Körperzentrierte Herzensarbeit: Erst, wenn wir unser Herz für uns selbst aufgemacht haben, können wir es auch anderen öffnen.

Ganz gleich, wie weit wir auf unserem spirituellen Weg vorangekommen sind, wie viel Selbsterfahrung oder Therapie schon hinter uns liegen und wie gut wir gelernt haben, unser Denken und Fühlen umzuprogrammieren: Das Leben beschert uns immer neue Probleme. Wieder stehen wir vor Situationen, die uns herausfordern, unangenehm sind, bedrohlich erscheinen, Angst machen – die wir nicht akzeptieren können. – Probleme die nach Änderung, Lösung oder Heilung schreien. Oftmals begegnet uns die gleiche Art von Problem, die wir schon vor fünf oder zehn Jahren hatten und längst gemeistert zu haben glaubten, erneut. Das Gefühl, überhaupt nicht vorangekommen zu sein, stellt sich ein.
Es gibt viele Wege, mit körperlichen, emotionalen, finanziellen, beruflichen Problemen umzugehen. Oft läuft der Weg darauf hinaus, dass nach einer Lösung des Problems gesucht wird. Etwas soll sich an der Situation ändern, damit sie für uns kein Problem mehr ist und wir unbeschwert weiterleben können. Oder aber darauf, dass wir selbst lernen sollen, mit dem Problem anders umzugehen. Als „gute Esoteriker“ suchen wir vielleicht die Ursache des Problems in unserer Art zu denken und zu fühlen oder in unserer Lebensweise. Versuche werden gemacht uns zu ändern, um eine Änderung der Situation zu erwirken. Vorübergehend haben wir vielleicht Erfolg damit; sehr wahrscheinlich aber wird dieselbe Problematik sich an anderer Stelle oder zu anderer Zeit wieder zeigen und wir werden uns fragen, was wir übersehen haben.

Wir haben etwas Entscheidendes übersehen, nämlich die Situation selbst, so wie sie ist, mit allem, was sie ausmacht, innerlich und äußerlich. Immer wenn wir nach einer Lösung, einem Ausweg oder einer Heilung suchen, verweigern wir uns dem, was ist.
Können wir stattdessen die Situation wahrnehmen ohne irgendetwas auszublenden oder verändern zu wollen – äußerlich wie innerlich -, ohne unsere übliche Aufspaltung der Realität in „die Situation“ und „ich“ und dann das, was wir wahrnehmen, akzeptieren?
Ich muss zugeben – und vielen von Ihnen wird es ebenso ergehen -, dass das schwierig ist.
Schon Laotse hat gesagt: „Annehmen ist das, was die Wandlung bewirkt“ Vielleicht versucht man etwas anzunehmen, damit es sich wandeln soll, aber damit haben wir uns bereits ausgetrickst. Wie kann man wirklich etwas annehmen, das man ablehnt? Etwas, was wir aus tiefstem Herzen verabscheuen, empörend empfinden, existenzbedrohend, unmoralisch oder was einem ganz einfach schreckliche Angst macht? Es nützt nichts, zu einer Situation oder einem Gefühl einfach zu sagen: Okay, ich nehme dich an, weil ich weiß, dass das der einzig richtige Weg ist. Annehmen ist etwas, was mit dem ganzen Wesen geschieht, nicht nur mit dem Kopf.
Annehmen setzt Wahrnehmen voraus. Bevor wir irgendetwas annehmen können, müssen wir erst einmal mit unserem ganzen Wesen genau hinschauen, nicht nur mit den Augen oder dem Verstand. Die Situation sollte, so wie sie ist, vollständig wahrgenommen werden, und zwar als gegenwärtige Realität. Diese Wahrnehmung wird im Wesentlichen aus einer bestimmten Körperempfindung und einer bestimmten Emotion bestehen. Wir sollten uns hindurchspüren und -fühlen durch diese Gefühle, bis wir auf Grund gestoßen sind, und diesem Grund dann unser Herz öffnen, so weit wir können. Das ist es, was „annehmen“ bedeutet – jenes Annehmen, das Wandlung bewirkt.

