Das anarchistische Konzept der Solidarwirtschaft

Alle Jahre wieder gibt es Studien amerikanischer und europäischer Universitäten, die ausrechnen, wieviele Arbeitsstunden der Mensch bei einer konsequenten Bedürfnisproduktion noch leisten müsste, um den Bedarf aller Menschen der Erde zu befriedigen. Zur Zeit liegen diese Zahlen zwischen drei und fünf Stunden täglich, manche Anarchisten kommen sogar auf die phantastische Vision einer Fünf-Stunden-Woche … Wie dem auch sei, die Welternährungsexperten der Vereinten Nationen sind sich darin einig, dass allein der weltweite Wegfall der Rüstung genügend Kräfte und Mittel freisetzen würde, um mit dem Hunger in der Welt sofort Schluss zu machen.

Warum aber tut man es dann nicht? Die Antwort ist einfach: Wegen des Geldes. Es lohnt sich nicht, den Hunger zu besiegen, und deshalb ist es unvernünftig. Die hungernden Menschen stellen keinen „Markt“ dar: Sie sind zu arm, um zu bezahlen. Rüstung hingegen ist ein vernünftiges Geschäft, und der Supercoup, von dem jeder Rüstungsmanager träumt, ist der Krieg, weil sich dabei nämlich die teuren Waffensysteme selbst vernichten, so dass sie wieder neu gekauft werden müssen.

Geld ist die „flüssige“ Form des Kapitals und mithin das charakteristische Merkmal kapitalistischer Ökonomie. Es ist die genialste Erfindung zur Aufrechterhaltung von Reichtum und Armut, von Hoffnung und Ungerechtigkeit. In einer anarchistischen Gesellschaft soll es – zumindest in seiner jetzigen Form – verschwinden.

Warum eigentlich? Viele Menschen meinen, Geld sei eine sehr praktische Einrichtung, verhindert es doch erfolgreich, dass wir mit einer Gans unterm Arm herumlaufen müssen, um sie etwa gegen fünfeinhalb Brote und ein paar neue Sandalen einzutauschen. Geld sei ein Tauschäquivalent, das den Gegenwert von Arbeit, Leistung oder Waren repräsentiere. „Geld ist geronnene Arbeit“ behaupten einige Ökonomen. Schön, wenn es so wäre. Dann wäre in einer Gesellschaft, die nach wie vor auf dem Prinzip des Tausches basiert, ein solches Geld durchaus vernünftig. Leider aber ist Geld eben mehr als nur ein Warenersatz. Es hat in den fünftausend Jahren, seit es von den Sumerern erfunden wurde, unerhörte Eigenschaften entwickelt, die absolut nichts mit Tausch zu tun haben. So kann sich Geld wundersamerweise ohne eigenes Zutun vermehren, und je mehr Geld jemand hat, desto leichter bekommt er noch mehr, ohne dafür arbeiten zu müssen. Geld kann man im Gegensatz zu Waren unbegrenzt aufbewahren und horten; man kann damit erpressen, spekulieren, es knapp halten oder massenhaft in Umlauf bringen und damit gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Reaktionen hervorrufen, die nicht das Geringste mit dem Austausch von Leistungen oder Waren zu tun haben. Mit ihm kann man Menschen und Meinungen kaufen, Krisen und Kriege provozieren. Es ist ein abstrakter Wert, der weit mehr kann, als alle Gänse, Brote und Sandalen der Welt zusammen. Mit einem Wort: Geld kann sich in einer kapitalistischen Wirtschaft verselbständigen. Genau das ist seine Funktion in der modernen Wirtschaft. – Kein Wunder, dass immer mehr Menschen das Geld abschaffen wollen.

 

Tauschen oder einfach ver-geben?

Nun erscheint uns, als Kindern dieser Gesellschaft und von ihr geprägt, die Idee eines Tausches sicherlich plausibler als die Idee einer Solidarwirtschaft. Ist das anarchistische Endziel, wo jeder gibt, was er kann, und nimmt, was er braucht, vielleicht nur Spinnerei?

