Ob ihr Blick in den Spiegel ein Gesicht von 18 oder 78 Jahren zeigt – für die Berliner spirituelle Lehrerin Mariananda ist das letztlich kein Unterschied, denn in ihre Wahrnehmung mischt sich kein beurteilendes Denken mehr. Reflexionen über ein Leben ohne Widerstand und bewertenden Vergleich.

von Mariananda Schmejkal

Es ist Mitte September, Herbst des Jahres 2019. Seit ein paar Tagen schreibe ich: Alter 78. In zwei Jahren werde ich 80. Herbst des Lebens – Lebens-Abend, so sagt man. Sterben – Alter – Tod. Dazu soll ich schreiben. Bittet mich Jörg. „Spirituell“ möge die Sichtweise sein. Ich kann nur eine Sichtweise. Es gibt nicht meine zwei Sichtweisen. Spirituell oder nicht spirituell. Was soll das heißen: „spirituell“? Für mich gibt es nur zwei Herangehensweisen: wahr oder nicht wahr. Nicht-wahr heißt von Begehren, von Wünschen, von Haben-Wollen motiviert. Von einem bedürftigen „Ich“ her bestimmt. Wahr heißt: sich einfach entspannt ohne Erwartungen vom Leben selbst leiten und führen lassen. Hier stellt sich schon wieder die Frage: Wer oder was ist das, das sagt „ich“?

Das ist jetzt nicht rein rhetorisch gefragt und soll auch nicht scheinbar „spirituell“ beantwortet werden, denn oft erscheinen mir die Antworten mancher Lehrer und Schüler darauf wie auswendig gelernt und mehr oder weniger runtergeleiert. Vielmehr: Ich „weiß“ es wirklich nicht. Es erscheint nur eine Gewissheit, die allem Lebendigen zugrunde liegt. Auch meinem eigenen Sein. Das erlebe ich, das weiß ich, das fühle ich. Alles, was sich mir immer wieder eröffnet hat und jedes Mal wieder neu eröffnet, wenn sich diese Frage stellt: Das einzige „Ich-Bin“, das ich wahrnehme, ist immer nur ein „Kein“, ein „Nicht“, nur ein „neti-neti“, nicht dieses, nicht jenes. Es ist nicht greifbar, es ist nicht benennbar, es hat keinen Anfang und es hat kein Ende. Es hat keine greifbare, dauernde Form. Außer – ich gucke in einen Spiegel. Dann sehe ich seit 78 Jahren immer wieder etwas anderes, mal etwas Junges, Glattes, mal etwas Freches, mal etwas Wütendes, oft etwas Lachendes, auch schon mal etwas Weggedröhntes, mal etwas Athletisches, Sportliches, mal etwas Blasses, Dürres, in letzter Zeit etwas Rundes, Faltiges. Aber das Erstaunliche ist: Ich habe noch nie etwas Verschiedenes durch dieses Hingucken erlebt.

Wahrnehmung ohne Vergleich

Ich erfuhr „mich“ mit sechs Jahren nicht anders als heute, auch nicht mit 20 oder mit 50. Das, was ich als „ich“ erlebe, ist alterslos, angstfrei, lebendig, unsterblich. Warum ich das weiß? Keine Ahnung. So zeigt es sich mir. Wenn ich mir dazu nichts aus-denke, nichts vor-stelle, dann ist es immer da. Nach dem Hören-Sagen lebe ich den Lebens- Abend, den „Herbst des Lebens“. Danach soll der Winter kommen, der Winter, in dem alles Wachsende, Blühende, Gedeihende zu einem Stillstand kommt. Ich bin gerade 78 Jahre alt geworden. Wenn ich in einen Spiegel gucke, sehe ich „etwas“. Eine Frau, ja – weil lange Haare, weil weiße Haare, mehr aber nicht – ist das deshalb alt? Alt entsteht in der Wahrnehmung aber nur im Vergleich zu jung. Solange ich nicht werte, ist das einfach nur eine Feststellung, ein Faktum. Und solange ich dabei nichts fühle. Denn was ist Fühlen denn? Fühlen ist eine Bewertung. Mag ich – oder mag ich nicht. Doch ich liebe das, was ich da sehe. Das ist etwas anderes. Ob ich es mag oder nicht mag, stellt sich mir nicht als Frage. Ich kann das, was ich da sehe, weder bewerten noch vergleichen. Weil ich auch nichts darüber denke. Was ist Denken denn? Denken ist eine Beurteilung. Alt oder jung. Das einzige, was auftaucht, immer wieder zu meinem eigenen Erstaunen: Ich liebe, was ich da sehe. Früher bewertete, beurteilte und verglich ich alles und nahm dann entweder Dinge an (wenn ich sie mochte) oder lehnte sie ab (wenn sie mir nicht gefielen). Wenn ich etwas auf diese Weise mochte – so dachte ich damals –, dann sei das Liebe.

