Ein einfühlsamer Artikel über die unsichtbaren Fäden, über die Geschwister miteinander verbunden sind und wie sie ein Leben lang unbewusst beeinflussen können

von Barbara und Cordula Ziebell

Geschwisterprägungen, verbunden mit gesellschaftlichen Erwartungen an Geschwister, haben eine lebenslange Bedeutung. Ein Fallbeispiel veranschaulicht eine typische Schwesterndynamik und welche langfristigen Folgen diese mit sich bringen kann. Geschwisterliche Dynamiken und Muster in der Tiefe zu verstehen, ermöglicht eine Bewusstseins- und Perspektiverweiterung und trägt zu mehr Verständnis der Geschwister zueinander bei.

Mit niemandem sonst als mit den Geschwistern wachsen wir so nah beieinander auf. Sie sind diejenigen, mit denen wir im Elternhaus von der Geburt bis zum Auszug am engsten zusammenleben und auf gleicher Ebene Sozialverhalten und Selbstbehauptung lernen und „üben“. Sie sind unsere ersten Buddies/Pears, die uns unmittelbares, schonungsloses Feedback geben, die unsere empfindlichsten Punkte kennen. Die uns total schnell auf die Palme bringen können, mit denen wir aber auch Geheimnisse teilen. Uns ggfs. auch gegen die Eltern oder andere im Außen verbünden können. Es sind Menschen, die uns am Vertrautesten sind.

Geschwister als Lernfeld und lebenslange Prägung?

In der Geschwisterforschung sowie in Therapien und Familienaufstellungen ist immer deutlicher geworden, dass – neben den Eltern – auch unsere Geschwister, unser Platz in der Geschwisterfolge sowie die dort erfahrenen Rollenzuschreibungen unser Selbstbild und unseren Lebensweg maßgeblich prägen. Familiendynamiken verlaufen meist sehr ähnlich, es schälen sich darin typische Geschwister-Dynamiken, Rollenzuschreibungen und Stigmatisierungen heraus. Die Gefahr besteht darin, dass sie sich zu Denk- und Verhaltensmustern sowie Glaubenssätzen verfestigen und uns ein Leben lang (unbewusst) prägen.

Das Grundmotiv in Familien mit Kindern ist immer, dass Geschwister miteinander um die elterliche Liebe und Anerkennung ringen. Die Erstgeborenen werden durch nachkommende Geschwister aus ihrer Mittelpunktposition als einziges Kind herauskatapultiert. Sie fühlen sich meist unter Druck, neue „Alleinstellungsmerkmale“ entwickeln zu müssen, um die Zuneigung der Eltern nicht zu verlieren. Nachgeborene spüren schnell, dass ihre älteren Geschwister bereits viele Fähigkeiten und Rollen besetzt haben, die für sie schon allein aufgrund des Alters- und Erfahrungsvorsprunges nicht einzuholen sind.

Sie beginnen instinktiv eilig, neue „Nischen“, also noch nicht belegte Rollen und Kompetenzen, zu suchen, zu besetzen und zu kultivieren. Dabei ist der Wunsch nach Gerechtigkeit und Gleichbehandlung durch die Eltern groß und auf jegliche wirkliche oder vermeintliche Ungleichbehandlung wird höchst sensibel reagiert. Das ist eine große Herausforderung für die Eltern, die hier oft überfordert sind. Denn manchmal ist es trotz großer Bemühungen nicht zu schaffen, dass sich jedes Kind immer gesehen und gerecht behandelt fühlt.

(c) Ziebell

Große“ und „kleine“ Schwester

Als Beispiel eine typische Dynamik von „Großer Schwester – kleiner Schwester“:
Die Erstgeborene ist bei Geburt der Schwester nun plötzlich nicht mehr die „Kleine“, „Süße“. Die Eltern geben ihr zwar auch weiterhin Aufmerksamkeit und Zuneigung, betonen dabei aber immer, sie sei ja schon so „groß“, „klug“ und „vernünftig“. Sie solle nun auf die Kleine immer schön aufpassen und Rücksicht auf sie nehmen.
„Ok,“ denkt diese, „das kann ich schon“ und ist stolz darauf. Schwupps gibt es eine neue und viel Anerkennung versprechende Rolle: „Ich bin nun also die Große, die Kluge, die Vernünftige.“ Die kleine Schwester merkt schnell, worin ihr die Große voraus ist und setzt dem sprachlichen und intellektuellen Vorsprung der „großen“ Schwester Sportlichkeit, Kraft und Geschicklichkeit entgegen und ist dabei auch sehr erfolgreich.

