Kinder, ich zieh‘ in die WG!

„In eine Wohngemeinschaft (WG) ziehen? Das ist doch nur etwas für junge Leute!“ Diese und ähnliche Äußerungen hat Jutta Schmidt (80) oft im Familien- und Freundeskreis gehört. Doch sie sieht das ganz anders. Über gemeinsames Wohnen im Alter als Modellprojekt.

„In einer WG bewahre ich meine Unabhängigkeit und bin doch nicht allein. Wenn ich möchte, kann ich Gesellschaft und Unterhaltung finden, ich kann mich aber ebenso zurückziehen.“
Den Alltag miteinander zu teilen, Kontakte und Gesprächsmöglichkeiten zu haben, vielleicht auch mal gemeinsame Reisen und Unternehmungen – das verspricht sie sich von dieser Lebensform mit Gleichgesinnten. Und auch im Krankheitsfall könnten sich WG-Mitglieder gegenseitig helfen und stützen. Außerdem sei durch diese Lebensform ein höherer Lebensstandard möglich, als ihn sich die meisten Menschen leisten könnten, meint Jutta Schmidt. Voraussetzung sei allerdings eine gute persönliche Vorbereitung auf diese Art des Wohnens und Lebens, eine gesunde Portion Toleranz und eine gemeinsame Basis der WG-Bewohner.

Das Göttinger Projekt „Alten-Wohngemeinschaft“ trägt diesem Anspruch Rechnung. Vor über 10 Jahren, zum Jahresbeginn 1994, realisierte die Freie Altenarbeit Göttingen e.V. das erste niedersächsische Modellprojekt einer selbstorganisierten WG älterer Menschen. Die Stadt Göttingen stellte dem Verein eine leerstehende Jugendstilvilla zur Verfügung, die im Rahmen der Auflagen des Denkmalschutzes umgebaut wurde.

Bedürfnisgerechtes Wohnen zu günstigen Preisen

„Die Konzeption des Projekts, in dem zur Zeit zehn Frauen und ein Mann zwischen 65 und 91 Jahren gemeinsam wohnen, wurde durch unseren Verein von Anfang an unter bewusster Beteiligung der künftigen Bewohnerinnen entwickelt“, sagt der Projektinitiator Michael Jasper. Die Gestaltung der Wohnküche mit behindertengerechten Kochstellen, der Einbau der Schiebe- statt Flügeltüren oder die Sicherheitsbeleuchtung gingen auf Vorschläge der künftigen Bewohnerinnen zurück. Es handele sich um eines der – bislang noch viel zu seltenen – Projekte, das nicht für, sondern mit den Bewohnern gestaltet wurde und wird. Entstanden sind elf Zwei-Zimmer-Wohnungen mit je 30 bis 50 m2 Wohnfläche. Zusätzlich stehen 335 m2 Gemeinschaftsfläche zur Verfügung, darunter zwei Gästewohnungen, eine Gemeinschaftsküche, eine Bibliothek, behagliche Wohnflure und ein parkähnlicher Garten. „Die WG im noblen Ostviertel der Stadt ist dabei alles andere als ein Luxusprojekt für betuchte Alte. Die monatliche Warmmiete liegt bei 420 bis 640 Euro. Mit diesen sozial ausbalancierten Mieten ist es auch Menschen mit kleinerer Rente möglich, in diesem Projekt zu leben, ohne von der Sozialhilfe abhängig zu sein“, betont Jasper.

Krisen gehören zum Leben – auch in der WG

Viel hätten sie in der Zeit ihres Zusammenlebens gelernt, bestätigt die WG-Gruppe. Schließlich handele es sich um eine Wohngemeinschaft alter und hochbetagter Menschen, von denen bisher keiner WG-Erfahrungen gemacht habe. Viele Vorurteile, eigene wie auch die von Angehörigen, seien zu überwinden gewesen – etwa das, doch nicht in eine „Kommune“ zu ziehen, in der sicher alles drunter und drüber gehe. Das menschliche Klima, so Projektinitiator Jasper, sei von persönlicher und gegenseitiger Anteilnahme und Toleranz geprägt. Dennoch: die meisten aus der WG-Gruppe siezen sich und betonen so eine gewisse Grunddistanz, die einer intensiven Begegnung aber nicht im Weg steht. „Gibt es denn auch Konflikte?“ werde er von interessierten Besuchergruppen oft gefragt. Selbstverständlich entstünden Konflikte, die günstigenfalls bewältigt, nicht selten augenzwinkernd belassen, manchmal auch verdrängt würden, aber stets in dem Gefühl der gegenseitigen Verbundenheit.