Zunächst einmal muss gesagt werden, dass ja auch das Ideal der Solidarwirtschaft ein Tausch ist. Nur wird in einer geldfreien Wirtschaft nicht aufgerechnet, nicht unmittelbar und direkt getauscht und nicht systematisch kontrolliert. Stattdessen wird alles in einen großen Topf geworfen, aus dem jeder nimmt, solange da ist, und in den jeder aus wohlverstandenem Eigeninteresse hineingibt, damit er nicht leer wird. Hierzu ein Beispiel:

Ein Bäcker produziert Brötchen, und ein Elektrotechniker baut Lichtanlagen. Der Techniker wird sich jeden Morgen beim Bäcker so viele Brötchen holen, wie er braucht. Sobald er beginnt, einen ganzen Sack abzuschleppen, wird der Bäcker protestieren. Einen ganzen Sack abzuschleppen, wäre aber sinnlos, denn Brötchen schimmeln, und zum Tauschen gegen andere Dinge taugen sie nicht, weil jeder andere Mensch ebenfalls Brötchen nehmen kann und der Elektrotechniker jeden anderen Gegenstand, sofern vorhanden, ebenfalls gratis mitnehmen könnte. Mehr zu nehmen, als man braucht, würde absurd, und das Horten von Gegenständen eine sinnlose Plage. Auch der Warenbesitz als Ausdruck einer Klassenzugehörigkeit, Luxus als Symbol für Status und Macht, würde in einer klassenlosen Gesellschaft seinen Sinn verlieren und zunehmend lächerlich wirken.

Nun muss der Elektrotechniker aber keinesfalls jeden Morgen beim Brötchenholen eine Lichtanlage oder ein Stück davon oder einen Trafo dalassen. Es wird nicht direkt getauscht. Hingegen kann der Bäcker, wenn seine Installation nicht mehr taugt, sich eine neue einbauen lassen, ohne dafür etwa mit einem Lastwagen voll Brötchen zu „bezahlen“. Es kann auch sein, dass der Bäcker niemals eine Lichtanlage braucht, aber trotzdem stehen Bäcker und Elektrotechniker in einem Tauschverhältnis miteinander, und zwar in einem indirekten: Der Bäcker beliefert das Reisebüro, wo der Techniker seinen Urlaub bucht, das wiederum von der Druckerei beliefert wird, in die der Techniker die gesamte Elektrik installiert hat … und tausend Verflechtungen mehr. Das ist nicht anders als heute auch und wäre auch für die Wirtschaftsbeziehungen von Großfirmen und ganzen Branchen denkbar – nur mit dem Unterschied, dass in der dezentralen Bedürfniswirtschaft sich im Vergleich zur kapitalistischen Geldwirtschaft die Ungerechtigkeiten des Reichtums und die ökologisch-sozialen Schäden minimierten.

Es handelt sich also auch bei der Solidarwirtschaft um einen Tausch – Tausch auf Kredit im positiven Sinn des Worts, das vom lateinischen credere kommt, was „vertrauen“ oder „glauben“ heißt. Dieser „Kredit“ gilt zwischen allen Teilnehmern einer solchen Gemeinschaft gegenseitig. Jeder von ihnen hat ein Interesse daran, den Kredit nicht zu missbrauchen, damit seine Gemeinschaft und somit seine wirtschaftliche Existenz nicht gefährdet wird.

Die geldlose Solidar- und Bedürfniswirtschaft könnte die Menschen auch von einer Geißel der modernen Volkswirtschaft befreien: dem Arbeitsplatzargument. Der größte Unsinn und die schlimmste moralische Verwerflichkeit werden heute mit dem Vorhalt gerechtfertigt: „Aber das schafft doch Arbeitsplätze!“ In Debatten über Wirtschaft ist es das mit Abstand beliebteste Totschlagargument, mit dem sich alles rechtfertigen lässt. Konsequente Ökonomisten müssten mit ihm eigentlich die Schließung der Konzentrationslager 1945 bedauern – schließlich wurden dort Arbeitsplätze vernichtet …!

