Die vier perinatalen Matrizen nach Stanislav Grof.
Die Geburt ist mehr als ein einmaliges Ereignis: Sie ist als individuelle Erfahrung die Grundmatrix all unserer weiteren Erfahrungen. Was wir während der Geburt erlebt haben, prägt unsere Wahrnehmung von uns selbst und der Welt. Verstehen wir diese Muster, können wir sie transzendieren und uns aus ihrem „Klammergriff“ befreien.

Von Klaus John

 

Als überzeugter freudscher Psychoanalytiker versuchte Stanislav Grof in den 60er-Jahren an der Karls-Universität in Prag, die Psychoanalyse Sigmund Freuds durch Verwendung von LSD zu intensivieren. Patienten konnten nämlich ihre Symptome zwar theoretisch nach Freud erklären, machten mit der Methode der freien Assoziation aber nur unzureichende therapeutische Fortschritte. Anfangs setzte Grof LSD in geringen Dosierungen ein, um die Assoziation zu verstärken, aber die Patienten machten Erfahrungen, die nicht ins freudianische Konzept passten und als Widerstand betrachtet wurden.

Versuche, diese Widerstände durch alles überwältigende hohe Dosierungen LSD zu überwinden, führten zu noch mehr heilsamen Erfahrungen, die nach bisheriger Mainstream-Psychologie aber eher pathologisiert wurden. Dazu gehörten schamanische, mystische Einheitserlebnisse, Erfahrungen von Tod und Wiedergeburt, spirituelle Öffnungen und Identifikationen mit allen möglichen Prozessen, die Raum und Zeit überschreiten können.

Da diese Inhalte oft jenseits der Biographie liegen, wurde der Begriff „transpersonal“ geprägt. Wichtig war auch die Erkenntnis, dass es unzureichend ist, das Modell der menschlichen Psyche nur von krankhaften Erscheinungen abzuleiten, sondern dass auch positive Erfahrungen selbstverwirklichter Menschen einzubeziehen sind.

Angesichts des überwältigenden Materials aus über 6000 LSD-Erfahrungen, das nun gar nicht mehr in die Logik der Psychoanalyse passte, schuf Grof seine „Topographie des Unbewussten“. Diese „Landkarte der Psyche“ ist für jede Art der Selbsterfahrung oder Psychotherapie gültig. Das Grundbedürfnis nach Spiritualität ist aus dieser Sicht essentiell und sogar stärker als der Sexualtrieb. Und: Es gibt in jedem Menschen eine innere Weisheit, die mit gut begleiteter Therapie oder Selbsterfahrung zu einem Prozess der Heilung und Ganzheit führt. Grof wählte dafür die Bezeichnung „holotrop“ von griechisch „sich auf eine Ganzheit hin bewegen“.

Reise zur Ganzheit

Zu Beginn der „Reise zur Ganzheit“ hat man mit der „sensorischen Barriere“ zu tun, mit fantastischen Farben, Formen, Lauten und mehr, die sich zu ästhetischen fantastischen Räumen verdichten. Künstler und Hedonisten mögen diesen Bereich mit der erlebbaren gesteigerten Sinneswahrnehmung zum Ziel haben, aber für Grof sind erst die dahinter liegende biographische Ebene und darüber hinaus der transpersonale Bereich psychotherapeutisch interessant.

Im individuellen Erleben werden einzelne Episoden aus diesen Bereichen in „Systemen gedrängter Erfahrung“ (engl.: Condensed Experience Systems), COEX-Systemen, erlebt. Gedrängt bedeutet in diesem Zusammenhang, dass sich eine Gruppe ähnlicher Erfahrungen im Gehirn um eine zentrale verwandte Grunderfahrung organisiert.

