wichtig.

Im morgendlichen Thai Chi Training und in meiner Yogapraxis zelebriere ich die Freiheit in der strengen Form – jeder Atemzug, jede noch so kleine Bewegung ist Jahrtausende alt und somit muss sie jeden Moment neu mit Leben gefüllt werden. Meine Arbeit an Drehbüchern, einer Performance, dem Tanz ist ganz anders – da warte ich, dass sich aus meinem Chaosraum ein Impuls löst, dem ich dann folge.

Das scheint mir mehr zu entsprechen, und wenn es nicht um meine Kunst geht, fühlt sich mein Leben manchmal etwas regellos, um nicht zu sagen fröhlich chaotisch an … oder unangenehm, wenn ich mal wieder etwas nicht finde. Immerhin kann ich mich so selbst überraschen.

Auf die gesellschaftlichen Konzepte übertragen bin ich wahrscheinlich eine Anarchistin: Jeder soll leben, was sie oder ihn fasziniert und herausfordert. Das, was man kann und liebt. Und das Unschöne, das getan werden muss, sei es die Arbeit am Fließband oder Straßenreinigen oder Klos putzen – naja, das muss dann halt jeder mal machen, z. B. einen Monat lang im Jahr. Und da die Menschen so unterschiedlich sind, sollte das doch einen geilen Frieden ergeben, um mit meinen Freunden aus der ZEGG Gemeinschaft zu reden. Einigen wenigen einsehbaren Regeln muss man sich schon unterwerfen, damit alles flutscht.

Leider läuft das nur in wenigen kleinen Gemeinschaften so. Wenn ein multinationaler Saatriese den Staat korrumpiert, damit die Kleinbauern ihr eigenes Saatgut nicht mehr benutzen dürfen und nur impotentes, steriles Saatgut einsetzten müssen, wodurch sie abhängig werden, sind das falsche Regeln, obwohl angeblich legal. Und wenn der Riese dann Handlanger schickt, die Ernten mit potentem Saatgut abfackeln, dann ist das mafiös und skandalös, aber diese Vorkommnisse schaffen oft noch nicht mal den Weg in die Nachrichten.

Und was ist mit dem Wasser. Ist es richtig, dass Trinkwasser von den Menschenrechten ausgenommen wurde, damit einige wenige damit Geschäfte machen? Was tut die Mafia? Sie bildet einen Staat im Staate mit starken eigenen illegalen Regeln innerhalb eines legalen Regelwerkes, das der Staat erstellt hat, damit man harmonisch unter Werten wie Menschenrechten und Rechtssicherheit zusammen leben kann. Man hat der Mafia vorgeworfen, ihre Regeln gelten nur dem illegalen und egoistischen Vermehren von Besitz, ohne Moral – ohne Humanismus. Kalt und brutal.
Heutzutage scheint das aber normal und legal geworden zu sein. Sind nicht die internationalen Konzerne heute legal und gleichzeitig mafiöser als die Mafia? Muss man sich gegen ein solches Regelwerk nicht zur Wehr setzten, wenn man es mit dem eigenen Ethos ernst meint?

Was weiß ich. Ich suche Nischen, um in Ruhe zu leben. Durch meine Filme will ich Bewusstsein schaffen. Ich arbeite mit eigenen Kurzzeitregeln, sei es als Regisseurin oder als Leiterin einer Schule, die Menschen mit dem Wissen aus Tantra, Yoga und Schamanismus verbindet.

Vissionssuche: Ein Schamanisches Retreat in den Anden

Szenenwechsel. Meine Freundin Tati lädt mich ein, an einer Visionssuche in den Anden teilzunehmen: Vier Tage ohne Essen und Trinken.

Der Ort ist vorgegeben, irgendein Platz unter einem Baum. Mein Revier ist abgesteckt: Ich soll 356 blutrote Gebetsbeutelchen herstellen – ein Stück Stoff, Tabak rein, Beutelchen mit vier Knoten umbinden, dabei das Gebet sprechen, nächstes Stück Stoff, Tabak rein, usw., während die rote Schnur mit den Beuteln dran länger und länger wird.  Diese wird später auf dem Berg drei mal um vier Stecken gebunden, die mit bunten Fahnen die Himmelsrichtungen markieren würden – das wird dann mein Aufenthaltsort für diese Tage.

Die Regeln:

  • Man darf nur eine Wolldecke mitnehmen, und da es Mücken gebe, ist ausnahmsweise ein Moskitonetz erlaubt. Kein
  • Hut, nichts aus Plastik.
  • Nicht essen, nicht trinken.
  • Mit niemandem reden.
  • Man soll in seinem Revier bleiben.