Im Zuge der Arbeit mit mir und mit anderen hat sich eine Technik herauskristallisiert, diesen an sich natürlichen Vorgang des vollständigen Wahr- und Annehmens, den wir von klein auf verlernt haben, in einzelnen Stufen wieder zu erlernen. Es handelt sich dabei nicht um einen mentalen Akt, nicht um eine Willensanstrengung, sondern um etwas viel Einfacheres und zugleich Tieferes. Die Technik setzt beim Körper an – bei der Wahrnehmung dessen, was im Körper geschieht – und führt über das Kennenlernen der Emotion ins Herz. Ich habe sie, etwas umständlich, aber treffend „körperzentrierte Herzensarbeit“ genannt.
Körperzentrierte Herzensarbeit ermöglicht es, die jeweils akuten Lebensprobleme zu nutzen, um sich selbst tiefer zu begegnen. Um die Bereiche in uns, die unbewusst verdrängt und verstoßen wurden, aus ihrer Verbannung zu erlösen und letztlich durch das Problem hindurch zu dem durchzudringen, was jedem Problem, jeder Emotion, jeder Situation, so schlimm sie auch sei, zugrunde liegt: zur Liebe.
Vor allem aber ist diese Technik ein sehr einfacher und gerader Weg, sich selber kennen und lieben zu lernen. Mit der Selbstliebe ist es so ähnlich wie mit dem Annehmen: Fast jeder weiß, dass es wichtig ist, aber wie bringt man es fertig? Wie liebt man sich selbst? Wer hat das schon gelernt? Im allgemeinen haben wir das Gegenteil gelernt; man soll seinen Nächsten lieben, aber auf keinen Fall sich selbst; die anderen sind wichtiger. Nehmen wir uns selbst trotzdem wichtig, ist das überheblich. Sorgen wir gut für uns, ist das egoistisch, und so fort. Und selbst wenn wir nicht von solchen Glaubenssätzen beherrscht sind, fehlt es uns in der Regel schon deshalb an Selbstliebe, weil wir Liebe in unserem Leben nur in sehr eingeschränkter Form erlebt haben. Viele Menschen in unserer Gesellschaft leiden an einem Mangel an Liebe. Sie sind vielleicht als Kind nie mit wirklich umfassender und annehmender Liebe in Berührung gekommen und wissen deshalb nicht, wie sich das anfühlt. Wie kann man sich selbst Liebe geben, wenn man gar nicht weiß, wie Liebe sich anfühlt? Wie sich Zärtlichkeit oder Anhänglichkeit anfühlen, weiß man sicher, oder wie es ist, wenn jemand sich um einen sorgt. Wer hat als Kind von seinen Eltern schon Liebe bekommen, die alles achtet, alles versteht, alles fühlt, alles annimmt, für alles Raum hat so, wie es ist? Also umfassende und bedingungslose Liebe?
In diese Liebe können wir – unser gesamtes Kollektiv und jeder einzelne von uns – nur hineinwachsen; für die meisten ist sie Neuland. Wir müssen uns zu ihr hintasten, ohne geeignete Vorbilder in unserer Innenwelt zu besitzen.

Körperzentrierte Herzensarbeit ist ein Weg dazu. Sie kann Liebe nicht herbeizwingen, aber sie lehrt uns, sich dem zu öffnen, was da ist, und die Liebe einzuladen. Die Liebe selbst ist ein Wunder, wir können sie nicht produzieren, aber wir können uns ihr öffnen, indem wir unser Bewusstsein und unsere Herzen allem, was wir fühlen, so weit wie möglich öffnen. In der Praxis hat sich herausgestellt, dass dies tatsächlich auf sehr einfache Weise sozusagen technisch zu erlernen ist. Wir brauchen nur ein paar einfache Anhaltspunkte, um es wieder zu können. Diese Anhaltspunkte sind die Grund- schritte der körperzentrierten Herzensarbeit:
An die Situation denken, den Körperzustand mit gebündelter und atemverbundener Aufmerksamkeit wahrnehmen, die Emotion kennen lernen, einen Weg finden, dieser Emotion sein Herz zu öffnen.
Das sind die drei Schritte – Körper, Emotion, Herz – des vollständigen Wahr- und Annehmens. Andere Ebenen der Realität, etwa die energetische, sind     implizit enthalten. Die Übung führt vom Körper ins Herz, endet aber nicht zwangsläufig dort. Denn ist das Herz einmal offen, so ist es auch nach oben hin offen, zu den höheren Wesensebenen. Somit ist diese Arbeit ein wunderbares Sprungbrett für die Meditation im Sinne einer Öffnung zu höheren Ebenen des Seins und des Bewusstseins.
Das Herz ist der Schlüssel zum Himmel. In meiner praktischen Arbeit habe ich erfahren, dass das tatsächlich so ist. Haben wir unser Herz geöffnet, um eine zuvor verdrängte und verstoßene Emotion nach Hause zu holen, zu uns, so erleben wir oft spontan Erlebnisse von großer spiritueller Tiefe oder religiöser Tragweite.
Desgleichen ist dieser Moment, da das Herz sich sozusagen nach unten hin, zum „Unterbewusstsein“ öffnet, auch ein Augenblick, in dem das Herz nach „außen“ hin offen ist, zu unseren Mitmenschen. Tatsächlich können wir nicht mit einem anderen Menschen mitfühlen, wenn wir nicht mit uns selbst mitfühlen können. Vielleicht meinen wir nachempfinden zu können, was der andere durchmacht, oft überschwemmt uns die Emotion, die sich Mitleid nennt und dann beide, den Bemitleideten und sein Opfer, hinunterzieht. Jenes unmittelbare Mitfühlen, das darin besteht sich dem, was der andere fühlt, zu öffnen und es in sich selbst wahrzunehmen, – dieses Mitfühlen ist unmöglich, wenn wir uns selbst gegenüber verschlossen sind. Dann wird das, was der andere durchmacht, uns ängstigen. Wenn wir unsere eigenen schlimmen Gefühle aus unserem Herzen und unserem Bewusstsein verstoßen haben, weil wir meinen, es nicht ertragen zu können, wie sollen wir da diese schlimmen Gefühle eines anderen ertragen?
So führt Selbstliebe tatsächlich zur Nächstenliebe.

