Warum weder das politische Weiter-So noch das Einsteigen in Katastrophen-Geschichten etwas bringen und statt dessen gesellschaftliches Engagement sinnvoll ist.

von Andrea Vetter

Eine junge Frau, fast noch ein Kind, spricht die Wahrheit aus, und Millionen Kinder, junge Männer und Frauen auf der ganzen Welt hören ihr zu und fordern, der Wahrheit Anerkennung zu zollen. Ältere Männer in verantwortlichen Positionen, die die Geschicke der Welt ändern könnten, hören nicht zu, machen weiter wie bisher oder beschimpfen die junge Frau mit unanständigen Worten. Was klingt wie eine Passage aus einem Roman, ist im vergangenen Jahr tatsächlich geschehen: Greta Thunberg hat flammend darauf hingewiesen, dass die ökologischen Krisen auf diesem Planeten, allen voran der Klimawandel, nicht im Rahmen des bisherigen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems gelöst werden können. Und es passiert: erschreckend wenig.

Die Bundesregierung hat ein sogenanntes Klimapaket geschnürt, das zur Eindämmung der Erderwärmung nichts Substantielles beitragen wird. Während etliche Politiker Greta Thunberg rhetorisch mit „wir müssen etwas tun“ halbherzig zustimmen, führt das keineswegs dazu, dass eine der in Landtagen oder im Bundestag vertretenen Parteien wenigstens ein nachvollziehbares Programm auflegen würde, wie aus dieser todbringenden Wirtschaftsweise auszusteigen wäre.

Todbringend, denn dass die Erderwärmung durch den menschengemachten CO2-Ausstoß hervorgebracht wird, darüber sind sich 99 Prozent von weltweit zehntausenden Klimawissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern mittlerweile einig. Und auch, dass es Menschen sind, die das größte Artenssterben seit dem Tod der Dinosaurier auf diesem Planeten zu verantworten haben. Das ist alles seit Jahrzehnten bekannt, das Mädchen, das die Wahrheit aussprach, hat uns nur daran erinnert.

Ist gesellschaftliches Engagement sinnvoll?

Viele Menschen fragen angesichts dieser Tatsachen: Ist es überhaupt sinnvoll, sich mit Politik auseinanderzusetzen und gesellschaftliches Engagement zu zeigen? Sollte ich wählen gehen, wenn es sowieso nichts ändert? Ist die einzig sinnvolle Handlungsoption, mich darauf vorzubereiten, wie ich künftig trotz Dürren, Stürmen, Hagel, Ernteausfällen, Überschwemmungen und Millionen von dadurch heimatlos gewordenen Menschen selbst noch überleben kann? So verständlich diese Fragen sind, so sehr zeigen sie, dass der oder die Fragende in einer Geschichte festhängt, die uns bei dem tiefgreifenden Wandel, der uns Menschen auf diesem Planeten zwangsläufig bevorsteht, nicht helfen wird. Denn wie wir die Welt begreifen, und welche Handlungsmöglichkeiten wir darin haben, das hängt im Wesentlichen davon ab, welche Geschichten wir uns über die Wirklichkeit erzählen.

Die weise Tiefenökologie-Lehrerin und Buddhistin Joanna Macy hilft Menschen seit vielen Jahrzehnten, zu erkennen, nach welchen Geschichten wir uns in diesen Zeiten ausrichten können. Sie spricht dabei von drei Geschichten, die im Wesentlichen menschlichen Handlungen heute zugrunde liegen. Die erste Geschichte ist die vom Weiter-So, die zweite Geschichte ist die von der globalen Katastrophe, die dritte Geschichte ist die vom großen Wandel und gesellschaftliches Engagement. Diese Geschichten können wir verstehen als verschiedene Antworten auf die Nachricht, dass alles Leben auf diesem Planeten in ernster Gefahr ist. Diese Geschichten folgen ganz ähnlichen Mustern wie den von der Ärztin und Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross beschriebenen Trauerphasen, nach denen ein einzelner Mensch beispielsweise auf eine Krebsdiagnose oder den Tod eines Angehörigen reagiert: Das Muster fängt an mit Leugnung, geht weiter mit Zorn, Verhandlung, Depression und führt schließlich zu Akzeptanz.

