Free running sleep – natürliches Schlafen macht schlau

Von Uschi Rapp

Was macht unser Körper, wenn er „intuitiv“ schlafen darf? Wenn es keinen Wecker gibt? Wenn er ungestört von Licht und Lärm und äußeren Anforderungen so oft, so lange und so tief schlafen darf, wie er es braucht? Der Forscher und Biologe Dr. Piotr Woźniak hat diese Frage untersucht und das Konzept des „Free running sleep“ entwickelt. Woźniak ist überzeugt, dass jeder künstliche Eingriff in unser individuelles Schlafsystem, sei es durch Wecker oder durch Schlafmittel, unsere Gesundheit und unsere Leistungsfähigkeit schädigt und das sowohl kurz- wie auch langfristig. Freies Schlafen dagegen kann uns ein gesünderes und längeres Leben ermöglichen, in dem wir unser kreatives Potenzial vollständig entfalten.

Volkskrankheit Schlafstörungen – wenn das Schlafen nach der Uhr nicht klappt

Vor einigen Jahren suchte mich eine Klientin wegen unterschiedlichen nervösen Symptomen auf. Ein Teil meiner Behandlung bestand aus einer einfachen Mentalübung, die ich ihr während einer Sitzung beibrachte und die sie anschließend jeden Tag selbstständig durchführen sollte. Bei unserem nächsten Termin erzählte sie von ihren Schwierigkeiten mit den Übungen und erklärte dies mit schon Jahre andauernden Schlafstörungen. Durch das permanente Schlafdefizit befand sie sich in einem Zustand ständiger Müdigkeit und Erschöpfung. Ihr Leistungsniveau beschrieb sie mit 30%. Alles in allem reichte ihre Energie nicht mehr aus, um die von mir empfohlenen Übungen korrekt und vollständig durchzuführen.

Kurz zuvor schickte ein guter Freund mir einen Artikel, den der polnische Molekularbiologe, Forscher und Informatiker Dr. Piotr Woźniak verfasst hatte. Er handelte vom „free running sleep“, einem neuen Schlafkonzept, das empfiehlt, den Wecker aus dem Schlafzimmer zu verbannen und dem Körper das Pensum an Schlaf zu geben, das er braucht, unabhängig von äußeren Vorgaben wie Arbeits- oder Schulzeiten.

Als Anhängerin eines intuitiven Lebensstils sprachen mich zwei Aussagen in dem Artikel besonders an: 1. – Kinder, die ständig den Schulbeginn verschlafen, sollen man in Ruhe lassen, und 2. – nur der Körper soll entscheiden, wie viel und wann er schlafen will. Der Ansatz schien gleichermaßen interessant wie schwer umsetzbar, denn wie sollen wir „frei“ schlafen, wenn uns Schule, Arbeit und andere gesellschaftliche Verpflichtungen zwingen, zu bestimmten Zeiten das Bett zu verlassen, auch wenn diese Zeiten nicht unserem persönlichen Biorhythmus entsprechen?

Tatsache ist: Wir greifen andauernd künstlich in unseren Schlafrhythmus ein und nach Wozniak zahlen wir für dieses Eingreifen einen hohen Preis: Wir werden krank, wir sind unkonzentriert und arbeiten schlecht und wir behindern unser physiologisches und geistiges Wachstum. Bei vielen findet die erzwungene Regelung ihres Schlafs einen pathologischen Ausdruck: Die Schlafstörung.

Schlafstörungen unterschiedlichen Ausmaßes sind in unserer modernen Zeit weitverbreitet. Meine Klientin gehörte damals zu den geschätzt 20 Millionen Deutschen, die daran chronisch leiden. Angeblich sind besonders Lehrer, Polizisten und Kraftfahrer höherem Arbeitsstress ausgesetzt und daher besonders häufig betroffen. Oft greifen die Betroffenen zu Schlafmitteln, nehmen die Gefahr der Abhängigkeit in Kauf und riskieren durch ein weiteres künstliches Eingreifen sogar die Verschlimmerung des Problems.

Auf der Suche nach dem richtigen Schlafkonzept: Polyphasischer Schlaf und Power-Napping

Googelt man das Internet nach zum Thema „Schlaf“, findet man neben populärwissenschaftlichen Meldungen und einigen Studien jede Menge Selbsterfahrungsberichte von Menschen, die mit alternativen Schlafkonzepten experimentieren. Da das gängige Modell der monophasische Schlaf ist, der aus einer einzigen, ca. 8-stündigen Schlafphase besteht, beziehen sich die Selbstversuche meist auf polyphasische Konzepte. Dabei wird der Schlaf gezwungenermaßen in mehrere kleinere Abschnitte über den ganzen Tag verteilt – je nach Konzept mit oder ohne längere Schlafphase in der Nacht. Es geht um Effizienz. Ziel ist die systematische Verringerung der Gesamtschlafzeit. Aus einer geringeren und angeblich optimierten Schlafenszeit resultiert – so ist der Wunsch – mehr Arbeitszeit. Das tägliche Leistungspensum soll gesteigert werden oder noch mehr Lernstoff in noch weniger Zeit bewältigt werden. Nicht von ungefähr sind es oft Studenten, die sich an diesen Modellen versuchen.

