Können wir von der politischen Elite die zukunftsfähigen Lösungen für die vielen komplexen Fragen unserer Zeit erwarten? Wohl nicht, zumindest nicht nur. Nadja Rosmann hat eine neue Elite ausfindig gemacht, die abseits der großen Schlagzeilen unser Land verändert. In der Mitte ist das neue Oben.

Gibt es Alternativen zur bestehenden Elite?

Elite-Bashing ist längst zum Volkssport geworden. Kaum ein Deutscher glaubt noch, dass die Lenker aus Politik und Wirtschaft zum Wohle der Bevölkerung handeln. Doch welche Alternativen gibt es? Ärmel hochkrempeln, selber machen! So die verblüffenden Erkenntnisse einer kulturellen Spurensuche, die nahelegt, dass gegenwärtig ein Bewusstseinsruck durch die Gesellschaft geht, der das alte „Oben“ stärker in die Mitte der Gesellschaft verlagern könnte.

Eliten zu misstrauen, ist in Deutschland aufgrund der leidvollen Geschichte kulturell tief verankert, denn die Katastrophe, die im letzten Jahrhundert aus falsch verstandener Führerschaft und Untertänigkeit erwachsen ist, hat sich in das kollektive Gedächtnis eingebrannt. Die kategoriale Trennung in „Wenige oben“ und „Viele unten“, die das Wesen von Elite ausmacht, wurde in der deutschen Nachkriegskultur geschickt durch ein Prinzip der Fürsorge abgemildert. Elite bedeutete über Jahrzehnte, dass Politiker die Segnungen des Sozialstaats wahren und Wirtschaftseliten durch die Schaffung von Arbeitsplätzen ökonomische Partizipation für die Massen ermöglichen. Das gesellschaftliche „Oben“ wirkte also als Teil eines größeren Ganzen in dessen Sinne. Doch diese Verbundenheit ist durch die globalen politischen und wirtschaftlichen Eruptionen der letzten Jahre immer brüchiger geworden.

Die alten Eliten sind überfordert

Zwei Forschungsprojekte der Identity Foundation, einer gemeinnützigen Stiftung für Philosophie aus Düsseldorf, zeigen, dass dieses paternalistische Elite- Prinzip an seine Grenze stößt – und dass sich in der Mitte der Gesellschaft ein neuer Sinn für Eigenverantwortung zu entfalten beginnt. 80 Prozent der Deutschen fragen sich, wie die Welt gerechter und die Gesellschaft menschlicher werden kann, und wünschen sich eine Politik, die den Menschen dient, so das Ergebnis einer Repräsentativstudie. Doch nicht einmal jeder zehnte Deutsche beobachtet bei Politikern die Weisheit, die zur Beantwortung dieser Fragen notwendig erscheint, den Eliten der Wirtschaft gesteht diese auch nur jeder siebte Deutsche zu. Vor diesem Hintergrund kommen 80 Prozent der Deutschen zu dem Schluss: „Wir Bürger dürfen Politik und Wirtschaft die Lösung der globalen Krisen nicht alleine überlassen, sondern sollten uns persönlich für Veränderungen in der Gesellschaft engagieren.“ Und: „In der Bevölkerung werden bereits viele Lösungen für die großen Herausforderungen der Gegenwart entwickelt und umgesetzt – die sollten viel stärker in größerem Stil von der Politik aufgegriffen werden.“ Wächst hier eine neue Bewegung heran, die unser Verständnis von Elite auf den Kopf stellt? Die die Mitte der Gesellschaft zum neuen Oben macht?

Rund 55 Prozent der Bevölkerung sehen bereits die Notwendigkeit eines Wandels, der wieder der Gesellschaft im Ganzen dienen soll, und schaffen so einen Resonanzraum für ein Denken, das über die vermeintlichen Sachzwänge hinausweist, die von den alten Eliten häufig ins Feld geführt werden. Sie sind sich der Begrenztheit bestehender Systeme nur allzu bewusst und versuchen erst gar nicht, innerhalb der Institutionen zu wirken, sondern initiieren parallele Stränge der kritischen Auseinandersetzung – die Identity Foundation spricht von der Entstehung einer „Bypass-Demokratie“. Deren Ausdrucksformen reichen von Gesprächen in privaten und beruflichen Lebenszusammenhängen, die Herausforderungen thematisieren und Inspirationen zum eigenen Handeln entwickeln, über kritische Selbstreflexion, die zu einer Veränderung des eigenen Verhaltens führt und damit Rückwirkungen im gesellschaftlichen Raum zeitigt, bis hin zu neuen Formen des Aktivismus, die dazu geeignet sind, eine Gegenöffentlichkeit zu schaffen.