Die einzelnen Erfahrungen eines COEX-Systems müssen keine logische lineare Verbindung haben, sondern sind auf analoge bildhafte Weise emotional und symptomatisch verbunden. Wie ein „roter Faden“ durchläuft sie ein Grundgefühl, das in einer der vier grundlegenden perinatalen Matrizen (engl.: Basic perinatal Matrix = BPM 1-4) gründet. Man kann sich diese verdichteten Erlebnissysteme auch wie fraktale Muster vorstellen. Jedes Element ist dann „selbstähnlich“, wie auch ein einzelnes Blättchen eines Farnblattes ähnlich dem ganzen Farnblatt aussieht. Die BPM wäre dann die Urformel des fraktalen Musters bzw. das Grundgefühl des COEX-Systems.

Die vier Matrizen nach Stanislav Grof – Himmel und Hölle

Die vier Matrizen sind von klar abgrenzbaren Bereichen des biologischen Geburtsprozesses abgeleitet.

BPM 1 ist der ozeanische Bereich, in dem Mutter und Fötus eine Einheit bilden. Es ist wie im Paradies, im Garten Eden, Schlaraffenland oder eben eins mit der Urmutter Erde.

BPM 2 bedeutet Vertreibung aus diesem Paradies durch die eintretenden Wehen. Periodisch wird es enger, das Fruchtwasser wird vielleicht schlecht, man fühlt sich vergiftet, in der Hölle, als Opfer von Intrigen, depressiv, aussichtslos und sinnlos. Dieses ist in der Begleitung holotroper Erfahrung der schwierigste Bereich, da in diesem Zustand alles nach außen projiziert wird. Schuld an der empfundenen Misere sei alles andere – nur nicht man selbst. Das ganze Leben erscheint als ewiges sinnloses Leiden ohne Ausweg. Der Muttermund ist noch geschlossen, während der Wehendruck von allen Seiten immer stärker zunimmt.

Farnblatt: Paradebeispiel für ein fraktales Muster

Farnblatt: Paradebeispiel für ein fraktales Muster

Die BPM 3 beginnt mit der Öffnung des Muttermundes und der Austreibungsphase.
Hier zeigt sich nun ein Weg zum Licht, eine Lösung, auf die man energisch zustrebt.
Vielleicht erfährt man große Lust, Bewegungsdrang und vulkanische Ekstase. Vielleicht erlebt man Sequenzen von Kampf und Aggression, Szenen mit hartem Sex, Missbrauch oder skatologische Elemente (Szenen, in denen Exkremente eine Rolle spielen). Die muskuläre Körperspannung kann extrem werden. Es kann zu Erstickungsgefühlen und extremer Überlebensangst kommen, als wenn die Welt unterginge und man mit dem Bösen ränge, um ans Licht zu gelangen. Auf dem Höhepunkt dieser Erfahrung kommt der Kopf mit den Presswehen heraus und der Druck lässt plötzlich nach.

Dies ist der Übergang zur BPM 4.
Hier kommt es zu Erfahrungen von Tod & Wiedergeburt oder Ego-Tod. Wie in einer schamanischen Einweihungserfahrung stirbt das alte Ego als Summierung unpassender Rollenspiele und setzt sich danach wieder neu und harmonischer zusammen.
Wo gerade noch alles auf einen Punkt am Ende des Tunnels ausgerichtet war, ist man plötzlich frei im Universum. Vielleicht sieht man überall Augen auf sich schauen, empfindet Kontakt zu einer kosmischen Weisheit, vielleicht Engeln, Gott als Kraft hinter dem Licht. Die Welt wird als Hologramm empfunden, wo sich in jedem Teil das Ganze widerspiegelt, Innen wie Außen – Oben wie Unten. Alles Geschehen kann als kosmischer Tanz erlebt werden.