Zu den polyphasischen Schlafkonzepten gehören mehrere, ca. 20-minütige Nickerchen, die so genannten „Power-Naps“. Berühmter Anhänger dieser Power-Naps war Leonardo Da Vinci, der sein Schlafbedürfnis angeblich auf weniger als zwei Stunden am Tag reduziert haben soll, indem er sich alle vier Stunden für einen Kurzschlaf aufs Ohr legte. Leonardo da Vinci war in vielerlei Hinsicht eine Asunahmeperson, insofern war er eventuell zu etwas in der Lage, woran die Blogger der Neuzeit scheitern. Viele der im Internet dokumentierten Selbstversuche enden damit, dass das Experiment nach realtiv kurzer Zeit abgebrochen wird. Der körperliche Tribut, den der polyphasische Kurzschlaf fordert, erscheint den meisten zu hoch: „Sport, Ausgehen, Freunde treffen, all das konnte ich nicht machen, weil ich dafür zu müde war. (…) Ich schaute mir beim eigenen Zerfall zu.“ So das Resümee des fudder-Mitarbeiters Marc Röhlig nach 11 Tagen Selbstversuch.

Unabhängig vom polyphasischen Schlaf wurde „Power-Napping“ nach der Millenniumswende zum Schlagwort. Medizinische Studien belegten, dass ein entspanntes Nickerchen am Mittag zu erhöhter Konzentration und Leistungsfähigkeit führen kann. Unternehmen wie BASF,  Lufthansa und Google reagierten und richteten entsprechende Ruheräume für ihre Mitarbeiter ein. Die so geförderten Nickerchen am Arbeitsplatz gelten nach wie vor als intelligente Ergänzung zum nächtlichen Schlaf im heimischen Bett.

Einmal lange durchschlafen – ein Konzept der Neuzeit?

Eltern sind mit dem polyphasischen Schlaf bestens vertraut. Es ist der natürliche Schlafrhythmus ihrer Neugeborenen und wird somit oft zwangsweise auch zum Schlafrhythmus der Eltern. Dass das Schlafen in mehreren Phasen völlig unterschiedliche Effekte auf die Beteiligten hat, ist schon nach kurzer Zeit spürbar: Während das Kind gedeiht, warten die zunehmend erschöpften Eltern sehnsüchtig darauf, dass der Sprössling endlich „durchschläft“.

Das heute allgemein übliche Konzept des nächtlichen Durchschlafens entstand wahrscheinlich aber erst mit Zunahme der künstlichen Beleuchtung. Davor gehörte über mehrere Jahrhunderte eine andere Schlafpraxis zum allgemeinen Usus: der bi-phasische Schlaf. Roger Ekirch, Professor für Geschichte an der Technischen Universität von Virginia entdecke Berichte darüber in der Literatur, in Gerichtsdokumenten und in persönlichen Papieren, in denen mehrfach die Rede vom „ersten“ und vom „zweiten Schlaf“ ist. Diese Dokumente beschreiben die jahrhundertelang gängige Sitte, am späten Abend ins Bett zu gehen, nach 4-5 Stunden zu erwachen, aufzustehen, zu lesen, sich zu unterhalten, Gedanken aufzuschreiben oder um (außerhalb des Schlafzimmers, indem oft auch die Kinder schliefen) ungestört erotischen Aktivitäten nachzugehen. Anschließend begab man sich wieder zu Bett und schlief weiter bis zum Morgengrauen.

Schlaf-Muster so vielfältig wie Schneeflocken

Unser Schlafrhythmus ändert sich also nicht nur mit dem Alter, sondern hängt auch von kulturellen und nationalen Gepflogenheiten und vom technischen Fortschritt ab. Aber auch ganz individuelle seelische und körperliche Empfindlichkeiten beeinflussen unser Schlafverhalten. „Moderne menschliche Schlaf-Muster sind so vielfältig wie Schneeflocken“, schreibt Piotr Woźniak und empfiehlt, das Schlafen nicht als starres, von außen vorgegebenes Konzept zu betrachten, sondern auf die Intelligenz des eigenen Körpers zu vertrauen. Wird die innere Uhr nämlich zu einem von außen vorgegebenen Schlafmuster gezwungen, muss das Schlafdefizit durch verlängerte Schlafphasen ausgeglichen werden. Das Trainieren einer “inneren Uhr” klappt also nur dann, wenn sie zufälligerweise dem eigenen biologischen Schlafrhythmus ähnelt.