Viele dieser Bewegungen sind öffentlich noch kaum sichtbar, doch treten immer mehr dieser Vorreiter auch gezielt ins Rampenlicht. Als Initiatoren von Online-Petitionen, als Mitglieder von Privatinitiativen, die Aufgaben erfüllen, für die dem Staat längst das Geld fehlt, oder als Entrepreneure, die Geschäftsmodelle entwickeln, welche nicht nur einem darwinistischen Gewinnprinzip folgen, sondern gleichermaßen ökologische und soziale Ziele berücksichtigen, engagieren sie sich im Sinne eines besseren Lebens für Viele. Die Vielfalt dieses Aktivismus macht es schwer, die umfassendere Bewusstseinsperspektive, aus der diese Macher schöpfen, auf Anhieb zu erkennen. Ein wesentliches Moment, das die neuen Akteure eint – und sie von den Protestbewegungen früherer Jahrzehnte abhebt –, ist sicherlich die Motivation, für etwas zu sein und das als richtig Erkannte einfach umzusetzen, anstatt die Verantwortung zu delegieren. Veränderung wird möglich, indem man das eigene Leben ändert – und andere zum Mitmachen inspiriert.

Was zählt, sind Lösungen

Mit ihrem Online-Projekt „Novelite – Was zählt, sind Lösungen!“ machte sich die Identity Foundation auf die Suche nach den Protagonisten dieses neuen Bewusstseins. Aus den beobachteten Momenten der „Bypass-Demokratie“ leiteten die Wissenschaftler vier Gestaltungsprinzipien ab, die kategoriale Unterschiede zur alten Elite erkennbar werden lassen: ein bewusster Fokus des eigenen Wirkens auf breite Teile der Gesellschaft (Vorreiterschaft gründet auf realer Wirksamkeit, nicht auf Status), die Vernetzung verschiedener Themenbereiche (Berücksichtigung der realen Komplexität von Herausforderungen anstelle fragmentierter Lösungen, die häufig einem Eigeninteresse der jeweiligen Akteure folgen), Networking unter Gleichgesinnten zur Vergrößerung des Wirkungsradius (gelebte Verbundenheit innerhalb des gesellschaftlichen Ganzen tritt an die Stelle einer Direktivität von oben) und das Anstreben eines Paradigmenwechsels (Integration verschiedener Interessen und Lösungsansätze, anstatt diese gegeneinander auszuspielen).

Die Kriterien tragen einerseits den von der Bevölkerung beschriebenen Herausforderungen Rechnung, die die alten Eliten anscheinend nicht zu lösen vermögen, und berufen sich zugleich auf ein integral-evolutionäres Verständnis von Entwicklung. Betrachtet man die bisherigen Eliten als Ausdruck eines traditionellen bis modernen Bewusstseins, das Kompetenz bei wenigen Auserwählten sieht und Macht als zentrale Ressource der Gestaltung begreift, kommen nun postmoderne und integrale Haltungen ins Spiel, die Vielfalt zur Basis nachhaltiger Ergebnisse machen und auf Integration anstatt auf Abgrenzung setzen. Elite misst sich dann nicht mehr an einer exponierten Stellung, sondern ist gegeben, wenn Menschen Lösungen mit einer umfassenderen Qualität in die Welt bringen, die Altes nicht negiert, sondern in neuen Kontexten nutzbar macht. Und wenn es gelingt, dem Ganzen zu dienen, ohne dabei an anderen Stellen neue Verwerfungen zu erzeugen.

Die Resonanz, die das Projekt bei der Online- Community entfaltete, legt nahe, dass die entwickelte Perspektive nicht nur ein wissenschaftliches Konstrukt ist, sondern die Lebensrealität vieler Menschen berührt. So wurden während der fünfmonatigen Projektlaufzeit 150 Aktivisten nominiert, deren Handeln den beschriebenen Kriterien folgt, und mehr als 40.000 Stimmen abgegeben, die das Gewicht der jeweiligen Ansätze bewerteten. Unter den Nominierten finden sich bekannte Namen wie Götz Werner und Susanne Wiest, die für ein Grundeinkommen werben, der ehemalige Telekom- Vorstand Bernd Kolb, der mit seinem Club of Marrakesh ein globales Netzwerk für Nachhaltigkeit ins Leben gerufen hat, die Expertin für alternative Geldsysteme Margrit Kennedy oder Peter Spiegel, einer der Vorreiter des Social Business in Deutschland. Die große Mehrheit der Projekte beruht indes auf dem Engagement von „Durchschnittsbürgern“.

Die neuen Vorreiter eint das Bewusstsein, dass die Zeit gekommen ist, selbst zu handeln, anstatt auf Veränderungen von oben zu warten. „Ich muss bei mir anfangen, die Veränderung zu werden. Gandhi beispielsweise war anfangs auch ein ganz normaler Mensch, der zu einer großen Seele transformiert ist. Daran kann man sehen, wie mächtig der einzelne Mensch sein kann, wenn er sich eines Themas wirklich annimmt“, sagt etwa Christoph Harrach, Gründer der Online-Plattform KarmaKonsum und der gleichnamigen Konferenz. Der Marketing- Fachmann, der zugleich ausgebildeter Yoga- Lehrer ist, tritt seit acht Jahren an, um Unternehmen und Konsumenten zu einem nachhaltigen Wirtschaften zu animieren.