Unterschiedliches Erleben der vier Matrizen

Beachtlich ist, dass das Erleben in diesen vier Matrizen untereinander inkompatibel ist. Je nachdem, in welcher Matrix man sich gerade befindet, erlebt man die Gegebenheiten völlig unterschiedlich. Fühlt sich jemand in der ersten Matrix – im Geburtskanal wie im realen Leben – völlig paradiesisch aufgehoben in „Gottes Hand“, leidet derjenige in der zweiten Matrix in gleicher äußerer Situation vielleicht unter Isolation, Depression und absoluter Sinnlosigkeit. Jemand in der dritten Matrix wird dagegen für beide Wahrnehmungen nicht viel übrig haben, sondern zielorientiert kämpfen, um die Situation zu verbessern, was dem Ersten unnötig und dem Zweiten als sinnlos erscheint. In der vierten Matrix wiederum gibt es unendliche Möglichkeiten und das Gefühl von Freiheit.

Übergänge zwischen den Matrizen können kritisch sein. Das „Hin und Her“ zwischen zweiter und dritter Matrix, wenn der Kopf des Fetus von den Wehen in den Geburtskanal gepresst wird, aber wieder zurückrutscht, weil die Kraft noch nicht stark genug ist, kann zum Beispiel die Wurzel für Zwangsneurosen sein. Zwischen dritter und vierter Matrix hat man es oft mit „Ego-Tod“ und Angst vor Kontrollverlust zu tun. Prinzipiell kann in jedem Bereich um die Geburt herum etwas Traumatisches passiert sein, was das weitere Erleben prägt. Diese Prägungen gilt es aufzulösen.

Die Matrizen sind nicht nur der gemeinsame Nenner der COEX-Systeme im Rückblick auf bisherige Erfahrungen, sondern steuern genauso auch zukünftige. Hat man zum Beispiel entdeckt, dass eine Vorliebe für Extremsport – wie Raserei mit dem Motorrad – ihre Wurzel in der dritten Matrix hat, erlebt man seinen „Durchbruch“ vielleicht lieber auf sichere Weise mit einem Ego-Tod-Erlebnis beim Holotropen Atmen als mit einem möglicherweise tödlichen Unfall auf der Straße. Oder man drückt die Sinnlosigkeit und Absurdität der zweiten Matrix in Selbsterfahrung aus, damit sie nicht immerzu nach außen projiziert werden muss. Man könnte auch sagen, dass man durch innere Arbeit sein Karma verbrennt.

Geburtsmuster transzendieren

Will man also seine eigene Programmierung erkennen und ändern, so hilft die Topographie des Unbewussten, eigene Erfahrungsmuster zu erkennen und zu transzendieren. Hilfreich dabei ist die eigene innere Heilungsintelligenz, der „Innere Heiler“ oder anders gesagt, die „Selbstregulation von Körper und Psyche“. Es scheint eine innere Instanz zu geben, die unerledigte Themen des Unterbewussten immer wieder im Leben als Bühne des inneren Dramas inszeniert, damit wir die Lektion lernen – und damit das Trauma heilen.

Hat man zum Beispiel in der BPM 2 eine Traumatisierung durch zu lange dauernde Wehen erlitten, wird man das damit verbundene Gefühl von Sinnlosigkeit, Verlassensein, Depression und Ausweglosigkeit im Leben immer wieder neu inszenieren.

Die perinatalen Matrizen (BPM) (von links nach rechts): ozeanisches Wohlgefühl in BPM 1, Ende des paradiesischen Gefühls durch Eintreten der Wehen in BPM 2, ein Mix von Kampf, Lust, Ekstase und Aggression in BPM 3 und Austritt aus dem Geburtskanal und Befreiung in BPM 4.

Die perinatalen Matrizen (BPM) (von links nach rechts): ozeanisches Wohlgefühl in BPM 1, Ende des paradiesischen Gefühls durch Eintreten
der Wehen in BPM 2, ein Mix von Kampf, Lust, Ekstase und Aggression in BPM 3 und Austritt aus dem Geburtskanal und Befreiung in BPM 4.

