Ein Erfahrungsbericht von den Helfereinsätzen in den Hochwasser-Gebieten, von Dankbarkeit, Erfüllung und dem Gefühl von Einssein und Gemeinschaft.

 

Sehnsucht nach Verbundenheit

Es ist sehr heiß. Der Sand und die brennende Sonne lassen einen fast glauben, man wäre am Meer. Der Mann neben mir stützt sich auf seine Schaufel, wischt sich den Schweiß aus der Stirn und lässt seinen Blick über die Kiesgrube schweifen. Er ist heute morgen um sechs Uhr aufgestanden und aus Berlin angereist, gut 250 Kilometer, jetzt schaufelt er seit knapp acht Stunden Sand in kleine Jutesäcke. Seine Nachbarin kommt aus Braunschweig, eine andere Helferin aus Hamburg. Es beeindruckt mich, dass Menschen tatsächlich Hunderte Kilometer fahren, um hier zu helfen. „Danke.“

Die Arbeit ist hart, aber die Stimmung ist gut. Es wird gescherzt, gelacht, der Umgang ist herzlich und leicht. Es passiert etwas hier, etwas, das mich sehr tief berührt. Ein Gefühl von Zusammenhalt, von Einssein, Gleichheit und Verbundenheit. Es fühlt sich echt an, richtig und wahr. Hier geht eine tiefe menschliche Sehnsucht in Erfüllung, eine Sehnsucht nach Gemeinschaft und Einheit, nach Begegnung, die nichts will, außer zusammen für das Ganze da zu sein. Alte und junge Menschen, starke und schwache, Männer und Frauen, erwachsene und Kinder, Punks und Bankangestellte, heute hier spielt das alles keine Rolle. Es geht um die nächste Schaufel, den nächsten Sandsack, um das Zusammensein, um das gemeinsame Arbeiten für andere Menschen, für die Gemeinschaft, für die Familie der Menschen.

Während ich einen Sandsack zubinde, trifft mein Blick die Augen eines Nachbarn. Wir lächeln. Ich spüre Dankbarkeit. Dankbarkeit, dass ich das erleben darf. Über mir auf einem LKW-Anhänger scherzen ein Mann und eine Frau, sie lachen, lassen für einen Moment die Schaufel ruhen und sehen sich in die Augen. „Weißt du, wenn ich irgendwann wieder sauber bin, dann muss ich dich unbedingt mal drücken, da habe ich gerade total Bock drauf.“ Ein Lachen huscht durch die Runde, dann geht es weiter.

 

Geschenke

Meine Freundin kommt zu mir, Marie aus Hamburg wird heute bei uns übernachten, erzählt sie. Viele Menschen sind angereist, ohne zu wissen, wo sie schlafen werden. Das ist hier kein Problem. Die Kiesgrube mit zeitweise über 1000 Helfern hat einen Grad an Selbstorganisation erreicht, der zutiefst inspirierend ist.

Ein paar Jugendliche fahren mit einem Mini-Trecker um die Kiesberge und verteilen gekühlte Getränke und Sonnencreme. „Wir haben gerade einen ganzen Kühl-LKW voll Getränke gespendet bekommen. Er steht beim Esszelt – bedient euch einfach!“

Der LKW kommt von einem ansässigen Supermarkt. Ein ganzer Truck voller Getränke. „Bedient euch!“ Ich bin nicht der Einzige, dem bei diesen Worten das Herz aufgeht. Es sind so viele Kleinigkeiten und Gesten, die mir immer wieder fast die Tränen in die Augen bringen. Wie sehr ich all das in unserer Welt vermisse, wie natürlich es hier auf einmal ist. Zum Beispiel das Esszelt. Ohne irgendeine Planung ähnelt es mehr einem Festbankett als einer improvisierten Notverpflegung. Dorfbewohner bringen seit einer Woche Essen in rauen Mengen vorbei. Kuchen, Salate, geschmierte Brote, Suppen, Nudelgerichte, Obst – es ist alles da, es wurde alles einfach hergeschenkt.

Über eine Million Sandsäcke wurden schon gefüllt, erzählt der Einsatzleiter der Feuerwehr. Eine Million. Auch der Bürgermeister und die Feuerwehr-Helfer sind beeindruckt. Immer wieder bedanken sie sich sichtlich gerührt für die überwältigende Unterstützung. „Ohne euch hätten wir das nicht geschafft. Danke, dass ihr da seid.“ Danke, immer wieder Danke.

Es gib auch traurige Nachrichten. In einer anderen Füllstation wurde ein Mann von einem Radlader überfahren und getötet. Immer mehr Dörfer werden evakuiert, Menschen bangen um alles, was sie in ihrem Leben aufgebaut haben. Es ist kein fröhlicher Anlass, der uns hier zusammenbringt.