In meiner körperzentrierten Herzensarbeit und in der Arbeit mit Gruppen, Seminarteilnehmern und Übungspartnern habe ich immer wieder gesehen, dass wir erst, wenn wir unser Herz für uns selbst aufgemacht haben, es auch anderen öffnen können. Konflikte, Streitigkeiten, Probleme mit Liebespartnern, Kollegen und Mitmenschen bekommen ein völlig anderes Gesicht, wenn wir ihnen mit der Methode der körperzentrierten Herzensarbeit auf den Grund gehen. Man vergegenwärtigt sich den betreffenden Menschen und lenkt seine Aufmerksamkeit auf das, was in seinem eigenen Körper geschieht, lernt die darin verborgene Emotion kennen und öffnet ihr sein Herz. Was am Ende herauskommt, ist immer eine tiefe Erkenntnis dessen, worum es eigentlich geht in dem Konflikt. Er beschert einem eine tiefe Begegnung mit sich selbst, eine neue Selbsterkenntnis und dass man sich plötzlich eine neue Art von Liebe und Verständnis entgegenbringen kann. Man ist in der Lage zu fühlen, was den Konfliktpartner bewegt und warum er sich so verhält. Es gibt keinen Konflikt mehr. Es gibt nur noch Liebe. Vielleicht bleibt etwas übrig, was zu tun oder zu sagen ist, aber die Idee eines Konflikts mit einer anderen Person ist einem Erleben von Ganzheit und Einssein gewichen.

5 Responses

  1. Die Wanderin
    Behütet

    Hello sunshine,
    deine Frage trifft meiner Meinung nach den Kern. Doch, meiner Meinung nach ist ist wichtig zu erkennen: Gibt es in einer Situation noch Gestaltungsräume? Wenn ja, sollte man sich fragen, welche Qualität von einem gefragt ist, um die Situation zu klären, aufzulösen. Erst wenn es keine Möglichkeit der Veränderung mehr gibt, ist die völlige Hingabe, das vollständige Annehmen gefragt. Oft wünschte ich mir, ich könnte eine Situation liebevoll annehmen. Doch ich mußte mir, ganz ehrlich, eingestehen, daß ich es einfach nicht kann. Dann habe ich mich selbst liebevoll angenommen, als jemand, die etwas versucht, aber es noch nicht schafft. Einfach großzügig mit sich selbst umgehen. Genau wie wir unsere Kinder liebevoll in den Arm nehmen, wenn sie ihre Ziele trotz Mühe nicht erreichen, können wir das auch mit uns selber tun. Und sehe vor mir, wer ich gerne in Zukunft sein möchte. Einen Berg besteigt man auch nicht in einem Schritt, man geht sehr viele, macht zwischendurch Pausen, nährt sich, sorgt für sich selbst und geht nach einer Weile weiter. Mittendrin sieht man den Weg, den man schon gegangen ist – und das, was noch vor einem liegt.
    Dankbar bin ich für Ekkehard Tolle als inneren Begleiter auf diesem Weg, den auch ich gehe …

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  2. sunshine
    Annahme

    Sehr schön geschrieben. Es bleibt für mich Die Frage; wie kann ich etwas annehmen…was ich eigentlich ablehne ? Geht es ausschließlich darum das eigene Gefühl zu abgelehnten Situation anzunehmen? Dadurch bleibt die Situation aber bestehen und das möchte man ja oft nicht !? Verstehe das leider nicht so ganz. Wird durch das Annehmen der eigenen Gefühle die ungeliebte Situation „entschärft“ ?

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  3. Mona

    Wunderbar! Dieser Artikel bringt es auf den Punkt!
    Selbstliebe – Annehmen von Allem – Einssein mit Allem

    Danke für die Erinnerung!

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