Jeden Abend, wenn die Zeit zum Nachdenken und zur Besinnung kommt, setzt die Verzweiflung ein. Und es wird Tag für Tag schlimmer, seit ich in der Schleife der Ökologie- und Weltveränderer-Aktivisten und deren „Mail-Verteiler“ bin. Ich glaube, es begann so richtig nach dem Lesen einiger Beiträge zum Thema „Vorbereitung auf den Zusammenbruch der Zivilisation“, auf die mein Freund Dave Pollard von Zeit zu Zeit verlinkt. Jedenfalls bin ich verzweifelt und werde von Tag zu Tag verzweifelter.

Hier also sind sie, all meine Weltveränderer-Freunde. Brillant, aktiv, bewegt von der Sorge für den Planeten, die Gesellschaft, für die leidenden Lebewesen überall – von denen einige ihre Abschiedslieder singen, während sie aussterben. Wir alle wissen das. Jeder, der es sich leisten kann, mittels Medien auf dem Laufenden zu bleiben – und das sind auch jene, die ihren Teil zu den vor uns liegenden Herausforderungen beitragen … Wir alle wissen es in Mark und Bein und es betrübt unsere Seele in ihrer ganzen Tiefe: Wir beschreiten den Weg des Todes und der Zerstörung. Wir sind unterwegs in die Vergessenheit, auf bestem Wege, all den schönen Blumen der Zivilisation überall auf diesem Planeten auf Nimmerwiedersehen zu sagen. Wir alle kennen dieses Lied, viele von uns macht es betroffen – immer mehr Menschen sind besorgt, und einige handeln, und manche weinen, und einige bereiten sich vor auf den Zusammenbruch der Zivilisation.

Ich bin in der Schleife, wie gesagt, ich bekomme rund 10 E-Mails pro Tag, in denen die Katastrophe diagnostiziert und Möglichkeiten angeboten werden, wie damit umzugehen wäre. Einige sind düster, andere dringliche Anrufe, wieder andere eher positiv. Aber wir alle könnten Tag und Nacht lesen und würden doch nie ans Ende all dieser Alarm-Klänge und Grabeslieder von Verlust und einigen wenigen Hoffnungssignalen gelangen. Wir könnten Tag und Nacht arbeiten und kämen nicht mal ansatzweise in die Nähe auch nur einen Bruchteils dieser Aufrufe umsetzen zu können …

 

1000 große Pläne …

Es gibt tausend große Pläne, die Linderung und Hilfe versprechen. Es gibt eine Million fantastische kreative Stimmen. Staats- und Regierungschefs, Aktivisten, spirituelle und post-metaphysische Frauen und Männer auf der ganzen Welt. Wir alle schreien und deuten in tausend verschiedene Richtungen. „Let’s go!“ sagen wir, „Wir müssen loslegen! Es ist dringend.“ Und wir haben recht, nicht wahr?! Also: „Vereinigen wir uns!“ Und Hunderte Flaggen werden gehisst und Sprechchöre skandieren: „Hier entlang! Vereint euch! Wir sitzen alle in einem Boot!“
Und was ergibt das?
Authentisches Chaos – und alle gut gemeinten Versuche, die Führung zu übernehmen, führen nur zu weiterer Verwirrung und in größeres Chaos.

Ich weiß, ich muss dem in die Augen sehen – zu lange habe ich vermieden zu sehen, was offenkundig ist. Zu lange habe ich gedacht, dass wenn wir alle nur dieses Werkzeug verwenden würden oder jenes, uns so ausrichten, oder anders, dass dann alles wieder gut würde. Und jetzt erkenne ich, obwohl wir das tun – und wir tun wirklich unser aller, aller Bestes – ist es immer noch authentisches Chaos, lauter Verwirrung und ein unglaubliches Herumgerenne und wir werden immer verzweifelter. Verzweiflung schnürt mir die Kehle zu. Tränen steigen auf. Es gibt nichts, was ich noch tun kann. Es gibt nichts, was Du tun kannst. Es gibt wirklich überhaupt nichts, was wir tun können, um dieses Abgleiten in eine chaotische Hölle zu beenden, in der jeder sein wirklich Bestes gibt und nichts erreicht wird …

 

Niederlage

Und ich sehe – wir werden gebrochen. Diejenigen von uns, die sich erlauben das zu sehen – wir brechen und trauern … aus unseren Herzen strömt ein Requiem für alle unsere individuellen Möglichkeiten, unsere Kreativität, unsere Brillanz, für das, was jede und jeder von uns denken könnte und tun. Ich akzeptiere.

Dies ist, was immer passiert, wenn die zweite Phase endet und sich die dritte Phase entfaltet in einem Prozess, den ich so gut kenne – er hat mehrere Namen, je nachdem, wen Du fragst, aber in der fünften Phase davon wird das „kollektive Bewusstsein“ geboren, das Kreis-Wesen, das „Ding in der Mitte“.

