Man sieht nur mit dem Herzen gut

Als Redakteur bei SEIN bin ich – wie auch meine Kollegen – bei fast jedem Heft aufgefordert, mich mit dem jeweiligen Schwerpunktthema näher auseinanderzusetzen – schließlich soll das Heft ja interessante und anregende Beiträge enthalten. Diese Auseinandersetzung geschieht nicht immer bewusst. Manchmal hilft dann das Leben etwas nach. Über die Herausforderung „Gemeinschaft“.

Zufällig“ fiel diese Produktion mit einer Phase in meinem Leben zusammen, in der – zuerst kaum wahrnehmbar – die Angst Stück für Stück zurücktrat und sich im gleichen Maße Kraft, Energie, Selbstverständnis und eine zunehmende Klarheit über mich und die Welt einstellten. Diese Klarheit ist zuerst einmal etwas Wunderbares und voll pulsierender Energie. Sie entsteht dann, wenn wir in Etappen die Angst verlieren, uns so zu zeigen, wie wir sind. Die Angst, abgelehnt, verstoßen und letztlich vom Leben fallen gelassen zu werden. Durch die Integration dieser Angst trauen wir uns erstmals, unser Leben und, unsere Beziehungen so zu sehen, wie sie sind und unserer Wahrheit Ausdruck zu verleihen, zu uns zu stehen. Eine sehr unangenehme Erkenntnis war beispielsweise, dass meine Beziehungen zu anderen Menschen im Grunde nicht von echter Liebe zu den jeweiligen Personen getragen waren, sondern ein Weglaufen vor meiner inneren Einsamkeit waren, die ich nicht fühlen wollte.

Faule Kompromisse

Derartig faule Kompromisse begann das sich entfaltende Ich – vor allem in Gedanken – jetzt wie ein Sturm wegzublasen. Immer mehr fiel mir auf, wo ich im Leben Dinge getan oder unterlassen hatte, nur um gemocht zu werden. Die einzelnen Bereiche ploppten hoch wie kleine Springteufelchen und befreiten auch eine Menge an eingefrorener Energie. Zunehmend fühlte ich mich kraftvoller und Momente von Lebensfreude tauchten auf – etwas, das ich lange vermisst hatte.

Damit einher gingen aber – und das erkannte ich erst später – enorme Selbstgerechtigkeit, Härte und Überheblichkeit. Immer mehr kam ich zu der Überzeugung, dass ICH den totalen Durchblick habe – nicht nur in Bezug auf mich. Ich konnte auch die anderen in ihrem Verhalten klar sehen und legte sie in genau definierten Schubladen ab. Gedanken, wie ich diese Klarheit in Zukunft umsetzen wollte, kamen mir zuhauf. Freundschaft nur dann, wenn ich den anderen respektiere, das heißt, wenn er wirklich will, wenn er bereit ist zu gehen und kein Looser ist – alles andere langweilt mich. Beziehung nur mit einer Frau, die bereit ist zu echter Auseinandersetzung und Hingabe. Arbeit: Kein Problem, ich fühlte mich für jeden noch so anspruchsvollen Job gewappnet. Immer mehr spürte ich in mir eine unbändige Kraft, ein Gefühl von: Ich bin nicht mehr aufzuhalten.

Das Mega-Ich

Doch das Leben korrigiert derartige Extreme – glücklicherweise. Wiederum „zufällig“ traten gerade in dieser Ausgabe Konflikte in der Redaktion auf. Mit einer Kollegin ergaben sich bezüglich der Form eines Artikels Schwierigkeiten, die sich vor dem Wochenende nicht lösen ließen. Die Fronten waren total verhärtet und am Montag musste eine Lösung her. Immer wieder befasste ich mich am Wochenende mit dieser Situation und spielte verschiedene Lösungsmöglichkeiten durch. Die kürzeste war ein lapidarer Hinweis auf die Kompetenzen: „Schau einfach mal ins Impressum. Wer steht da unter Redaktion? Also.“ Friß oder stirb. Diesen Machtrausch begleiteten immer wieder unglaubliche Hochgefühle. Ja, ich war bereit zum Kampf. Wunderbarerweise gar nicht einmal aus einer unangenehmen Verspannung heraus, sondern mit Lust auf Auseinandersetzung. Wenn ich aufgrund der Auseinandersetzung gekündigt würde: Egal. Ich kriege überall einen Job. Immer wieder erkannte ich zwar auch den Krampf in meinem Denken, verstand, dass meine Kollegin mir nur meine eigene Härte und Kompromisslosigkeit gespiegelt hatte, aber auf meinem Mega-Ich-Trip wollte mir keine Lösung einfallen, die von Liebe getragen war. Ich konnte sie mir schlichtweg nicht vorstellen.
Doch das Leben regelt die Dinge schon auf seine Weise. Am Montag begegnete mir meine Kollegin mit einem Lächeln, und in einem darauffolgenden Gespräch kamen wir zu einer Einigung. Ich merkte, dass diese von mir überhaupt nicht gesehene Möglichkeit eigentlich viel schöner ist, als recht zu haben und sich durchzusetzen. Mir wurde klar, dass das rechthaberische Ich immer alleine bleibt – (recht) haben wollen zieht schließlich alle Energie zu diesem engen Ich, während Geben Kontakt und Weite schafft.

Herausforderung Gemeinschaft: Das Du fühlen

Gemeinschaft, das verstand ich auf einmal auf sehr greifbare Weise, ist nur möglich, wenn wir dem Du Respekt entgegenbringen, den anderen wirklich wahrnehmen. Ich verstand, dass die Klarheit des Ichs zwar durchaus eine Ebene der Wahrheit ist, aber eben nur die Oberfläche, das, was der andere mir auf der reinen Verhaltensebene präsentiert. Doch wie es schon im kleinen Prinzen heißt: „Man sieht nur mit dem Herzen gut.“ Die Liebe dringt durch die Oberfläche und fühlt den anderen auf einer viel tieferen Ebene. Wenn ich sehr offen und berührbar bin, dann kann ich beispielsweise hinter einer aggressiven Haltung den Schmerz wahrnehmen, den der andere nicht wahrnimmt und verdrängt hat. Mitgefühl heißt, Kontakt zu dieser Ebene zu bekommen. Das Du als einen Menschen wie mich selbst zu sehen, der auf seiner Lebensreise ist und sich im Grunde nur nach Liebe, Glück und Geborgenheit sehnt. Der möglicherweise ein schweres Schicksal zu tragen hat, das ich nicht kenne. Der gerade in einer schwierigen Lebenssituation steckt. Der vielleicht Angst vor Einsamkeit hat. Der in seiner Not und Sehnsucht gesehen und verstanden werden will. Gemeinschaft zu versuchen heißt, dem Du immer mehr Platz im eigenen Leben einzuräumen. Mich kümmern. Achtsamkeit ins Leben bringen. Tragen, wo ich schon kann. Die eigene Verletztheit Stück für Stück zu überwinden und mich immer mehr für das Ganze zu öffnen. Dabei auch das Scheitern an diesem Anspruch zu akzeptieren, weil da eben noch ein „ICH zuerst“ ist. Aber es immer wieder zu versuchen.

Über den Autor

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Innenweltreisender, Redakteur der SEIN.

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