Anne-Kathrin Kuhlemann, Mitgründerin von Konvergenta, einem Projekt, das sich für Modelle der Kreislaufwirtschaft engagiert, sieht das ähnlich: „Wir wollen dafür sorgen, dass die Welt von morgen für unsere Kinder noch lebenswert ist. Wir wollen, dass das Jammern aufhört. Heutige Krisen scheinen so groß, dass der Einzelne sich überfordert fühlt, hier etwas tun zu können. Der Anspruch an mich selbst ist es, zu handeln und nicht zu warten, bis andere etwas tun.“

KarmaKonsum kann dann bedeuten innezuhalten, wenn man beim Textildiscounter ein Hemd für 9,99 Euro in die Hand nimmt, das in Bangladesch genäht wurde. Und sich zu fragen, welche Konsequenzen ein solcher Kauf haben könnte – für den Arbeitsmarkt in Deutschland, das Ökosystem, die Menschen in den Textilfabriken am anderen Ende der Welt …

Bewusste Denkbewegungen

Denkbewegungen wie diese möglich werden zu lassen, darin sieht Christoph Harrach seine Aufgabe. Um ihr gerecht zu werden, braucht er keine Macht, keine Bestätigung als Angehöriger einer Elite. Und vielleicht macht ihn gerade das zum Vertreter einer neuen Elite: „Für mich ist Elite Ausdruck eines Bewusstseinszustands. Menschen können elitär sein in dem Sinne, dass sie erhabene Gedanken haben, ohne wirtschaftlich oder politisch einflussreich zu sein. Ich tue meine Pflicht, also das, was mir als Berufung vorgesehen ist“, sagt er. Auch für den „Spirituellen Dienstleister“ Sebastian Gronbach ist diese Art der Vorreiterschaft eng mit Bewusstheit verknüpft. „Die neue Elite versteht auf einer tiefen Herzensebene, dass es keinen Sinn mehr macht, nach alten Mustern zu agieren“, sagt er.

Mit ungewöhnlichen Aktionen auf öffentlichen Plätzen weckt er ein Interesse an Meditation und Bewusstseinsentwicklung. „Das Ziel von Public Meditation ist es, an einen Ort zu gehen, an dem es laut ist, an dem es unbewusst ist, an dem es wenig friedvoll ist, und dort nicht Stille, Bewusstheit oder Friede zu fordern, sondern die normative Kraft des Faktischen zu verkörpern. Wenn wir da sind, dann ist es still, dann ist es friedlich und dann ist an dieser Stelle Bewusstheit“, erklärt Gronbach.

Hinter Vorstößen wie diesen steht die Erkenntnis, dass wir als Gesellschaft ein Bewusstsein dafür entwickeln sollten, wie alles mit allem verbunden ist. Und dass jeder an dem Platz, an dem er steht, durch sein Handeln einen Beitrag zum Besseren leisten kann.

Besser bedeutet dann, einem Prinzip des Gemeinwohls zu folgen und Lösungen in Bezogenheit auf dieses große Ganze zu entwickeln. Anne-Kathrin Kuhlemann macht aus ihrem ökologischen Anliegen kein Subventionsprojekt, sondern stellt funktionierende wirtschaftliche Prozesse in den Dienst ihrer Mission. Was des einen Unternehmens Abfall ist, kann für ein anderes zu einem wichtigen Rohstoff werden. „Wenn ich ein System habe, das wirtschaftlich funktioniert, ist es auch nachhaltig im Sinne von langlebig. Die Sozialstaaten sind alle auf Jahrhunderte hinaus verschuldet. Das kann also keine Lösung sein“, findet sie.

Christoph Harrach zeigt Otto Normalverbrauchern und Unternehmen, dass jede Konsumentscheidung und jedes hergestellte Produkt Einfluss darauf haben kann, ob Wirtschaft auf Ausbeutung beruht und Umweltschäden nach sich zieht oder zu einer sozialen und ökologischen Ausgewogenheit beiträgt: „Ich bin ein Brückenbauer zwischen verschiedenen Kulturen. Der Wandel ist noch nicht absehbar. Möglicherweise lassen die in der Mitte der Gesellschaft aufkeimenden Bewegungen das alte Konzept von Elite sogar über die Zeit obsolet werden, denn letztlich brauchen die großen Herausforderungen der Zeit nicht nur wenige Vorreiter, sondern wir alle sind gefragt, zu dem Wandel, den wir uns wünschen, beizutragen. Oder, wie Sebastian Gronbach es formuliert: „Wenn man mich fragt, ob ich zur neuen Elite gehöre oder nicht, finde ich das die weniger spannende Frage. Interessanter ist doch, wie ich mit der Tatsache umgehe, dass ich dazugehöre. Hier, wo ich jetzt stehe, habe ich die Verantwortung, das Beste daraus zu machen.“

Hinterlasse einen öffentlichen Kommentar

Deine Email Adresse wird nicht veröffentlicht.

*