 

Einssein und Dankbarkeit

Aber auf einer anderen Ebene eben doch: Es ist die Liebe, die alle hierher geführt hat, das Bedürfnis zu helfen, das Bedürfnis nach Gemeinschaft. Egal, wenn ich ansehe, ich sehe ein Leuchten, ein Licht von Glück, von tiefer Befriedigung. Mein Gott, es könnte so einfach sein. Die Einheit ist hier, sie ist immer da. Ich würde mit meinem Nachbarn wahrscheinlich nicht sprechen, wenn ich ihn auf der Straße treffe, hier bin ich bereit, ihm mein Haus, mein Essen, mein Auto zu überlassen. Warum machen wir es uns nur so schwierig? Es könnte so einfach sein. Nein: Es ist einfach und das ist hier für alle offensichtlich. Mir ist klarer als jemals zuvor: Wenn wir als Menschheit jemals Frieden erreichen, dann so. Nicht durch ein Konzept, nicht durch ein System, sondern indem wir einfach unser Herz öffnen und erkennen, dass die Einheit schon immer da war, dass sie die eigentlich wirkliche Wahrheit ist.

Auch das Ego meldet sich bei einigen. Es wird geprahlt, wer länger und mehr gearbeitet hat. Ich höre ein paar arbeiten so verbissen, dass sie schließlich zusammenbrechen. Aber das sind Einzelfälle, welche die Magie dieser Momente nicht trüben kann. Manchmal glaube ich mich in einem Traum, aber dann passieren Dinge, die mir zeigen, dass der Zauber echt ist. Mitten in der Arbeit, ändert sich plötzlich die Energie; wie von einer unsichtbaren Hand dirigiert, treten alle lautlos und gleichzeitig von ihrer Arbeit zurück, stützen sich auf die Schaufeln und beginnen zu plaudern  und zu trinken. Alle. Gleichzeitig. Es fällt nur wenigen auf, ein unglaublicher Moment. Ich tausche Blicke mit einem Mann neben mir, der sich ebenfalls verblüfft umsieht „Wow!“ Ich klettere mit meiner Freundin auf einen Sandberg, von dem aus wir die verteilten Arbeitsstationen sehen können. Tatsächlich die ganze Grube steht still, alle machen Pause, Hunderte Menschen, ohne ein Zeichen, ohne ein Wort, einfach weil sie den Rhythmus in unserem kollektiven Feld gefühlt haben. Ehrfurcht ergreift mich. Und ebenso selbstverständlich beginnen nach ein paar Minuten alle synchron wieder zu arbeiten. Pure Magie.

 

Die Einheit ist immer da

Ich muss an den Brief denken, denn ein junger Protestler aus der Türkei geschrieben hat:

„Millionen haben seit über 36 Stunden nicht geschlafen, wir sind alle aber wirklich alle auf der Straße, Großstädte, Kleinstädte, Stadtviertel sind voll mit Menschen, die ganz genau wissen, wie man mit ihnen verfahren wird. Junge und alte Menschen, Professoren, Schauspieler, Schriftsteller, Bauarbeiter wissen, dass sie blutig geprügelt, und mit Tränengas bombardiert werden. Dies hält aber niemanden davon ab, den anderen, die in Not sind beizustehen. Wir haben das nicht geplant, haben uns vorher nicht organisiert, wir saßen in unseren Wohnzimmern und sahen im Halk TV, lassen auf Twitter, was mit den friedlichen Demonstranten gemacht wurde. Keiner von uns hat lange überlegt, wir zogen unsere Schuhe an eilten zu Hilfe. Nicht mal in meiner Studentenzeit habe ich je an einer Demonstration teilgenommen, aber dies ist so selbstverständlich, das man nicht mehr an sich oder seine Sicherheit denkt. Es ist sehr merkwürdig, so etwas zu erleben. ALLE SIND EINS. Ich und viele Millionen dürfen dies hier und jetzt erleben, und ich sage euch es fühlt sich einfach wunderbar an. Die MACHT des EINSSEINS. Und es ist so einfach, und es geht so schnell. Erst wenn es erwacht ist, weiß man eigentlich, dass diese Kraft immer da war, wir sie aber vergessen haben.“

