Beziehungsgeflechte

Der Film „The Dressmaker“, mit Kate Winslet in der Hauptrolle, basiert auf dem erst im Jahr 2000 herausgekommenen Erstlingsroman der Australierin Rosalie Ham. Die Heldin Myrtle „Tilly“ Dunnage kehrt Anfang der 1950er Jahre in das schmuddelige kleine Dorf – Stadt kann man nicht dazu sagen – ihrer Kindheit im australischen Outback zurück, um ihre psychisch kranke und inzwischen in absoluter Verwahrlosung lebende Mutter zu pflegen.

Der eigentliche Grund für ihre Rückkehr ist aber der Tod eines Jungen vor 25 Jahren, den sie als kleines Mädchen verursacht haben soll. Sie selbst kann sich an den Tag nicht erinnern und wurde danach aus der Gemeinschaft ausgestoßen. Seitdem fühlt sie sich verflucht und will dem nun endlich auf den Grund gehen. Ihre Heimkehr ist allerdings nicht duckmäuersisch und leise, sondern sie steht eines Abends zu rachebesingender Westernmusik als Femme fatale am Bahnhof: blond, aufrecht, mit blütenweißen Handschuhen, blutroten Lippen, bewaffnet mit ihrer Nähmaschine, und kündet mit ihrem ersten Satz „I’m back, you bastards!“ von der liebevollen Atmosphäre des Films.

Ein starker Auftakt, der sich in den ersten Szenen des Films, in denen es Rückblenden auf entlarvende Szenen mit den Erwachsenen aus ihrer Kindheit gibt, fortsetzt. Da ist der alte Apotheker, der über Sünder brabbelt und sie beschimpft. Evan Pettyman, der seine Frau unter Drogen setzt und dann missbraucht. Die unerbittliche Lehrerin Beulah Harridiene und natürlich Tillys Mutter „Mad“ Molly, die sich zuerst das Erkennen ihrer Tochter verbietet, da sie ihr Kind nicht wieder an diesem furchtbaren Ort haben will. Tilly ist eine starke, aber dennoch auch gebrochene Figur, die mit ihren exquisiten, in Frankreich erworbenen Nähkünsten die bigotte Dorfbevölkerung bezaubert, da sie die Menschen weniger wie sie selbst und mehr so aussehen lässt, wie sie gerne wären. Zunächst scheint ihr Plan auch aufzugehen, doch dann rennt sie doch wieder gegen Mauern und die Dorf – gemeinschaft der selbsternannten Richter zeigt wieder ihr wahres Gesicht und schließt sie erneut aus.

Fazit: Fesselnde Abrechnung. Ein ganzes Dorf versunken in einem Sumpf aus Schweigen, Vorurteilen, Anklage, Erpressungen, Gier, Gewalt und Hass. Und mittendrin Tilly, die versucht sich zu erinnern, ob sie als Kind nun zur Täterin wurde oder nicht. Ein Schaustück über Untiefen und Abgründe, die in den Menschen lauern, aber auch über das Gute, Großzügige und Verzeihende. Die Maske der Gutbürgerlichkeit wird einmal mehr abgerissen und es wird gezeigt, was dahinter an Dunkelheit lauern kann – während an unerwarteten Stellen Liebe und Verständnis blühen. Es ist ein Film über Verschwiegenes, die Luft abschnürende Lebensgeheimnisse, Schuld und Gift im zwischenmenschlichen Bereich, aber auch darüber, endlich Mut zu finden, zu sich selbst und zu anderen zu stehen. Kate Winslet füllt ihre Hauptrolle hervorragend aus, ebenso Judy Davis als ihre verlebte Mutter. Der geheime Star des Films ist aber Hugo Weaving als crossdressender Polizist Sergeant Horatio Farrat. Geboten wird amüsante Leichtigkeit und Lachen zu Beginn, was gegen Ende der Tragik weicht, bevor der fast zwei Stunden lange Film zu einem… flammenden Finale findet. Trotz allem ist „The Dressmaker“ aber keine allzu schwere Kost, die einen abgrundtief deprimiert zurückließe.

 

Jocelyn Moorhouse
The Dressmaker
Ascot Elite Home Entertainment, 2016
DVD & Blu-ray, 118 Minuten, 14,99 Euro

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