Total abgebrannt reist Mathias Gold (Kevin Kline) nach Paris. Sein Vater – den er seit Jahren nicht mehr gesehen hat – ist verstorben und hat ihm eine knapp 700 Quadratmeter große Wohnung samt Garten mitten in Paris hinterlassen. Eine Goldgrube – doch als er dann vor Ort ist, begegnet er der dort wohnenden Mathilde Girard (Dame Maggie Smith). Sie ist 92 Jahre alt und hat mit Mathias Vater vor über 40 Jahren eine Immobilienleibrente vereinbart. Das heißt: lebenslanges Wohnrecht gepaart mit einer Zahlung von 2400 Euro monatlich – an sie.

Mathias ist geschockt, Mathilde lässt ihn – gegen eine Miete – vorerst bei sich wohnen, ihre ebenfalls hier wohnende Tochter Chloé (Kristin Scott Thomas) ist allerdings alles andere als begeistert von dem Gast. Und statt in Geld schwimmend findet, Mathias sich bald darauf schlaflos in einem kalten Gästezimmer wieder, das mit zahlreichen Großwildgewehren verziert ist und von dessen Wand ihn ein Wildscheinweinkopf teilnahmslos anglotzt.

Was der Auftakt zu einem klassischen, komödienhaften Feelgood-Movie, überzogen mit dem abgewetzten Charme der romantisch-altertümlichen Ecken von Paris, sein könnte, entpuppt sich beim Fortschreiten der Minuten als Geschichte mit erstaunlichem Tiefgang. Mathias wird in Mathildes Wohnung mit Geheimnissen und dem zweiten Leben seines Vaters konfrontiert, die die Puzzlestücke seiner Vergangenheit zusammensetzen.

Der suizidgefährdete trockene Alkoholiker greift wieder zur Flasche und zerbricht beinahe an den Erkenntnissen, Erinnerungen an seine Kindheit, seiner Traurigkeit und Verzweiflung. Chloé, die die elterlichen Beziehungsrollen unbewusst aufträgt und selbst eine stete Traurigkeit mit sich schleppt, kommt dem unsympathischen Mathias hier langsam emotional näher.

Und der hat auch einige Erkenntnisse auf Lager:  „Jedes Mal, wenn jemand seinem Herzen folgt, wird einem anderen das Herz gebrochen. Es gibt immer Trümmer. (…) Mein Vater nahm jedes Gramm Liebe, das er besaß, und trug es nach Paris.“

Fazit: Wer auch immer diesen –  sehr guten – Film mit dem Label „Komödie“ gebrandmarkt hat, scheint einen seltsamen Sinn für Humor gehabt zu haben. Der Film ist wunderschön-traurig, und ja, er besitzt auch ein paar kurze, witzige Momente, gehört aber definitiv in das Genre Beziehungsdrama/sehenswerte Beziehungsstudie über Eltern, erwachsene Kinder,  über das Loslassen und die Erlösung. Den Film einmalig machen natürlich vor allem die wirklich hervorragenden und vielschichtigen schauspielerischen Leistungen der drei Hauptakteure.


 

Israel Horovitz
My Old Lady
Ascot Elite, 2015
DVD & Blu-ray, 108 Minuten, 14,99 Euro

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