San Pedro, der Trunk aus dem heiligen Kaktus der Anden

Vollmond. In den Bergen gibt es einen Sonnentempel. Dort sitze ich in der Nacht mit anderen Visionssuchern und trinke den bitteren San Pedro, Trunk aus dem heiligen Kaktus der Anden. Wir bitten um Durchhaltevermögen. Neben mir ein frisch verliebtes  Teeny-Paar, das die ganze Nacht hoch und runter springt, zappelt, keinen Moment still sitzen oder liegen kann. Auf der anderen Seite ein schöner junger Mann mit Zopf. Mauricio ist Musiker und kommt nach vier Jahren aus Barcelona zurück, um hier in seiner Heimat Musik zu machen und zu leben.

Wir singen in dieser Nacht, sitzen um das Feuer. Es fühlt sich richtig an. Eine alte Dame um die 80 warnt uns vor unsrem größten Feind: dem Zweifel. Sie dankt uns, meint, so ein Trockenfasten würde unser Leben verändern und es sei ein wichtiges Opfer, um den Kontakt mit Pachamama herzustellen. „Vamos a ver“, denke ich etwas skeptisch. Das werden wir ja sehen.

Im Retreat: Hitze, Kraftobjekte, eine Zigarre und eine Regel

Am Morgen  gibt es eine Schwitzhütte. Wir sitzen eng beisammen in dem dunklen niedrigen Raum, die glühenden Steine heizen uns ein. Wieder wird laut gebetet, wir erinnern uns an unsere Absicht: Was wollen wir mit unserem Fasten erreichen?  

Während einer Zeremonie rauchen wir eine Art von Zigarre. Dabei wird uns das Wort „fortgenommen“. Wir dürfen nicht mehr sprechen.

Der Zeremonienleiter sagt: „Ich warne Euch, verlasst Euer Revier nicht. Es ist gefährlich, ihr seid in einem energetischen Ausnahmezustand. Ich empfehle Euch dringend, auf eurem Platz zu bleiben.“

Trinken dürfen wir auch nichts mehr – und das, wo ich doch durch das Schwitzen gerade so viel Wasser verloren habe. Ich bin erschreckt.

Dann wickeln wir einige Kraftobjekte und das Moskitonetz in die Wolldecke, ziehen trotz Sonne eine dicke Jacke an – einen Rucksack darf man ja nicht mitnehmen – und ziehen los. Jeder soll eine dieser Zigarren mitnehmen: Tabak in trockene Maisblätter gerollt und das Ganze mit kurzen Schnüren aus eben diesen Maisblättern zusammengeknotet. In dieser zeremoniellen Zigarre sind meine Worte aufgehoben. Auch ein Stück San Pedro-Kaktus steckt in dem Täschchen mit der Zigarre, zum Schutz.

„Du hast einen tollen Platz. Mit Aussicht, Schatten und Wind“, sagt Amalie, während sie die vier Pfosten mit den bunten Fahnen einschlägt.“ Macht sie Witze? Ich schaue sie forschend an. Es scheint nicht so. Ich schlage entschlossen eine Horde an meinen Knöcheln trinkender Mücken tot.

Nicht meine Regel

Apathie. Ich liege unter meinem Moskitonetz in die Wolldecke gewickelt. Will weder den Mond noch sonst was sehen. Bin froh, dass die Mücken draußen geblieben sind.

Es wird Tag. Will nicht aufstehen. Kann je eh nirgends hin. Vier, fünf Schritte in jede Richtung, das ist mein Terrain. Und das unter einer mickrigen Kiefer, für deren Schatten ich dankbar sein sollte. Gegen Mittag muss ich unter dem Netz hervorkriechen, die Sonne knallt drauf. Suche den Schatten, kauere hinter dem Stamm. Mit freudigem Gesummse stürzen sich die Mücken auf mich.

Ich denke nicht, fühle nichts, es interessiert mich kein Berg, kein Baum, keine Wolke.
Bin abgeschaltet. In der Abenddämmerung  liege ich wieder unter meinem Netz. Will nur schlafen.

Ein Gedanke. Ich habe mir selbst nicht versprochen, in diesem von Gebetsschnüren umfriedeten Raum zu bleiben. Das ist nicht meine Regel.

Ein Freund hat mir vor langer Zeit erklärt, was mein Name bedeutet. Ich heiße Disse, das kommt von Dise, und das sind die Hagedisen, die Heckenreiterinnen, die Frauen, die zwischen der zivilisierten Welt und der Wildnis hin und her wechseln können. Sie reiten symbolisch auf den Hecken, die das sichere Dorf von der Wildnis trennen.

Wenn der Ritualleiter sagt, wir sollen den geschützten Raum nicht verlassen, gilt das nicht für mich. „Wer wäre ich heute, wenn ich nicht immer wieder diesen Raum verlassen hätte“, denke ich.

So steige ich über die rote Schnur und pirsche los. Bin losgelöst, ganz selbstvergessen erforsche ich die Gegend. Eine Plantage mit kleinen Avocadobäumen.  Ich höre das unsichtbare Wasser in einem Bewässerungsgraben tief zwischen Pflanzen. Das tut gut. Eine Hecke, ich finde einen schmalen Durchgang. Dahinter eine alte Haciendastraße mit Kopfsteinpflaster. Eine Schlucht. Von weitem sehe ich den Cayambe, der Schnee glüht in der Abendsonne. Ein Geier kreist über meinem Kopf. Ein leichter Wind streichelt meine Haut.

