Sich wiederholende Leiderfahrungen als Selbstheilungsversuch der Seele

 

Heute ist es selbstverständlich, dass Kinder und Jugendliche sich Gewalt im TV, Kino oder Video ansehen. Das erweckt in mir den Eindruck, dass Gewalt einen Platz als Gefühlsersatz für tiefe, weiche, verletzliche und offene Gefühle eingenommen hat. Wenn ich mir dazu mein inneres TV und Video anschaue, sehe ich, dass Gewalt auch in mir einen Raum hat. Es war ein langer Weg für mich, zu lernen, mit gewalttätigen Mechanismen umzugehen. Es gelingt mir dadurch, dass ich der Gewalt in mir begegne und sie annehme.

Am schlimmsten ist die Ohnmacht, die Ohnmacht der „Opfer“ und „Aggressionsempfänger“. Die Ohnmachtserfahrung kann übermächtig und lähmend sein, besonders wenn da keiner ist, der einem glaubt. Oder wenn aus Desinteresse oder Hilflosigkeit dem Menschen die Wahrnehmung abgesprochen wird. Wenn er anfangen muss, mit dem Wahnsinn, der Angst und dem Schmerz zu leben.

Als das Thema Missbrauch von Kindern vor einigen Jahren zunehmende öffentliche Beachtung fand, war eine Tendenz zu beobachten, die häufig bei gesellschaftlichen Prozessen auftritt: Die Emotionen schwappten über, und es wurde das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Eine Überreaktion und Gegenbewegung ist aufgetreten: der Missbrauch mit dem Missbrauch. Es wurden Kindern häufig Suggestivfragen gestellt, und Aussagen in ihre Antworten hineininterpretiert, die manchmal zu tragischen Fehlinterpretationen führten, statt entsprechend sensibel mit dieser heiklen Thematik umzugehen.

Um die schon erwähnten „mörderischen“ Erlebnisse zu überleben, blendet die Seele diese Geschehnisse aus. Sie sind, besonders wenn sie in der frühen Kindheit geschehen oder beginnen, zu schockierend und gewaltig. Der Energie- und Nervenkörper kann die schwer belastenden Eindrücke energetisch kaum verkraften. Es ist, als ob die kleine Seele „abhaut“. Das Erlebte wird vom Bewusstsein und der Seele abgespalten. Das ist ein sehr komplexer Prozess.

 

Was passiert mit dem kleinen Menschen?

Der Mensch überlebt in der Regel. Wie wir schon früh in der Schule gelernt haben, ist der Mensch eines der anpassungsfähigsten Lebewesen auf diesem Planeten. Jedoch geschieht das meist nicht, ohne dass diese Erfahrungen tiefe Spuren hinterlassen. Nervöse Ticks, intensive Selbstgespräche und Dialoge, Einnässen, übersteigerte Angstgefühle u.a. Symptome sind oft deutlich zu erkennen. Das sind ganz sichtbare Anzeichen für tiefgreifende seelische Prozesse. Je nach dem, wie langanhaltend solche Erfahrungen sind und wie oft sie sich wiederholen, geht die Prägung und die Spaltung entsprechend tief. Das hat u.a. so fatale Folgen, dass sich andere Gewalterfahrungen anschließen können, die ebenfalls in Ohnmacht und z.T. auch ohne Abwehr ertragen werden.

Das ist etwas, was Außenstehende oft fehlinterpretieren oder nicht verstehen können: „Warum hat sich der Mensch denn nicht gewehrt?“ Aus dem einfachen Grund, weil er es nicht gelernt hat oder die Gegenwehr schon frühzeitig durch Ohnmachtserfahrungen aufgegeben hat. Eine neue Tragödie entsteht, wenn man die ungelösten und ungeklärten Erfahrungen sogar noch in die folgenden Generationen weiterträgt.

Diese Opfererfahrung kann sich leider sehr oft im Leben, auch im Erwachsenenalter, wiederholen. Warum? Schauen wir dafür auf die abgespaltene Erfahrung.

 

Was passiert mit der abgespaltenen Erfahrung?

Die abgespaltene Erfahrung steckt wie in einer Grauzone fest, im Niemandsland. Die Seele hat gelernt, bestimmte Dinge nicht zu fühlen, hat so etwas wie ein „taubes Gefühl“. Sie fühlt sich nicht ganz. Der abgespaltene Seelenanteil jedoch will zurück zum Ganzen. Die beiden Teile wollen und müssen zusammen kommen, damit sich der Mensch wieder „heil“ fühlen kann.

Dazu gibt es verschiedene Wege, z.B. sucht die abgespaltene Erfahrung meistens wiederholende Erlebnisse, um sich selbst zu erfühlen und zu erkennen. Das können, ganz praktisch, sich wiederholende Gewalterfahrungen sein, das kann sich in symbiotischen, abhängigen Beziehungen ausdrücken, sich in allgemeinen, selbstverletzenden oder schädigenden Erfahrungen wiederholen, oder in der „ewigen Suche“, sprich: „Sucht“, verlieren. Gleiches sucht Gleiches. Solange die abgespaltenen Erfahrungs-Anteile nicht zur Seele, zum Ganzen zurück kommen können, spuken sie im Frieden des Menschen herum und provozieren als ungelöste Anteile durch permanente Unterdrückung der Erinnerung körperliche Ungleichgewichte wie z.B. Krankheiten, Depressionen, Süchte oder lösen auf ganz stoische Weise einfach immer nur sich wiederholende Leid- und Schmerzerfahrungen aus.

Am wichtigsten finde ich, den Kontakt zu seinen Gefühlen wieder herzustellen und sich sachte auf die tiefer liegenden Gefühlsebenen einzulassen. Öfters mal inne zu halten und sich selbst zu hinterfragen: „Wie fühle ich mich jetzt?“ oder „Warum passiert mir immer das Gleiche?“ Es ist ein Weg nach Innen, nicht nach Außen, trotzdem kann es sehr hilfreich sein, wenn man Freunde oder „Gleichgesinnte“ hat, mit denen man sich austauschen kann. Es muss auch nicht gleich die Selbsterfahrungs-Brechstange sein, man sollte nicht wieder aus Gewohnheit auf die Gewaltschiene aufspringen, sich vor lauter Eifer überrennen und sich selbst Gewalt antun. In Kontakt mit seinen Gefühlen zu treten, verlangt auch, auf seine Gefühle zu achten. Es geht nicht nur darum, die abgespaltenen Seelenanteile wiederzufinden, sondern auch darum, sie anzunehmen und für sie zu sorgen.

 

Anmerkung:

Ich möchte diesen Artikel als Anregung und Ermutigung verstanden wissen. Es geht hier nicht darum zu stigmatisieren oder zu interpretieren oder zu behaupten, dass diese meine Erfahrungen Allgemeingültigkeit beanspruchen. Vielmehr möchte ich meine Gedanken zum Thema „Gewaltige Gefühle“ mit Euch teilen und damit für viele, viele einsame Anteile im Dunkeln ein kleines Licht bringen. Vielen Dank.

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Eine Antwort

  1. Michelle Anker
    Toller Einblick in das Seelenleben

    Das ist ein ganz toller Artikel, vielen Dank.

    Antworten

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