Und jetzt bin ich von Freude erfüllt, plötzlich bin ich in Ekstase: All unser individuelles Zurechtlegen und Planen muss seinen Lauf nehmen, bis es zu einem Ende kommt. All unsere eigene Brillanz und unser „Wissen, was besser ist“ muss enden – auch wenn wir absolut sicher sind, dass es so ist. Alles, was wir als getrennte Individuen denken und tun können, muss als für diese Herausforderung unzureichend bewiesen und erfahren werden. Und dann kann es aus unserem kollektiven Unbewussten empordringen: das kollektive Bewusstsein!

Und ich bin heute so beschwingt, wie ich gestern Abend extatisch war: Alles fällt an seinen Platz, die ökologische und soziale Krise, die Unmöglichkeit, unser gemeinsames Wollen zusammenzuführen oder wenigstens anzugleichen, unsere Evolution als Spezies … Es ist klar, was einige von uns tun müssen, um uns allen zu helfen bei der Transformation in die nächste Phase des menschlichen Lebens und der Zivilisation auf der Erde.

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Den Prozess, auf den ich anspiele, könnte man „Erwachen im kollektiven Bewusstsein“ nennen. Er hat eine wichtige Rolle gespielt in meiner Entwicklung von einem traditionellen (wenn auch unkonventionellen) Guru oder „spirituellem Lehrer“. Ich habe darüber vor einigen Jahren geschrieben, als ich damit experimentierte, um zu einer „authentischen Gemeinschaft“ zu gelangen. Da und dort, als wir durch die vierte Phase gegangen waren, hat es jemand ganz kurz und bündig gesagt: „Es scheint, als ob wir ein Körper sind mit vielen Köpfen und Armen und Beinen …“ Das kollektive Bewusstsein hatte uns in sich aufgenommen. Hatte uns nicht verschluckt, sondern jeder von uns war ein lebendiges, pulsierendes Mitglied von etwas Greifbarem geworden, das uns umarmte und transzendierte – etwas, dass jeder im Raum erlebte.

Nach dem, was ich seitdem gelernt habe, ist es unverkennbar, wenn es da ist – wenn Du dich noch fragst „Ist es das?“ kannst Du dir sicher sein, dass es das nicht ist. Du brauchst keine besondere Ausbildung, um es zu erkennen, es springt dir ins Gesicht, und Du spürst, fühlst und weißt es sofort, egal, was Du glaubst, wie viel Meditation und Philosophie du betrieben oder nicht betrieben hast – ja, es spielt es nichtmal eine Rolle, ob Du spirituell interessiert bist, oder nicht. Du magst hinterher anders darüber denken, du magst andere Schlüsse aus dem Erleben ziehen in dieses kollektive Bewusstsein eingebettet zu sein, aber die reine „Tatsache“ ist so unmissverständlich, wie am Morgen aufzuwachen und zu wissen, dass Du bist …

Wie viele andere bin ich überzeugt, dass wir uns in einem wesentlichen evolutionären Umbruch befinden und die ökologische Hölle, die wir gemeinsam auf diesem Planeten erzeugen, ist das Angesicht dieser Tatsache, die unmöglich länger ignoriert werden kann. Doch ein tieferer Aspekt dieser Wirklichkeit ist wahrscheinlich, dass in und durch die Menschheit eine Entwicklung hin zu kollektivem Bewusstsein möglich ist. Es gibt viele gute Gründe, so zu denken, hier will ich jedoch nur den evolutionären Druck unserer ökologischen Zwangslage nennen.

Die Ökologie unseres Planeten ist eine erstaunlich komplexe Angelegenheit und sie beinhaltet viele Stränge von Einflüssen, die dynamisch interagieren. Nicht nur das Netz des Lebens ist äußerst komplex, auch das Gewebe der menschlichen Politik ist es, und wenn wir noch einige andere Netze hinzunehmen, die damit interagieren, wird die Idee, dass eine beliebige Anzahl genialer Einzelpersonen dieser Herausforderung gewachsen sein könnte geradezu lachhaft komisch. Das Netz des Lebens ist außer Kontrolle, und der Einfluss des Menschen treibt es in Richtung ökologischer Hölle. Und nochmals: Es gibt es keinen Weg, es unter Kontrolle zu bringen. Aber, und hier ist meine persönliche Hoffnung nach dem Hochgefühl der letzten Nacht, die Evolution ist bereits dabei, eine Antwort zu formulieren – indem sie einige von uns selbstorganisierend in Testgelände für die Entstehung einer kollektiven Intelligenz verwandelt, die komplex genug sein könnte, die vor uns liegende Herausforderung zu meistern.