Hier gibt es keine offensichtliche Ungleichbehandlung und böse Absicht der Eltern. Auch ist diese Rollenaufteilung sicherlich für einige Zeit lang sehr funktional und naheliegend. Es scheint nichts „Schlechtes“ daran zu sein. Das ist es auch nicht unbedingt. Doch spannend wird es zu schauen, welche Langzeitwirkung diese Dynamik haben kann. Dann nämlich, wenn die kindliche Erfahrung zu einer „Prägung“ und die unbewusste Festlegung auf eine Rolle zum Selbstbild wird. Die Übernahme von Rollen und die damit verbundenen Verhaltensweisen und Kompetenzen werden dann oft wie eine angeborene „Begabung“ und „Charaktereigenschaft“ empfunden.

So kann es zum Beispiel für die „kleine“ Schwester ein Lebensthema bleiben, gegen das Gefühl anzugehen, andere wüssten sowieso mehr als sie. Sie wären klüger und könnten vieles besser. Die „große“ Schwester hingegen neigt dazu, sich auch im erwachsenen Alter sehr kontrolliert und vernünftig zu verhalten. Unbekümmertes, verspieltes, spontanes, also „unvernünftiges“ Verhalten fällt ihr womöglich schwer. Und sie findet sich in familiären als auch in beruflichen Kontexten immer wieder in verantwortungsvollen Aufgaben und Positionen wieder. Solange solche Muster unbewusst bleiben, prägen diese Selbstbilder und die damit verbundenen Verhaltensweisen nicht nur das Miteinander der erwachsenen Schwestern und das gemeinsame Auftreten nach außen. Sondern auch ihre Beziehungen zu ihren Partner*innen, zu Vorgesetzten sowie im Kollegen- und Freundeskreis.

Geschwister in der Krise

In der Herkunftsfamilie entstandene Geschwisterdynamiken führen im Erwachsenenalter – trotz aller auch schönen, unbeschwerten Kindheitserinnerungen mit den eigenen Geschwistern – leider häufig auch zu schweren Krisen. Für die Beteiligten sind diese oft nicht nachvollziehbar, geschweige denn auflösbar. Diese Entfremdungen, Krisen oder Kontaktabbrüche werden im Erwachsenenalter meist als sehr schmerzhaft erlebt. Viele empfinden großen Leidensdruck und ausweglose Dilemma: die Sehnsucht nach Nähe, Augenhöhe und Kontakt ist noch da, doch andererseits gibt es Konkurrenz, Neid und Kränkungen.

Neben den verständlichen Wünschen nach Verbundenheit und Harmonie mit den Geschwistern besteht zusätzlich auch eine gesellschaftliche Erwartung – es ist fast wie ein Paradigma: „Wir sind doch eine Familie!“ „Wir sind doch Geschwister!“ und:

„Blut ist dicker als Wasser!“

Heutzutage wird diese Redewendung häufig als Erklärung dafür genommen, warum wir uns unserer Familie, den Eltern und Geschwistern „irgendwie“ verbunden fühlen müssen. Unumstritten: diese Beziehungen sind sehr nah und emotional und gehen oft unter die Haut.

Doch ist aus dieser Redewendung eine Erwartung, ein Paradigma geworden: es sollte so sein und es ist richtig, sich nah zu fühlen, harmonisch miteinander zu sein und zusammenzuhalten! Und es ist nicht richtig, wenn man nicht die Verbundenheit und Nähe spürt und lieber ein distanzierteres Verhältnis zueinander möchte oder lebt.

Aus dieser Überzeugung „Es darf so nicht sein, so ist es eigentlich nicht richtig“ entstehen innerer Zwiespalt und Unfrieden. Schnell werden dafür vermeintliche Fehler und Schuldige gesucht – Geschwister in der Krise!

Dabei wird hier der Spruch: „Blut ist dicker als Wasser“ genau gegenteilig interpretiert zu dem, wie er ursprünglich gemeint war. Nämlich: eine Verbindung durch einen „Blutvertrag“ ist stärker als die Bindung „an seinen Bruder“. (Original: ‚The blood of the covenant is thicker than the water of the womb.‘ ‚Das Blut der Bruderschaft ist dicker als das Wasser des Mutterleibes.‘) Das Sprichwort bezieht sich auf den Abschluss von Blutverträgen zuzeiten des Alten Testaments, zu dem ein Tier geschlachtet wurde. Wasser verwendeten die Menschen lediglich bei der Taufe oder Geburt eines Kindes. Ein Blutvertrag wurde also als sehr viel verbindlicher betrachtet.