Ohne Vergleich gäbe es weder Alter noch Tod

Heute liebe ich einfach, was ich sehe. Manches gefällt mir, manches nicht. Und das verändert sich andauernd. Aber die Veränderung hat nichts mit der Liebe zu tun. Denn für mich ist Liebe nicht mehr an irgendwelche Bedingungen oder Vorstellungen geknüpft. Liebe ist das, was sich von selbst in einem völlig wertfreien Raum einfach zeigt oder besser noch: offenbart. Sie wird offenbar – von selbst. Vor mir sehe ich etwas in einem Spiegel. Wenn ich das „nur“ sehe, einfach nur wahrnehme, nichts dazu aus-denke, gibt es noch nicht einmal: Ich mag das – oder: Ich mag das nicht. Wenn ich keine Vergleichsbilder hätte… gäbe es weder Alter noch Tod. Um diese beiden zu erleben, muss ich in einen Spiegel schauen, vergleichen, bewerten. Ich sehe nur weiße Haare, mit einem anderen Gesicht als vor 20, vor 40, vor 70 Jahren. Alt? Nein, nur anders. Anders als was? Anders als gestern und sicherlich anders als morgen. Empfinde ich „Alter“? Nein – ich empfinde „nur“ lebendig, wach, anwesend, neugierig, interessiert, wert-freier als jemals zuvor. Heute noch annehmender als gestern. Heute engagierter als gestern. Heute gelassener als gestern. Heute liebender als gestern. Interessierter, frecher, lauter, mutiger, berührter, verstehender, staunender, ärgerlicher, belustigter: bewusster, bewusster, bewusster. Das ist aber eher eine Feststellung im Nachhinein. Während des Geschehens findet kein Vergleichen mehr statt.

Wahr und integer leben

Ich habe keine Angst zu sterben. Diese Angst habe ich mit 15 oder 16 für mich erledigt – und nicht nur im Kopf, sondern auf einer tieferen Ebene. Die eine Möglichkeit nach dem Tod: Es geht weiter, dann ist es gut, möglichst wenig „Mist“ zu machen, damit ich nicht zur Kasse gebeten werde (schlechtes Karma, siedende Hölle usw.), wobei sich das, was ich mit 15 noch als „Mist“, „Schuld“ oder „schlecht“ bezeichnete, mittlerweile gehörig zu meinen Gunsten geändert hat! Zum Beispiel kannte ich, als ich jung war, nicht den Unterschied zwischen masochistischem Erdulden und der bedingungslosen Hingabe an das, was ist. Heute weiß ich sehr genau, dass ein definitives, lautes „Nein“ oftmals der beste Ausdruck von bedingungsloser Liebe ist. Besser als ein klagloses, leidendes Ertragen von Unverschämtheiten. Die andere Möglichkeit nach dem Tod: Es ist genauso einfach „aus“, wie es vor meiner Geburt auch war. Nämlich nichts…einfach nur nichts. Dann habe ich sowieso überhaupt keine Angst. Was soll schon passieren. Vielleicht bleibt ein individuelles Bewusstsein erhalten, vielleicht aber auch nicht. Beides ist in Ordnung für mich.

Ich bin auf beides bestens vorbereitet, indem ich so „wahr“, so integer, so bewusst lebe, wie es mir möglich ist. Und außerdem kann es ja auch noch ganz anders kommen. Und das ist nur spannend. Ich werde es erleben. Unbedingt. Und ganz bestimmt.