 

Die sieben Phasen

Ich werde diesen Beitrag damit beenden, anzudeuten, was ich bei den Prozessen, die ich unterstützend geleitet habe, bisher lernte. Der Prozess, der für die Entstehung des kollektiven Bewusstseins eindeutig förderlich ist, kann in sieben Phasen dargestellt werden:

  1. Die Erkenntnis, dass die „alten Mittel und Wege“ nicht funktionieren
    In der ersten Phase sind Menschen in der Regel freundlich und höflich zueinander. Diese Phase geht zu Ende, wenn allgemein verstanden wurde, dass aufgesetzte Freundlichkeit und zivilisierte Antworten nicht funktionieren und dass tiefere Authentizität eine Mindestanforderung auf dem Weg nach vorn ist.
  2. Chaos
    Menschen kämpfen authentisch darum, zu guten Ergebnissen zu kommen, wahrnehmend und erkennend, was „wirklich los ist“. Sie versuchen, die Dinge in Ordnung zu bringen. Allianzen werden geschmiedet, Leitungskräfte arbeiten mit großer Überzeugung, „so tun als ob“-Formen von vorgetäuschtem „kollektivem Bewusstsein“ werden getestet und scheitern. Alles, was in den Büchern steht und noch mehr wird versucht um die Situation zu flicken, zu reparieren oder zu heilen. Dennoch: es entsteht kein kollektives Bewusstsein.
    Diese Phase dauert in der Regel am längsten von allen Phasen, wird aber schließlich überwunden, wenn immer mehr Menschen damit aufhören, es „auf ihre Art“ realisieren zu wollen oder anderen dabei zu folgen und wenn sie bekennen, dass sie damit gescheitert sind die Dinge „unter Kontrolle“ zu bringen, oder das „kollektive Bewusstsein“ geschehen-machen zu wollen.
  3. Trauer, Gebrochenheit
    In dieser Phase herrscht oft ein Gefühl der völligen Niederlage; wir können nichts tun, damit „es“ geschieht. Manchmal weinen einige. Oft kehren Menschen zur zweiten Phase zurück und versuchen denjenigen zu helfen, die ihre Gebrochenheit und ihre Unfähigkeit, „es zu tun“ akzeptieren. Alles scheint düster zu sein, kein Licht, nirgendwo. Doch wenn genügend Leute ihre Ideen, Interpretationen, Theorien, Meinungen, was geschehen muss, loslassen und das „ich weiß nicht“, ihre Hilflosigkeit, zulassen, dann beginnt die nächste Phase.
  4. Stille, Wendepunkt
    Langsam wird die Trauer über Versagen, das Gefühl der Niederlage durch ein Gefühl des Friedens ersetzt, dem Frieden, der einhergeht mit der Akzeptanz, dass „die Dinge sind, wie sie sind“. Wenn immer mehr Menschen beginnen, dem einfachen Zusammensein in Frieden, diesem „stillen Zentrum‘, das wir alle teilen, zuzuhören … entsteht etwas, dass nach einer Weile von jedem klar wahrgenommen, gespürt und gefühlt wird, während es an Tiefe und Kraft gewinnt. Und dann ist es vollständig und unmissverständlich klar …
  5. Kollektives Bewusstsein wird entdeckt
    Ein Hochgefühl, bisweilen sogar Ekstase stellt sich ein: „Wir sind ein Körper und Geist mit vielen Köpfen.“ Ein Gefühl der Feier durchdringt den Raum. Wir wissen endlich, was es ist! Gespräche sind von erstaunlicher Tiefe und authentische Güte, alles, was früher eine Frage der Moral oder erlerntem Verhalten war, wird flüssig und natürlich.
  6. Living Field Zone – Was wollen WIR?
    Wenn das Kollektiv genug Zeit und Raum hat, um weiter über die Feier des verkörperten Bewusstseins und die Einheit hinauszugehen, kann es seinem kollektiven Wunsch nachspüren, dem was WIR wollen. Sehr komplexe Fragen werden als schöne Herausforderungen gesehen und Menschen finden sehr leicht ihre Rolle und ihre Ressourcen, um dem gemeinsamen Wunsch entsprechend zu handeln.
  7. Realisation
    In dieser Phase tritt die unmittelbare Wahrnehmung des kollektiven Bewusstseins in den Hintergrund und das, was man als Mitglied dieses Kollektivs beschlossen hat auszuüben, tritt in den Vordergrund.

 

Über den Autor

Avatar of Mushin J. Schilling

pragmatischer Mystiker, macht seit frühster Jugend spirituelle Erfahrungen; seit 1984 in äußerst lehrreichem, persönlichen Kontakt zu Michael Barnett; verbindet sich in seinen Events mit dem „lebendigen Feld“ jenseits aller Worte und nutzt vor allem den direkten Zugang zur Energiedimension, um es den Teilnehmern zu erleichtern, spirituelle Erfahrungen zu machen.

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