Wege aus der Geschwisterkrise

Wenn wir Freundschaften schließen, tun wir dies meist sehr bewusst und sind bemüht, die Beziehung gut zu pflegen. Unsere Geschwister suchen wir uns nicht aus – sie sind einfach da, ob wir wollen oder nicht. Sich nah und verbunden zu fühlen, ist daher ein Geschenk und nicht selbstverständlich. Und Geschwister können – wie bei Freundschaften – etwas dafür tun, um die Beziehung positiv zu gestalten. Denn es gibt Möglichkeiten eines konstruktiven Umgangs mit dem schweren Erbe geschwisterlicher Kindheitserfahrungen.

Eigene Muster bewusst machen und Potenziale nutzen

Der erste, wichtigste Schritt ist es, sich der übernommenen Rolle(n) und der damit verbundenen Handlungsweisen bewusst zu werden. Diese Rollenübernahmen sind nicht per se als „schlecht“ zu bewerten, enthalten sie doch durch die langjährig damit gewonnenen Erfahrungen auch viele Kompetenzen und Vorteile. Werde ich mir meiner typischen Muster und Handlungsweisen gewahr, kann ich sie mir genauer anschauen und bewusst entscheiden:

  • Was passt wirklich zu mir? Worin finde ich mich wirklich wieder?
    Womit fühle ich mich wohl und will es beibehalten?

  • Und was davon legt mich zu sehr fest, schränkt mich ein,
    verhindert das Ausleben anderer Anteile in mir?

  • Was möchte ich also gern (auf-)lösen und was vielleicht neu entfalten,
    um mein ganzes Potential zu leben und vollständiger zu werden?

Das Erkennen eigener Muster und die damit verbundene Möglichkeit zu Veränderung bei sich selbst ist Ausgangspunkt für Veränderung im Außen: „Wenn ich mich bewege, bewegen sich andere automatisch mit“, wie bei einem Mobile. Das ermöglicht dann auch ein besseres Verstehen unserer Geschwister und unserer gemeinsamen speziellen Geschwisterdynamik.

Wechsel der Blickrichtung

Wie wäre es, der Schwester oder dem Bruder zu begegnen wie Menschen, die man sich zur Freundin oder zum Freund machen will? Ohne die Erwartung und Überzeugung, dass man sich von Natur aus verbunden fühlen muss und dass die Geschwister so oder so zu sein hätten!?

(c) Ziebell

Wie wäre es, das alte Kapitel mit den alten Verletzungen, Rollen- und Schuldzuschreibungen abzuschließen und ein neues zu öffnen: den Geschwistern offen und neugierig zu begegnen und sie neu kennen zu lernen. „Wie hast du dich eigentlich als Kind und Jugendliche erlebt?“ „Was bewegt dich heute wirklich?“ – eben genau so, wie man eine neue Freundin / einen neuen Freund danach fragen würde.

Wenn Geschwister lernen, immer wieder ihre gegenseitigen Erwartungen zu überprüfen und sich mit neugierigem Interesse und einer inneren Haltung von „Ah, so erlebst du dies also!“ zu begegnen, werden sie sich immer seltener als ‚Geschwister in der Krise‘ wiederfinden oder darin stecken bleiben.

Ankündigung

Unser nächster Schwestern-Workshop „Geschwister – Herausforderung oder Chance!?“ vom 8. – 10. Mai in Berlin (in der Tanzschule „Chachachicas“, Hasenheide 9) bietet wieder Möglichkeiten, gemeinsam mit anderen betroffenen Frauen und mit Unterstützung unseres Coachings Blickwinkel zu wechseln und Perspektiven zu erweitern, um eine andere Haltung innerhalb der eigenen Geschwisterdynamik zu entwickeln. Eigene Muster werden erkannt und Handlungsmöglichkeiten gegeben für die Arbeit an sich selbst und für Möglichkeiten ggf. in einem 2. Schritt mit der Schwester/dem Bruder in einen echten Austausch zu kommen.

Hiermit kennen wir uns – als große und kleine Schwester- aus eigener Erfahrung besonders gut aus!

Infos und Anmeldung unter:

https://schwestern-workshops.de/workshops/geschwister-herausforderung-oder-chance

 

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