Gesellschaftliches Engagement oder Weiter-So

Was in den Zeitungen, im Fernsehen und den großen Internet-Medien als Zukunftsvorstellungen auftaucht, sind fast immer verschiedene Versionen eines Weiter-So statt gesellschaftliches Engagement. Eine beliebte Version ist: „Wir können dem Klimawandel mit mehr Technik begegnen. Wir werden bald Wundertechnik erfinden, die CO2 wieder in den Boden presst, und wir werden eine neue Energiequelle entwickeln, mit der wir uns ohne Emissionen und ohne Schadstoffe bei der Herstellung fortbewegen, wärmen und Strom erzeugen können. Schäden in der Atmosphäre reparieren wir mit groß angelegtem Geo-Engineering.“

Das ist eine bequeme Version für jetzt relativ wohlhabende Menschen, weil sie auf der Ebene der Gerechtigkeit gar nichts über Umverteilung sagt und die Krise des Planeten als im jetzigen Wirtschaftssystem technisch beherrschbares Problem hinstellt. Es ist eine Geschichte, die die Tiefe der Krise schlichtweg leugnet.

Eine zweite Version, die derzeit weltweit wieder an Beliebtheit gewinnt, geht so: „Große Probleme stehen uns bevor. Wir werden überrannt von anderen Menschen, die unseren Wohlstand stehlen wollen. Wir müssen uns einmauern und schützen. Ein tatkräftiger Anführer hilft uns dabei.“ Diese autoritäre Version ist ein verkleidetes Weiter-So. Diese Geschichte reagiert zwar vordergründig auf das Gefühl einer tiefen Krise, allerdings ist die Diagnose bezüglich des Ursprungs der Probleme völlig falsch. Das ist die Phase des Zorns, der aufbrechenden Emotionen. Die eigentliche Krise – die Erderwärmung, das Artensterben – werden verdrängt und geleugnet, statt dessen wird ein Sündenbock ausgemacht. Aus dieser Ecke „des Zorns“ kommen häufig auch die verbal heftigsten Angriffe auf Menschen wie Greta Thunberg, die die Wahrheit aussprechen. Oft werden sie von den Zornigen einfach als „Andere“ – im Falle von Greta Thunberg als Frau mit einer Behinderung – abgetan und ihre Botschaft allein damit diskreditiert.

Beide Geschichten des Weiter-So erfassen nicht den vollen Umfang der Veränderungen, die unsere industrialisierte und kolonialistische Wirtschafts- und Lebensweise hervorgerufen haben. Wenn wir den Rahmen der Debatte akzeptieren, den Menschen mit der Weiter- So-Geschichte setzen, können wir nicht auf Einsicht hoffen. Denn diese Menschen sind mit ihrem ganzen Sein, ihrer Karriere, ihrem Eigenheim, ihren Urlauben und generell ihrer Lebensweise so sehr in diese Geschichte verstrickt, dass es für sie aktuell (noch) zu schmerzhaft wäre, das Ausmaß des Wandels und der damit einhergehenden notwendigen Veränderungen (z. B. Konsumverzicht) für unser Leben zu begreifen. Stattdessen brauchen wir gesellschaftliches Engagement.

Die globale Katastrophe

Eine ganz andere Geschichte ist die der globalen Katastrophe. Sie wird von Menschen erzählt, die nicht mehr daran glauben, dass sich an der Erderwärmung noch etwas ändern lässt. Sie haben politische und auch kollektive Gestaltungskraft abgeschrieben und bereiten sich innerlich oder auch äußerlich (über das Horten von konservierten Nahrungsmitteln etc.) auf die größtmögliche Katastrophe vor. Diese Phase entspricht der Depression. Sie bleibt bis zu einem gewissen Grad auf einer tiefen Ebene auch im Weiter-So verhaftet, weil sie Rettung – wenn überhaupt – nur auf der individuellen Ebene denken kann. Die Möglichkeit, dass Menschen solidarisch miteinander sein könnten, taucht nicht auf, genau wie es uns im Alltag der kapitalistischen Megamaschine oft von Kindesbeinen an eingeimpft wird. Sowohl die Geschichten des Weiter-So als auch die der globalen Katastrophe hindern Menschen daran zu erkennen, was wir – ob als Weltgesellschaft, als Staatenverbund, als einzelnes Land, als Region, als Stadt oder Dorf, als Gruppe, als Haushalt oder auch als einzelner Mensch – wirklich tun können. Dafür ist es notwendig, eine neue Geschichte jenseits von Leugnung und Apokalypse zu finden, nämlich gesellschaftliches Engagement.

Der große Wandel

Diese Geschichte nenne ich mit Joanna Macys Worten den großen Wandel. Der große Wandel akzeptiert, dass wir vor unabsehbaren und unsteuerbaren Veränderungen stehen, die das momentane globale Wirtschaftssystem ablösen werden. Das westliche Gesellschaftsmodell zerfällt. In dieser Situation des chaotischen Übergangs ist nicht absehbar, welche Schritte, und seien sie noch so klein, zu welchen Auswirkungen führen – das lehrt uns die Chaostheorie. Das ist eine gute Nachricht, denn egal an welche Stelle das Leben mich gestellt hat, kann ich zu einem Wandel hin zu mehr Gerechtigkeit, Mitmenschlichkeit, Erdverbundenheit beitragen. Wenn ich ein junger Mensch bin, kann ich mich entscheiden, meine ganze Kraft und mein Tätigsein in den Dienst des Wandels zu stellen und auf eine „Karriere“ im absterbenden System bewusst zu verzichten – auch wenn das materielle Einschnitte bedeuten mag. Anstrengend wird das Leben sowieso, dann kann ich es auch gleich einer sinnvollen Sache widmen.