Das Arbeitsplatzargument verliert in einer Solidarwirtschaft aber jeden Sinn. Ein „Arbeitsplatz“ an sich ist ja ein inhaltsleerer Blödsinn. Er ist nur deshalb so wichtig, weil damit das Recht auf Verdienst = Leben gekoppelt ist. Eigentlich bedeutsam ist ja nicht der Arbeitsplatz, sondern die Arbeit, das Produkt. Diese können sinnvoll oder sinnlos sein. In der Solidarwirtschaft aber müsste nichts mehr um seiner selbst oder um des Profits wegen hergestellt werden. Es ist nicht einzusehen, warum beispielsweise Militärs, die eine gesellschaftlich sinnlose Tätigkeit verrichten, nicht sinnvolle Arbeiten übernehmen könnten. In einer Übergangsphase könnte man sie dafür ja durchaus genauso entlohnen wie zuvor, aber immerhin fielen die Kosten für die Waffensysteme sofort weg; das ist lediglich eine Frage der richtigen Umbaumodelle. Irgendeine Arbeit aber, die niemand braucht, nur deshalb zu verrichten, weil ich zum Leben einen Arbeitsplatz brauche – das ist schon eine ziemlich merkwürdige Idee. Und da es am Ende für derart viele Menschen gar nicht mehr genug Sinnvolles zu tun gäbe, dürfte der Mensch getrost etwas langsamer treten und weniger arbeiten – ohne deshalb wirtschaftliche Nachteile befürchten zu müssen.

 

Faule Menschen und eklige Arbeit

Bleiben wir noch einen Augenblick bei der Theorie einer Idealgesellschaft: Dort sollen nach dem anarchistischen Theoretiker Pjotr Kropotkin (1842-1921) auch diejenigen, die sich an diesem „indirekten Tausch“ nicht beteiligen, nicht dem Hungertod überlassen werden. Auch Menschen, die den Kredit missachten indem sie beispielsweise nicht arbeiten, sollen das Recht haben, zu nehmen. Das kommt vielen von uns absurd vor, dabei ist es gar nicht so ungewöhnlich. Das kann sich sogar unser Wirtschaftssystem leisten, obwohl es soviel Kraft verschwendet und soviel Überflüssiges produziert. Schließlich zahlt es Sozialhilfe, ohne daran zu zerbrechen. Mehr noch: Wir ernähren heute – was gerne vergessen wird – zigtausende von Parasiten mit, die nicht nur nichts herstellen, sondern überdies auch noch superreich sind: die Kapitaleigner mit ihrem arbeitslosen Zins-Einkommen. Trotzdem geht unser System daran nicht zugrunde …

Ob sie tatsächlich funktionieren würde, hängt von zwei Fragen ab: Wieviele Menschen werden sich tatsächlich weigern, zu arbeiten und etwas in den Topf zu geben? Und: Kann eine gut organisierte Wirtschaft in einer freiheitlichen Gesellschaft genügend Leistung erbringen, um alle Menschen – auch die „Faulenzer“ – zu versorgen?

Gewiss können wir über beide nur spekulieren, aber Spekulation kann durchaus fundiert sein. Was die zweite Frage angeht, so sehen wir, dass moderne Wirtschaftsstudien genau in diese Richtung weisen: Es scheint heute unter seriösen Soziologen, Politologen und sogar vorausdenkenden Ökonomen keine Frage zu sein, dass eine Bedarfsproduktion allen Menschen Nahrung und Wohlstand bieten könnte. Allerdings halten sie ihre Verwirklichung angesichts der tatsächlichen Machtstrukturen und Kapitalinteressen für eine Utopie und machen zu Recht den Vorbehalt geltend, dass das ungebremste Bevölkerungswachstum solche Hoffnungen jederzeit durchkreuzen könnte. Manche Anarchisten sind da optimistischer: Der bekannte amerikanische Ökologe Murray Bookchin geht in seinen Schriften von einem „Anarchismus der Nach-Mangelgesellschaft“ aus. Mangel, wie wir ihn heute kennen, sei ein künstlicher Zustand, der in unserem Wirtschaftssystem begründet liege. Bookchin zweifelt nicht daran, dass – auch in ökologisch verträglicher Form – mehr erzeugt und besser verteilt werden könnte als dies heute der Fall ist.