Nach Woźniak Untersuchungen kann sich der Mensch nur auf ein mono- oder biphasisches Schlafkonzept einstellen. Zu welchem Typ man gehört, kann jeder in einem längeren Freischlaf-Experiment herausfinden. 7-8 Stunden Schlaf pro Nacht sind für die meisten Erwachsenen anscheinend optimal, wie unzählige Versuche mit dem free running sleep zeigten, die Woźniak durchführte. Manche benötigen einen zusätzlichen Power-Nap, um nicht in ein Defizit zu geraten, andere nicht. Auch Piotr Woźniak mag Effizienz. Sein Ansatz des freien Schlafens will aber die vorhandene Arbeitszeit besser nutzen und nicht mehr Arbeitszeit durch weniger Schlaf gewinnen. Unser Körper kann sich im Schlaf am besten regenerieren und auch das Gelernte optimal integrieren, wenn er dafür auf natürliche Weise bereit ist. Geben wir unserem Körper diese Möglichkeit, steht uns sein gesamtes Konzentrations- und Kreativitätspotenzial zur Verfügung.

Free running Sleep, frei schlafen gegen Schlaflosigkeit – das Experiment

Nachdem ich den Artikel gelesen hatte, machte ich meiner schlafgestörten Klientin den Vorschlag, das Modell des free running sleep auszuprobieren und sie stimmte zu. Die Umstände waren günstig, es war die Zeit kurz vor den Osterferien, ihr Kind würde mit dem Vater verreisen und sie hatte zwei Wochen für sich. Wir waren gespannt, ob das Experiment uns helfen würde, die Ursache ihrer Schlafstörung zu verstehen und ob ihr das Schlafen damit besser gelingen würde.

Drei Wochen später kam sie in meine Praxis und berichtete von ihren Erfahrungen. Sie hatte alle Anweisungen befolgt. Sie hatte den Wecker entfernt, sich weiche Ohrstöpsel besorgt, ihr Schlafzimmer verdunkelt und ging nur zu Bett, wenn sie wirklich müde war. Wenn sie nach 15 Minuten nicht eingeschlafen war, verließ sie ihr Bett und ging ins Wohnzimmer, um etwas zu lesen oder erledigte leichte Hausarbeit. Wenn sie nachts einmal aufwachte und nicht mehr einschlafen konnte, stand sie auf und tat etwas anderes.

Sie schlief mit der Zeit immer schneller ein. Die nervösen Störungen gingen während der Gesamtdauer des Experiments immer mehr zurück und waren zum Zeitpunkt unseres Termins sogar ganz verschwunden. Auch die von Woźniak beschriebene Phasenverschiebung trat bei ihr auf: Sie ging also jede Nacht etwas später ins Bett und schlief jeden Morgen entsprechend länger. Da sie aber keinerlei Verpflichtungen hatte, fand sie es nicht schlimm, langsam in einen Rhythmus zu wechseln, der gegenläufig zu den Tages- und Nachtzeiten war. Die Frau, die mir gegenüber saß, sah jedenfalls frisch und erholt aus. Rein äußerlich konnte ich keine Anzeichen von Erschöpfung feststellen.

Das Experiment war offensichtlich ein Erfolg, aber es war unklar, wie sie das Konzept in den Alltag integrieren sollte. Die Ferien waren vorbei, Mutterpflichten und die eigene Arbeit zwangen sie wieder in einen von außen vorgegeben Rhythmus. Das Ende ihrer Nachtruhe wurde wieder vom morgendlichen Klingeln ihres Weckers bestimmt und nicht mehr von den Impulsen ihres Körpers.

Meine Klientin blieb dem Ansatz des freien Schlafens trotzdem treu. Sie entwickelte eine persönliche Abwandlung des Modells: Sie befolgte weiterhin die Regel, nur ins Bett zu gehen, wenn sie müde war und sie verließ es wieder, wenn sie nachts einmal wieder aufwachte und mehr als fünf Minuten wach blieb. Ihre Schlafphase war natürlich jetzt kürzer als während des Experiments, aber ab und zu gelang es ihr, das Defizit mit einem Mittagsschläfchen aufzuholen. Ansonsten freute sie sich auf längere Wochenenden und Ferienzeiten, in denen sie zum freien Schlaf zurückkehren konnte, wenn auch nur für wenige Tage. Alles in allem war sie gelassener und quälte sich nicht mehr mit dem Schlafen oder dem Nicht-Schlafen herum.

Als ich sie abschließend fragte, was ihr am meisten geholfen hätte, antwortete sie, es sei die Erkenntnis gewesen, dass es in Ordnung ist, müde zu sein, wenn man wach sein sollte und wach zu sein, wenn man schlafen sollte. So gesehen war der innere Widerstand gegen ihr scheinbar nonkonformes Schlafbedürfnis die eigentliche Schlafstörung. Eine Verbesserung war möglich, als sie akzeptierten konnte, wie und wann ihr Körper schlafen wollte. Die Entspannung, die mit diesem Annehmen einherging, war ihr bisher erfolgreichstes Schlafmittel.

 


 

Weiterführende Links

Good sleep, good learning, good life
ca. 300 seitiger Artikel (Follow up aus 2010) von von Dr. Piotr Woźniak
How Our Ancestors Used to Sleep Twice a Night
Experiment Polyphasischer Schlaf: Marc Röhling bleibt zwei Wochen wach

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