Ist es Zufall, dass ein Mensch auf einer Demonstration der Türkei exakt das Gleiche erlebt wie ich hier in dieser Kiesgrube? Ist das nicht unglaublich? Was passiert hier gerade auf der Welt? Woher dieses plötzliche Erkennen in so vielen Menschen? Meine Partnerin erzählt, sie sieht das Wasser als die Energie, die jetzt in die Welt fließt, über alle Grenzen und Strukturen hinweg. Und wir versuchen, unsere Staudämme zu bauen, unsere kleine Welt der Egos zu schützen, aber was der Mensch mit seinem Verstand erschaffen hat, ist zu klein für diese Macht. In vielen Gesprächen, die wir führen, berichten die Menschen dasselbe: dieses tiefe Gefühl von Einheit und Schönheit. Das ist der wahre Zweck der Katastrophen sagen manche, den Menschen zu zwingen, zusammenzurücken, die Grenzen zu vergessen, die wir zwischen uns gezogen haben. Ein Spiegel, der uns zeigt, was wir als Menschheit sein könnten: eine Familie. Warum nur brauchen wir Erdbeben, Fluten und Stürme, um unsere Menschlichkeit wieder zu entdecken?

 

Familie

Einige kommen von einem Aussichtspunkt zurück. Es ist merkwürdig sagen sie, es ist so wunderschön, so überwältigend schön. Das Wasser, die riesigen überschwemmten Flächen, diese gewaltige Kraft. Da ist eine Ehrfurcht, die einem das Herz aufgehen lässt, obwohl man weiß, was es für viele Menschen bedeutet, welche Tragödien sich abspielen. Als wäre da noch etwas anderes, etwas Liebevolles und Schönes am Werk. Sind jetzt alle völlig abgehoben? Wenn, dann geht es nicht nur mir so, selbst Menschen, die persönlich betroffen sind, teilen diese Gefühle, berichten von einer tiefen Dankbarkeit und wie sehr sie das alles beeindruckt. Dass man nicht allein gelassen ist. Dass unbekannte Menschen Tag und Nacht arbeiten, um ihnen zu helfen. Dankbarkeit, das ist so ein schönes Gefühl.

Wir fahren auf dem Weg nachhause am See vorbei, um zu baden. Ich bin glücklich. Wie sich später herausstellt, bleibt unser Gast aus Hamburg noch länger bei uns. Wir verstehen uns, es fühlt sich an wie Familie, wir wollen zusammen sein. Ach: Es ist Familie! Und die ganze Zeit diese tiefe Dankbarkeit. Am Lagerfeuer erzählt sie von ihrer Erfahrung auf dem Jakobsweg, den Begegnungen mit anderen Pilgern, die so anders sind, als die Begegnungen im Alltag. Hier sei es genauso, plötzlich sind alle gleich, plötzlich ist alles offen, plötzlich geht es nur um das Schenken und den Dank. Warum ist es nicht immer so? Warum diese Spielchen? Wir alle sind immer Pilger. Pilger auf dem gemeinsamen Weg nachhause. Wir sind immer Nachbarn, Mitmenschen, Familie. Ich hoffe, wir brauchen bald keine Flut mehr, um uns daran zu erinnern. Es ist so ein einfaches Gefühl.

 

 

Über den Autor

Avatar of David Rotter

schreibt für Sein.de und seinen eigenen Blog den-weg-gehen.de. Er wohnt mit seiner Partnerin und seinen zwei Töchtern im Wendland und arbeitet als freier Autor und Coach.

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7 Responses

  1. Simone Shana

    Berührend und es macht Hoffnung… Entdecke das Schöne im Hässlichen… unsere Welt ist nicht verloren – alle Menschen und das Gefühl der Verbundenheit bewirken WUNDER.
    DANKE.

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  2. Frank B. Leder

    Wenn man mit Offenheit und Mitgefühl auf die Welt schaut, sieht man dieses Wunderbare, das in diesem Artikel beschrieben wird, überall am Wirken. Die Schilderungen sind wertvoll, machen Mut. Helfen macht Freude, bringt uns alle weiter. Ich werde den Artikel empfehle.

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  3. muldewiesen

    Traurig das es erst eine Katastrophe braucht damit die Menschen ihre Verbundenheit spüren. Wer führt das weiter, wenn alle ihr Alltagsleben wieder aufnehmen?
    Ein schöner Artikel!

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  4. Heinz Pütter

    Es ist schön zu sehen wie die Menschen sich alle helfen, leider muss es erst zu einer Katastrophe kommen um uns wieder zu vereinen. Wie in der Natur und im menschlichen Körper, hängt alles mit allem zusammen, ist alles mit allem verbunden oder vernetzt. Alle sind aufeinander angewiesen, denn ohne den oder die anderen geht gar nichts. Nur wer dies versteht, sieht die Ursachen, nicht nur ihre Symptome und kann auch Lösungen finden.

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  5. Eso-Policier

    Dieses Hochwasser ist z. T. auf die Umweltverschmutzung und Naturzerstörung zurückzuführen. Wir brauchen eine nicht-grüne Ökopolitik. Mehr dazu unter
    www.esopolice.wordpress.com

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