Trotzdem gibt es faule Menschen und unangenehme Arbeit, die niemand tun will. Was ist damit?
Die optimistische Annahme der Anarchisten, dass sich in einer libertären Gesellschaft relativ wenig Menschen jeglicher Arbeit verweigern, fußt auf mehreren Überlegungen. Zuallererst glauben sie nicht, dass konsequentes Nichtstun angenehm ist. Der Mensch ist in der Regel ein aktives Geschöpf, das sich betätigen will. Wirklich nichts im Leben zu schaffen ist für die meisten Menschen kein Ideal – im Gegenteil: Es wäre eine solch grässliche Langeweile und nervtötende Öde, dass diese Vorstellung eher erschreckend als verlockend wirkt. Rentner, die von einem Tag auf den anderen zur Untätigkeit verdammt werden, erleben diesen Zustand ­ebenso bedrückend wie Häftlinge, denen die Arbeit in der Gefängniswerkstatt verweigert wird. Selbst junge Menschen, die plötzlich ihren Arbeitsplatz verlieren, ­leiden darunter, obwohl sie durch Arbeitslosengeld finanziell leidlich versorgt bleiben. Und das alles, obwohl Arbeit heutzutage alles andere als angenehm und menschlich organisiert ist!

 

Entstehende Freizeit sinnvoll nutzen

Es ist eben eine ganz andere Frage, ob die Arbeit, die wir heute zu verrichten gezwungen sind, gerne getan wird. Vor allem anderen müssen wir arbeiten, um Geld zu verdienen und also leben zu dürfen. In den wenigsten Fällen ist unsere Arbeit angenehm, daher wird sie in den meisten Fällen ungern getan. Zudem halten Anarchisten die kapitalistische Arbeit für entfremdet. Der Grad der Entfremdung soll in einer libertären Wirtschaft durch vielfältige Änderungen im Arbeitsablauf entscheidend reduziert werden. Alle Überlegungen hierzu laufen auf eine Verringerung der Arbeitsteilung hinaus und auf eine engere Verbindung zwischen dem Menschen und seinem Produkt. Die Arbeitszeit in einer dezentralen Bedürfnisproduktion könnte auf Dauer drastisch gekürzt werden. Es macht für viele Menschen einen großen Unterschied, ob sie vier oder acht Stunden arbeiten müssen – nicht ohne Grund ist Teilzeitarbeit so beliebt. Schließlich darf nicht vergessen werden, dass die lebendige und bunte soziale Umwelt, die eine anarchis­tische Umwälzung vermutlich mit sich brächte, natürlich besonders geeignet wäre, die so entstehende Freizeit zu füllen. Würden wir hier und heute die Arbeitszeit auf vier Stunden reduzieren, brächte das für viele Menschen sicherlich erhebliche „Freizeitprobleme“ mit sich, die eher zu einem Anwachsen von sozialem Fehlverhalten, dumpfem Konsum, Alkoholverbrauch oder Fernsehmanie führen würde. 

 

Dieser leicht überarbeitete und gekürzte Beitrag ist Horst Stowassers Buch „Anarchie!“ entnommen, das bald nach seiner Veröffentlichung im März 2007 an der Spitze der gemeinsamen Sachbuchbestenliste von Süddeutscher Zeitung und Norddeutschem Rundfunk stand. Wir danken dem Verlag für das freundlicherweise überlassene Abdruckrecht.

Stowasser AnarchieHorst Stowasser

Anarchie!
Idee – Geschichte – Perspektiven

Edition Nautilus 2006

Großformatige Broschur
512 Seiten, mit mehr als 200 Fotos,
€ (D) 24,90 / sFr 41,70

ISBN 978-3-89401-537-4

Zur Website von Edition Nautilus

Bilder:
Hand in Hand: bruno / aboutpixel.de
Brötchen: bebe / aboutpixel.de
Faultier: Public Domain

Eine Antwort

  1. Bertram Hein

    Diesen Artikel schreibt jemand der den Menschen „nur“ in der ersten Welt kennt. Ich wohne in Paraguay und kenne tausende Einheimische Leute die am liebsten nichts tun. Sie wissen nicht warum sich jemand den Stress antut und etwas arbeiten würde wollen wenn ihn nicht der Magen drückt. Diese meine Brüder haben das Arbeiten nicht erfunden. Ich liebe sie trotzdem, ich mag diese Einheimischen, aber Arbeiten wollen sie nie.

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