Hat man in der BPM 3 extreme Spannung durch die Presswehen erlebt und ist vielleicht sogar vor Schmerz oder Sauerstoffmangel ohnmächtig geworden, hat man wichtige Elemente der Geburt gar nicht erlebt. Im Leben wird man dann vielleicht immer wieder in Stress-Situationen mit Kopfschmerz und Kontrollverlust reagieren. Vielleicht sucht man sich auch immer wieder gefahrvolle Situationen, entwickelt eine Passion für Extremsport und aggressive Auseinandersetzung und entdeckt dann auf seiner holotropen Reise die Wurzel dessen im Geburtsprozess.

Projektion ungelöster Geburtserfahrung verleiht aber nicht nur der individuellen Existenz Gestalt, sondern auch der kollektiven. Der Umgang mit unseren Mitmenschen, Tieren und Pflanzen auf diesem Planeten ist von unerledigten Elementen der menschlichen Psyche wie Gier, Neid und Hass geprägt.

Es ist zu hoffen, dass immer mehr Menschen eine eigene innere Transformation erfahren, um dies zu ändern. Denn Selbsterfahrung ist auch „Arbeit am morphogenetischen Feld“ nach Fritjof Capra. Lernerfahrungen des Individuums kommen damit auch dem Kollektiv zugute. Auch der Austausch über soziale Medien könnte zu einer gesunden Welt und einem Paradigmenwechsel beitragen. Der „Schatten“ nach Carl Gustav Jung zeigt sich in Form von Terror und Krieg als Projektion perinataler Energie in der Welt. In der Selbsterfahrung als Ego-Tod verarbeitet muss er nicht nach außen getragen werden und unserer Welt Zerstörung bringen, sondern führt im besten Falle zu einer spirituellen Öffnung. (Mehr dazu in einem Artikel über die globale Krise)

Holotropes Atmen: die Befreiung

Mit seiner 2014 verstorbenen Frau Christina entwickelte Stanislav Grof das Holotrope Atmen, das völlig ohne psychedelische Substanzen auskommt. Schon in der LSD-Therapie entdeckte Grof, dass eine Verstärkung des Atems unterdrückte Emotionen und körperliche Spannungsmuster aktiviert. Durch Einsatz von unterstützender Musik und Körperarbeit können sich diese lösen und zur Heilung führen.

Auch bildhafter Ausdruck der Erfahrung beim „Mandala-Malen“ und eine Rederunde, in der man sich „freisprechen“ und „lossagen“ kann, ohne durch Interpretationen eingeengt zu werden, tragen zur Integration der Erfahrung bei.

Oftmals machen Menschen dabei die spirituelle Erfahrung eines Eingebundenseins in ein größeres Ganzes, was den etablierten Religionen oft fehlt. Menschen, die den holotropen Prozess erfolgreich vollendet haben, erscheinen darum wie Mitglieder einer neuen Spezies. Sie fühlen sich eher als planetare Bürger statt als Mitglieder einer Nation. Sie befürworten eine globale Gesetzgebung für den Schutz des Lebens und der Umwelt und lehnen Aggression als Problemlösung ab. Sie haben Ökologie direkt auf zellulärer Ebene als Einheit mit der Natur oder anderen Spezies erfahren. Sie entwickeln Mitgefühl und Toleranz und sehen Unterschiede der Geschlechter oder kulturelle, ethnische oder politische Grenzen eher als interessant und anregend statt als Motiv zum Kampf.

Aber auch ohne gleich die große Welt verändern zu wollen, erfahren Menschen beim Holotropen Atmen Lösung von Stress und Verspannungen sowie von psychosomatischen Blockaden. Oft wird es möglich, sich von/aus Sucht und Abhängigkeit zu lösen. Manchmal zeigen sich auch unvollständig verarbeitete psychedelische Erfahrungen, die dann gut begleitet zum Abschluss gebracht werden können. Letztlich verbessern sich Selbstakzeptanz, Kreativität und Lebensfreude.

 

Workshops Holotropes Atmen:
21.-23.10.2016
25.-27.11.2016
(beide in Chemnitz)
14.-16.10.2016
(in Hamburg)

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