Es tut gut, der eigenen Regel zu folgen

In dieser Nacht schaue ich in die Wolken, die am abnehmenden Mond vorbei fliegen. Vertiefe mich in ihre wechselnden Formen. Das einzig Beständige ist der Wechsel, das kann ich hier klar erkennen. Sehe Drachen, Kinder, Riesen, einen Delphin, Fabelwesen. Der Skorpion wandert über den Himmel.

Am Morgen  gehe ich wieder los. Finde einen runden Stausee mit Insel. Das Wasser spiegelt die Berge in der Morgenröte. Wasser! Ich meditiere und bin versucht, etwas zu trinken – aber diese Regel breche ich nicht. Ich beneide die Enten.

Wieder in meinem Terrain, ordne ich den Altar mit meinen Kraftgegenständen. Nehme die Zigarre in die Hand mit dem Tabak, der meine Worte zurückhält. Die Macht des Wortes – wie wird sie prostituiert in Politik und Werbung. Folgen meine Taten dem, was ich sage? Habe drei ockerfarbene Samenbohnen gefunden. Leise rasseln sie, wenn ich sie schüttele. Und ich singe für mich, für das Wasser, die Pachamama, für den Geist des schattenspendenden Baumes.

Meditieren. Da begegne ich einer Zwergin, die im Wurzelgeflecht der Kiefer lebt. Die nimmt mich mit unter die Erde. Und gibt mir zu trinken, obwohl sie in der Sommerzeit selbst nicht so viel Wasser hat.  Sagt sie. Ich trinke in vollen Zügen. Als ich aus der Meditation erwache, fühle ich mich wirklich erfrischt.

Dann die Berge. Ich beobachte sie. Sie nehmen Formen an. Ein Adler, der ein Ei bewacht. Eine riesige Eule. Ein schlafender Riese. Freunde.

Jeden Morgen und jeden Abend mache ich meine Wanderungen. Auch in der vierten Nacht wandere ich, da ich nicht schlafen kann. Ich sitze lange am See und schaue den Sternen zu, wie sie am Himmel entlangziehen. Ihr Spiegelbild im Wasser.

Am Nachmittag  werden wir abgeholt. Auch die anderen Visionssucher finden sich ein, gemeinsam gehen wir zum Tempel zurück. Einige der jungen Frauen können nicht laufen, lassen sich fallen, können nicht mehr hoch. Die Männer wanken auch, aber die Schwäche der Frauen scheint sie zu beleben. Die Gruppe schwankt zum Camp. Ich bin fit und laufe mit Freude.

Die Macht des Wortes

Dann wieder in die Schwitzhütte. Mit meiner Zigarre, in der meine Worte gefangen sind. Endlich bekommen wir Wasser zu trinken. Welcher Genuss, welche Extase. Wasser, heiliges, nährendes, wundervolles Wasser.

Der Ritualleiter zündet meine Zigarre an, sagt bewegende Worte zu meiner Visionssuche. Dann bekomme ich die rauchende Zigarre, um zu reden. Mein Wort ist befreit und soll Macht werden. Ich bin einfach dankbar, dass ich lebe. Was für ein Geschenk. Für all die seltsamen Erfahrungen. Die Intensität. Das Leben ist so tief und so leicht.

Mein Liebster holt mich ab. Wir verbringen den nächsten Tag in einem Dorf, wo es heiße Quellen gibt. Ich sitze den ganzen Tag im warmen Wasser, grüße die Wolken, die an der Sonne vorbeieilen und bin wunschlos glücklich.

Wir schauen dem Rauch einer Zigarre nach, als wir des Nachts auf der Terrasse reden. Was können wir dazu beitragen, dass Wasser zum Trinken auch in der offiziellen Regelung wieder Menschenrecht wird? Uns fällt auf, dass hier, in Ecuador, das Wasser bereits teurer ist als Milch. Wir denken an die alten Brunnen in Zürich – da fließt es noch frei, das unverkäufliche Gut.

Ich möchte eine internationale Regel einführen: Jeder Mensch, der Wasser zu einem käuflichen Objekt degradieren will, muss vier Tage ohne Wasser in der Wildnis bei starker Sonne verbringen. Mögen meine Worte Macht haben.

Eine Antwort

  1. geri
    (D)Eine Regel?

    „Ein Gedanke. Ich habe mir selbst nicht versprochen, in diesem von Gebetsschnüren umfriedeten Raum zu bleiben. Das ist nicht meine Regel.“
    Warum gehst du dann auf Visionssuche? Das ist der doch zentrale Kern dieser uralten Zeremonie, und das weiß man doch vorher!??

    Antworten

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