Gemeinschaft heißt nicht, dass sich ein paar Menschen einfach zusammentun und ab da glücklich als Gruppe leben. Gemeinschaft ist vielmehr ein Prozess, der besonders die persönliche Entwicklung des Einzelnen fordert, die im besten Falle in ein harmonisches und funktionierendes Wir mündet. Manuela Bosch beschreibt die Herausforderungen auf dem Weg und wie man ihnen begegnen kann.

 

Ich freute mich, als SEIN mich fragte, ob ich etwas zum Thema Gemeinschaft schreiben mag, weil ich mit Gruppen arbeite und sie in ihrem Prozess der Zusammenarbeit und Gemeinschaftsbildung begleite. Doch ich muss offen gestehen: Ich habe mehr Fragen als Antworten und einen großen Respekt vor allen Menschen, die bewusst und voll und ganz bereit sind, sich auf Gemeinschaft einzulassen.

Zunächst einmal: Was ist überhaupt Gemeinschaft? Was macht sie aus? Die Frage ist berechtigt, denn ich kenne Gruppen aus Gemeinschaftsprojekten, die Verantwortung für Länder, Häuser, Fahrzeuge etc. teilen, die untereinander befreundet sind, die sich regelmäßig im Alltag unterstützen und dennoch in Frage stellen, ob sie überhaupt eine Gemeinschaft sind. Denn im Gemeinschaftsalltag kann es viele Momente geben, die uns an die Grenze unserer Komfortzone führen oder gar darüber hinaus. Zum Beispiel solche Momente, in denen ich mich mit meinem Anliegen alleine fühle, fehlendes Vertrauen spüre, das Gefühl habe, dass wir aneinander vorbeireden, Vereinbarungen nichts wert zu sein scheinen oder ich meine, mich fortwährend im Kreis zu drehen. Solche Situationen lassen zweifeln, ob die Gemeinschaft existiert oder „funktioniert“.

Gemeinschaft bedeutet: An einem Strang ziehen

Wenn ich aber das Gefühle habe, mit anderen an einem Strang zu ziehen, vorwärts und weiter zu kommen, Harmonie, Kreativität, Zugehörigkeit und Verbundenheit spüre, Herausforderungen und Konflikte meistern kann – ja, das Gefühl habe, gemeinsam mehr zu sein als jeder für sich alleine – in solchen Momenten denke ich mir: Was für eine großartige Gemeinschaft.

Gemeinschaft ist also erstens kein fester Zustand, kein Status, den ich einnehmen oder in den ich eintreten kann. Zweitens hat Gemeinschaft als Allererstes mit gelungenen Beziehungen zu tun. Mit im Grunde wildfremden Menschen kann dann innerhalb weniger Stunden das Gefühl von Gemeinschaft entstehen, während ich das im Kreis meiner Ursprungsfamilie vielleicht niemals spüren kann.

Ist es möglich, mich bewusst für Gemeinschaft zu entscheiden? Mich für Zugehörigkeit zu entscheiden und mir sogar des tieferen Sinns dahinter bewusst sein? Ich stelle mir diese Frage nach Gemeinschaft im Freundeskreis, in der Familie, einem Team, in der Nachbarschaft, in einer Projektgruppe, einer sozialen Bewegung, als Teil der Gesellschaft oder auch nur temporär als Teilnehmerin im Rahmen einer Veranstaltung.

In all diesen Gruppen laufen Prozesse ab, unsichtbare Dynamiken, die harmonisch und schöpferisch bis hin zu lähmend und zerstörerisch sein können. Der Prozess hat dabei direkte Wirkung auf die Sache an sich. Wer kennt nicht wie Zeitverschwendung anfühlen, weil sie weder Spaß machen noch produktiv sind? Situationen, in denen Uneinigkeit über eine Sache mehr an ungeklärten zwischenmenschlichen Themen hängt als an der Sache an sich. Wir streiten über „Rot“ oder „Blau“, doch im Grunde geht es darum nicht. Es geht vielmehr um etwas, das im Raum steht, das wir nicht sehen und nicht hören können, das das Ganze aber eigentlich ausmacht – eine Kraft, die unfassbar schöpferisch, aber auch unsäglich zerstörerisch sein kann: Die Kraft unserer Verbindung.

Die Phase der Pseudogemeinschaft

Wie entsteht nun aus mehreren Einzelpersonen die Transformation hin zu einer Gruppe, in der ich mich gesehen fühle und entfalten kann, in der wir uns gegenseitig mehr Kraft geben als nehmen? Wie entsteht Gemeinschaft?