Gemeinsam wohnen: Gegenseitige Hilfe, ohne sich selbst zu überfordern

Die wunderschöne Jugendstilarchitektur mit ihren vielen Nischen gibt den unterschiedlichsten Bedürfnissen wie Individualität und Gemeinschaftlichkeit, Aktivität und Rückzug, Nähe und Distanz viel Raum. Gegenseitige Hilfe und Unterstützung sei selbstverständlich geworden, aber, und dies sei eine der wichtigsten Projekterfahrungen, es werde darauf geachtet, sich durch nachbarschaftliche Hilfe nicht zu überfordern. Soweit professionelle pflegerische Unterstützung nötig werde, finde eine Zusammenarbeit mit der Paritätischen Sozialstation Göttingen statt. Ambulante Pflegekräfte kommen, als externe Partner, in die WG. Diese Praxis habe sich in Krisensituationen bewährt. Selbstorganisation wird großgeschrieben – Anknüpfen an dem, was alte Menschen können und nicht an dem, was sie nicht können, ist das Motto des Projekts. Das bedeute nicht, dass die Bewohnerinnen bar jeder Unterstützung seien. Es sind die Frauen selbst, persönlich und als Gruppe, die entscheiden, in welchen Situationen sie nicht mehr weiterkommen und welche Form der Hilfe sie benötigen. In der Gerontologie nennt man das Kompetenztraining. „Selbstorganisation“ bestimmt den WG-Alltag ganz praktisch: So nehmen die elf WG-Frauen, ihren Neigungen entsprechend, freiwillig Verantwortlichkeiten rund um Haus, Garten und Gemeinschaft wahr. Sie treffen sich regelmäßig einmal in der Woche zu ihrer Vollversammlung und diskutieren gemeinschaftliche Belange. Selbständig und unabhängig vom Träger entscheiden die Frauen, wer in die WG einziehen soll, wenn eine Wohnung frei wird.

Ein gewordenes Frauenprojekt – seit kurzem mit einem Mann …

Diese WG sei nicht als Frauenprojekt geplant gewesen, sagt Michael Jasper. Über die ersten zehn Jahre sei sie eines geworden. Die Frauen mussten in der Planungsphase erleben, dass die Herren der Schöpfung allesamt Versorgungsansprüche gegenüber den Frauen geltend machten. „Bekochen, Bestopfen und Bebügeln“, sei deren Devise gewesen. Diese „Versorgungsnummer“ wollten sich die Frauen dann doch nicht antun. So unterschiedlich auch ihre Weltanschauungen sind: Da machten sie ihr Ding doch lieber allein. Es sei jedoch zu hoffen, dass sich diese tradierten männlichen Rollenvorstellungen wandeln und sich künftig auch mehr ältere Männer in selbstorganisierte Projekte integrieren, hoffen die WG-Frauen. Und siehe da: Im elften Jahr des Projektbestehens zog der erste 77-jährige Mann ein – „ein selbstständiger Zeitgenosse“, wie die WG-Frauen hoffen.

Information „Gemeinsam wohnen im Alter“: Nach Absprache bietet der Verein interessierten Gruppen bzw. Einzelpersonen Projektberatung an.

Adresse:
Freie Altenarbeit Göttingen e.V.
Am Goldgraben 14,
37073 Göttingen
Tel.: 0551/ 436 06

E-mail:
FreieAltenarbeitGoettingen@t-online.de

Internet:
www.fgwa.de
Forum für gemeinschaftliches Wohnen im Alter Bundesvereinigung e.V.

Weiterführende Literatur zu diesem Projekt:
Astrid Osterland: Nicht allein und nicht ins Heim – Alternative: Alten-WG, erschienen bei Junfermann 2000

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