Wenn ich im mittleren Alter bin, vielleicht Verantwortung trage für Kinder und einen Kredit abzubezahlen habe, dann kann ich mich entscheiden, mit meinen Kindern liebevoll umzugehen und ihnen zu helfen, einen guten Platz in dieser sich verändernden Welt zu finden. Ich kann in meinem Vorgarten eine Blumenwiese anlegen statt einer Rasenfläche und auch meine Nachbarinnen davon überzeugen. Wenn ich schon älter bin, das Berufsleben hinter mir habe, dann kann ich die jungen Menschen unterstützen im Veränderungsprozess, offen und neugierig bleiben, wie es die „Omas for Future“ tun. Und wenn ich wohlhabend bin, kann ich einen Teil meiner finanziellen Ressourcen zur Verfügung stellen, um anderen zu ermöglichen, Kohlebagger zu stoppen oder einen Hof in solidarischer Landwirtschaft umzubauen, oder ich kann in die Kommunalpolitik gehen und unsinnige Baumaßnahmen verhindern, das ist gesellschaftliches Engagement.

Verantwortung annehmen

Bei all dem hilft es, keine Energie auf Hass zu vergeuden, nicht in den alten Rahmen des Weiter-So oder der Katastrophen-Geschichten einzusteigen, sondern hier und jetzt, dort, wo das Leben mich eben hingestellt hat, die Augen zu öffnen. Den Schmerz wirklich zu fühlen um die sinnlose Zerstörung von Landschaften, den Tod von Pflanzen und Tieren, die himmelschreiende Ungerechtigkeit, die so vielen Menschen tagtäglich auf dieser Erde widerfährt. Nicht zu leugnen, nicht wegzusehen, nicht in den Zynismus zu verschwinden. Gesellschaftliches Engagement heißt, die Verantwortung anzunehmen, die jeder Mensch auf dieser Erde mitträgt. Dann verschwindet die ohnmächtig machende Frage: Schaffen wir „es“ oder nicht? Alles wandelt sich ständig und alles macht einen Unterschied.

Aus der Perspektive des großen Wandels erscheinen die Fragen nach dem Sinn von Tagespolitik, von Wählengehen oder Überlebenstraining im Wald plötzlich in einem völlig anderen Licht. Aus einer systemischen Perspektive ist es verständlich, dass die Politikerinnen und Politiker, die in einer Weiter- So-Geschichte stecken, der Wahrheit mit Ignoranz oder Wut begegnen müssen. Das heißt nun aber nicht, dass es keinen Sinn ergeben würde, wählen zu gehen. Denn wer gewählt wird, macht zumindest kleine Unterschiede, die für einzelne Menschen die Welt bedeuten können: Je nachdem, wer die Regierung stellt, werden eben doch mehr oder weniger Menschen abgeschoben, werden Jugendarbeit und Kultur gefördert oder behindert, werden neue Straßen gebaut oder eher Bahnschienen.

Das alles ist nicht die große Wende, die wir brauchen. Aber in der Geschichte, in unserer Geschichte vom großen Wandel, machen diese kleinen Veränderungen, seien sie in der lokalen oder der Bundespolitik, einen kleinen Unterschied, sie sind ein Baustein der Veränderung. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Aber sie eignen sich nicht dafür, die Verantwortung für den Wandel an diese Menschen in ihren verstrickten Geschichten abzugeben. Wir sind der Wandel, gemeinsam, jeden Tag.

Auf den Weg machen für die große Transformation? Eineinhalb-tägiger Workshop „Keine Zeit für Karriere!? Die Welt braucht mich!“ Eine persönliche Spurensuche für ein anderes Leben und Arbeiten. Ein Workshop für Menschen, die persönliche Entfaltung und Sorge um die Welt zusammenbringen wollen – mit Andrea Vetter und André Vollrath. Das Seminar findet in Brandenburg in der Nähe von Fürstenwalde/Spree statt. 27./28. März., 25./26.September, 20./21. November. Info und Anm. unter: a.vollrath@posteo.de

Eine Antwort

  1. Ingrid
    IM (großen) Wandel

    Toller Artikel! Danke. Hilft sich in der aktuellen Situation zu orientieren, die ja doch die ein oder andere Existenzangst schürt. Es braucht viel Vertrauen, Zuversicht und Visionskraft um IM (großen) Wandel gelassen zu bleiben.

    Antworten

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