Der Gemeinschaftsprozess besteht aus mehreren Phasen. Eine wichtige dabei ist die der „Pseudogemeinschaft“, in der wir meist irgendwann auf dem Weg zu echtem Gemeinsinn feststecken. Das Gefühl der Verbundenheit existiert dabei nicht wirklich und wir lassen uns auf faule Kompromisse ein. Wir akzeptieren, dass wir im Grunde nicht ganz glücklich sind – und denken, das müssten wir so hinnehmen. Vielleicht finden wir vieles, was abläuft, „voll daneben“, aber die Themen auf den Tisch zu packen… das machen wir nicht – aus welchen Gründen auch immer. Vielleicht glauben wir sogar, uns zum vermeintlichen Wohle anderer zurückhalten zu müssen.

Doch der Weg zu echter Gemeinschaft führt genau durch diese Phase hindurch. Er fordert Ehrlichkeit ein, er fordert, die eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen und auszusprechen. Aber nicht nur das. Der Weg zum „Wir“ fordert auch, mich für das einzusetzen, was mir im Leben wichtig ist. Gefühle und Bedürfnisse auszusprechen, kann allerdings erst einmal zu Distanz und Schwierigkeiten führen, denn es bedeutet auch, auftretende Konflikte zu akzeptieren und auszutragen. Angenehm ist das nicht immer, doch manchmal einfach notwendig, um neue Perspektiven zu erhalten und zu erkennen, wo sich der Schatz für das Gelingen unserer Beziehung verbirgt.

Es braucht viel Mut, unbequeme Themen auf den Tisch zu packen und sich dabei verletzlich zu zeigen. In unserer modernen Gesellschaft werden wir auf vieles vorbereitet, aber kaum darauf, in Gemeinschaft zu leben. Bestimmt kann man nicht lernen, Gemeinschaft zu machen, doch wir können lernen, Rahmenbedingungen zu schaffen, damit Gemeinschaft besser gelingen kann. Eine Vielzahl von neuen und wiederentdeckten „sozialen Technologien“ lässt mich darum auf einen Wandel hin zur Gemeinschaft hoffen.

Mit dem Drachen tanzen

Im Kreis der Praktizierenden von „Dragon Dreaming“, ein Methodenwerk um kreative, gemeinschaftliche und nachhaltige Projekte zu verwirk – lichen, begegnen wir beispielsweise den „Triggern“ in zwischenmenschlicher Begegnung gerne spielerisch. Wir nennen dabei den Akt der mutigen Auseinandersetzung mit der eigenen Angst „mit dem Drachen tanzen“. Indem wir diesen Tanz wagen, lassen wir uns auf ein Abenteuer ein. Rilke schreibt: „Unsere größten Ängste sind die Drachen, die unsere tiefsten Schätze bewahren.“ Wenn ich weitergehen will, wenn ich durch das Chaos hindurchgehen will, dann geht es darum, zu lernen, mit meinen Drachen zu tanzen, anstatt sie zu bekämpfen, vor ihnen davonzulaufen oder mich zu verstecken.

Ganz gleich, ob ich absichtlich Teil einer Gemeinschaft bin oder gerade auf Fremde treffe – viele unserer „Drachen“ werden durch die Auseinandersetzung mit der Umwelt, in Gesellschaft, geweckt. In jedem Moment, in dem ich mit meinem Drachen konfrontiert werde, präsentiert sich mir aber auch die Chance, Gemeinschaft zu leben, indem ich mich öffne und im Kontakt mit meinem Gegenüber bleibe.

Wenn ich lerne, mit meinem Drachen zu tanzen, dann offenbart sich mir der Schatz meines größten Potenzials, das Potenzial, ein Stück „ganzer“ und mehr eins zu sein, mehr verbunden im Inneren und im Außen.

Das Drachentanzen, den Umgang mit schwierigen Themen finden, kann eine lebenslange Aufgabe sein. Doch vielleicht gelingt mir auch gerade das besser in Gemeinschaft. Allein ein gutes Gespräch, in dem ich aussprechen kann, was mich wütend, traurig, ängstlich oder auch glücklich macht, was mich inspiriert und berührt, kann bereits transformierend wirken. Auf offene Ohren und Herzen zu stoßen, von der Erfahrung anderer zu lernen, Verbündete für die Bearbeitung von emotionalen, philosophischen wie praktischen Themen zu finden, kann mich um Meilen weiter bringen, als die Dinge mit mir allein zu klären.