Gelernt, mit dem zu sein, was jetzt ist

Krankheit, Schmerzen, Bewegungsunfähigkeit, Krankenhaus, Pflegebedürftigkeit schrecken mich nicht besonders. Ich habe mehr als genug davon schon am eigenen Leibe erlebt. Das alles schreckt mich nicht, weil ich gelernt habe, einfach das hinzunehmen, was jetzt gerade ist. Aus Erkenntnis, aber auch aus Vernunft, weil ich die Zwecklosigkeit begriffen habe, etwas ändern zu wollen, was ich nicht ändern kann. Das erzeugt nur Leid und obendrein auch noch schlechte Laune. Ich frage mich allerdings jeden Morgen: Wenn ich heute sterbe, gibt es noch etwas, was ich vorher in diesem Leben noch unbedingt sehen, hören, riechen, schmecken, erleben will? So habe ich es bis in diesen Sommer immer abgelehnt, Austern zu probieren. Meine Vorstellung war: iiiiiii, so ein Glibberkram. Mein Bruder, der ein hervorragender Koch und Naturkenner ist, sammelt im Sommer in Dänemark immer Austern. Wir treffen uns dort. Die Austern werden von ihm dann stundenlang gesäubert, in geheimnisvollen Pasten gewälzt und im Backofen gewärmt und gebacken. In diesem Jahr sagte ich: Lass mich doch mal probieren. Und welch köstlicher Geschmack. Kein Glibber, kein langweiliger Fischgeruch. Ein wirkliches Genussabenteuer. Hätte ich verpasst, wenn ich schon tot wäre oder meiner Vorstellung von „iiii-Glibber“ gefolgt wäre. Stattdessen ein neues, wohlschmeckendes Ess- Erlebnis.

Alles zu 100 Prozent leben

Gibt es etwas, was ich verpasst habe? Dazu fällt mir immer nur ein: Wenn ich heute noch jung wäre, was nur bedeutet, dass ich einen jüngeren Körper zur Verfügung hätte, würde ich reiten lernen und ein paar Monate mit mongolischen Nomaden durch die Mongolei ziehen. Denn als ich jung war, wollte ich das tun, aber da hieß das Land noch UdSSR und war unerreichbar. Gibt es etwas, das ich bereue? Ja, doch, das schon. Dass ich oftmals zu unsicher und feige war, Menschen in meiner Umgebung unmissverständlich meine Grenzen aufzuzeigen, dass ich nicht klar genug war, rechtzeitig Lüge und Wahrheit zu unterscheiden. Aber ich habe gelebt. Ziemlich kompromisslos, so wahr es mir möglich war. Ich lebe immer noch alles, immer zu 100 Prozent. Was an Alterserfahrung so gut ist? Ich habe keine Angst mehr, verletzt zu werden. Weil Verletzungen gewollt oder ungewollt immer wieder geschehen. Auf allen Ebenen. Körperlich, emotional, seelisch und geistig. Aber Verletzungen halten mich wach. Lassen mich nicht einschlafen, halten mich wach und präsent. Sie vertiefen jedes Mal, wenn sie geschehen, das Bewusstwerden und die Liebe. Ich habe keine Angst mehr, traurig zu sein. Ich habe keine Angst mehr davor, enttäuscht zu werden. Beides geschieht immer wieder.

Ich bin einfach gegen nichts mehr im Widerstand… Ich habe das Leben immer geliebt, auch wenn es mir manchmal unerträglich erschien. Jede Erfahrung kann sich, wenn ich gut hinsehe, zu einer immer neuen Offenbarung wandeln. Ich liebe das Leben in jeder Form, in der es erscheint, bedingungslos – sogar als Austern- Glibber – bedingungsloser, kompromissloser und „totaler“ als je zuvor. Und weil ich jeden Tag liebend er-lebe, habe ich keine Zeit für Vergleichen, für Be- oder Verurteilen, für Angst, Wut oder Schämen. Auch nicht für Alter und Tod. Es lebe das Leben in Liebe.

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