Mitgefühl und Identität

Doch wie komme ich dazu, offen über meine wichtigen Themen zu sprechen, wenn ich nicht sicher bin, ob es die anderen überhaupt interessiert, weil beispielsweise nicht geklärt ist, ob und wo der Platz für individuelle Bedürfnisse ist? Wieso sollte ich mich öffnen, wieso verletzlich zeigen, wenn ich das Gefühl habe, dass da gar kein Raum ist, in dem ich mich zeigen kann, wo ich gesehen und gehört werde? Darum ist ein Rahmen notwendig, eine gemeinsame Sprache und das gegenseitige Vertrauen. Dafür gibt es keine allgemeingültige Form. Es muss allerdings ein Bewusstsein dafür vorhanden sein, dass es keinen anderen Weg für die Gruppe gibt, als sich zusammen durch alle auftauchenden Schwierigkeiten hindurchzubewegen. Um gemeinsam durch das Chaos unglücklicher Beziehungen zu schreiten, braucht es ein bewusstes Wahrnehmen, Annehmen und Reingehen. Es braucht dann auch ein kollektives Loslassen und Stillsein zugleich. Eine bewusste Intensivierung dessen, was ist – bis zu dem Punkt, an dem die Dynamik sich selbst überlassen werden muss. Es ist der Punkt, an dem wir aufhören, Schuld zu suchen oder uns schuldig zu fühlen. Die Stelle, an der uns Mitgefühl überfällt, wir aus der Tiefe unseres Herzens uns selbst und anderen gegenüber vergeben können. Es ist der Moment der Selbsterkenntnis, des Erkennens unseres Selbst, des anderen und dessen, was zwischen uns ist – etwas, das größer ist als du und ich und das Thema, über das wir uns streiten.

Dieser Raum zwischen uns, den wir nicht sehen und hören, der Gemeinschaft aber eigentlich ausmacht, ist unsere Kommunikation untereinander, eine Kommunikation, die weit über Worte und Gesten hinausgeht. Sie wird ausgedrückt durch unsere innere Haltung, bestimmt durch die innere Frequenz, auf der wir unterwegs sind, genährt aus der Quelle unseres Seins. Eine Gemeinschaft zeichnet sich durch ihre Werte aus. Wir fühlen uns zugehörig zu den Gruppen, mit deren Werten wir uns identifizieren können. Identifikation bedeutet Zugehörigkeit und führt zur Gemeinschaft. Werte manifestieren sich dabei durch unseren Umgang und unsere Kommunikation miteinander: unsere „gelebte Kultur“. Und die wird durch Rituale geprägt. Rituale im Sinne von Interaktionen mit unserer Umwelt, sprich: geregelte Kommunikationsabläufe.

Ins Unbekannte hineinwagen

In den meisten Gruppen entwickeln sich diese Rituale unbewusst. Zum Beispiel die Art und Weise der Begrüßung, oder wie wir Mahlzeiten teilen und wie Treffen ablaufen. Beobachte eine Zeit lang die gelebte Kultur in den Treffen einer Gruppe, und du wirst mehr über ihre Werte und Philosophie erfahren, als auf ihrer Website oder ihrem Manifest zu lesen ist.

Es können aber auch ganz bewusste Rituale sein, die man als Gruppe ausführt. Im Kreis von gemeinschaftlich orientierten Menschen können wir bewusste Momente der Begegnung haben, die einem bestimmtem Ablauf folgen, mit der Absicht der individuellen und kollektiven Transformation hin zu mehr Verbundenheit und Harmonie. Seit Menschengedenken haben uns solche Rituale Halt gegeben. Ob wir uns nun inspirieren lassen von den Ritualen unserer Ahnen oder unsere eigenen Rituale entdecken, ist dabei nicht so wichtig. Wichtig ist, dass sie unserer eigenen Mythologie, unserer Wahrheit entsprechen.

Die Transformation zur Gemeinschaft hängt darum letztlich nicht so sehr davon ab, was und wie man etwas macht, sondern wer es macht. Die Kraft liegt beim Einzelnen, darin, seinem Herzens- Ruf zu folgen, sich ins Unbekannte zu begeben, mitten in den Tanz mit der Angst hinein.

 


 

Workshop:
Presencing, schamanische Rituale und kollektive Kreativität in der Dorfgemeinschaft Klein Hundorf
Vier Mal im Jahr leitet Manuela Bosch zusammen mit der schamanischen Heilerin Dana Richter Seminare zur bewussten, rituellen Gestaltung von Übergängen und ihrer Integration in unser Leben.
Mit zeitgenössischen systemischen und traditionellen schamanischen Praktiken.
29.-31.1.: Lichtmess
29.4-1.5.: Beltane
29.7-3.8.: Lughnasadh
28.-30.10.: Samhain

Infos und Anmeldung
anmeldung@betulaundmamabuche.org
www.betulaundmamabuche.org

 

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