Warum wir Rituale für Teenager brauchen

Übergangsrituale für Jugendliche und für ihre Eltern erleichtern den Prozess des Loslassens und Grenzensetzens und bilden eine sinnvolle und emotional berührende Alternative zu den traditionellen Zeremonien wie Konfirmation, Firmung, Jugendweihe, Bar oder Bat Mitzwa. Initiation gibt es nicht im App-Store.

Pubertät: Umbauarbeiten im Gehirn und Körper

Der Übergang vom Jungen zum Mann, vom Mädchen zur Frau ist eine aufregende Zeit. Das Gehirn eines Teenagers und der dazugehörige Körper werden in der Pubertät geradezu “umgebaut”. Diese “Bauarbeiten” bewirken oft heftige Stimmungs- und Verhaltensschwankungen. Gleichzeitig orientieren sich die Jugendlichen hauptsächlich an ihren Freunden und empfinden die elterlichen Sorgen und Regeln meist als beengend.
In der Familie erleben wir diese Übergangszeit oft als anstrengend, chaotisch und teilweise schmerzhaft, mit Verletzungen und Machtkämpfen verbunden. Die Teenager streben nach Unabhängigkeit und die Eltern haben Sorge, dass ihre Kinder sich in die falsche Richtung entwickeln, aber auch  Schwierigkeiten, ihre zentrale Rolle abzugeben bzw. zu verändern. Es gilt, die Eltern-Kind-Beziehung neu zu gestalten.

Ein Teenager muss diesen Weg gehen, um sich zur eigenständigen Person zu entwickeln. Viele Kulturen erkennen das mit “Coming-of-Age” Übergangsritualen an. Dass dieses Aus-dem-Kokon-Schlüpfen auf dem Weg zum beflügelten Erwachsenen nicht nur ein Übergang für den Teenager, sondern auch für die Eltern darstellt, wird oft übersehen. “Loslassen und gleichzeitig Grenzen setzen”, wie es Elternratgeber empfehlen, ist nicht leicht umzusetzen und kann vor allem nicht einseitig stattfinden. Wir brauchen dafür einen Rahmen, der beide Seiten anerkennt. Wenn man diese Veränderungen mit einem achtsamen Übergangsritual anerkennt, gibt man beiden Seiten die Chance, gegenseitiges Verständnis zu entwickeln und dadurch liebevoller und entspannter miteinander umzugehen.

Rituale gegen die Angst vor dem Loslassen

Ein Ritual unterbricht den Alltag und erlaubt es uns, achtsam auf unser Erleben zu schauen. Ein Ritual basiert auf der Idee von Tod und Wiedergeburt. Loslassen, damit Erneuerung stattfinden kann. Im Ritual erleben wir uns auch als ein Teil von etwas Größerem, und gleichzeitig lässt es uns tiefer in unser Selbst blicken.

Wir kennen und erleben diese Abfolge von Vergehen und Entstehen, von Tod und Wiedergeburt zum Beispiel in den Jahreszeiten. Frühling folgt dem Verfall des Winters, doch statt dieses Naturgesetz auch für uns als Wegweiser zu verstehen, beängstigen uns Loslassen und Veränderung. Das Unabhängigkeitsstreben der Teenager löst bei vielen Eltern Verlustängste, Sorge und Widerstand aus. Es ist anzunehmen, dass gerade der Verlust traditioneller Rituale eine Ursache unserer heutigen zwischenmenschlichen Entfremdung und tiefen Ratlosigkeit in diesen Zeiten ist.

Gruppenrituale: der Veränderung Raum geben, um orientiert zu bleiben

Geburten, Tode, Hochzeiten und Geburtstage feiern oder betrauern wir heute noch gemeinsam. Aber wir können auch andere Umbrüche und Herausforderungen in unserem Leben mit Ritualen begehen und sie so verdeutlichen, annehmen und integrieren. Ein neuer Job, ein Umzug, eine Abtreibung, eine Trennung oder Scheidung, Krankheit oder Genesung stellen Einschnitte dar und können tiefe Zerrissenheit auslösen. Wenn zusätzlich noch der anstrengende Alltag über uns hinwegwäscht, haben wir selten den Raum, den es braucht, um diese Veränderungen zu verarbeiten. Noch schwieriger ist es, wenn wir allein sind oder uns allein fühlen. Im achtsamen Raum eines Gruppenrituals aber können schmerzhafte Wunden und Tumulte benannt und anerkannt werden und zu tiefer Verbundenheit führen.

Ohne diese Unterbrechung des Alltags, laufen wir Gefahr, die Wegmarken auf unserer persönlichen Landkarte zu übersehen. Diese “Landkarte” wurde uns nicht mit bereits festgeschriebenen Routen übergeben, sie ist vielmehr eine Leinwand für unsere individuelle Abenteuerreise, unsere Entwicklung. Start und Ziel stehen fest, doch um das Terrain unseres (Er-) Lebens mit Sinn und dem Gefühl von Verbundenheit zu gestalten, braucht es einen Raum, um wahrzunehmen und innezuhalten. Alle Menschen möchten gesehen werden, und ein Teenager erlebt diese Sehnsucht nun auch – ohne die Leichtigkeit und Naivität eines Kindes.

Initiation gibt es nicht im App-Store: Einsam trotz 350 Facebook-Freunden

In unserer medienorientierten Welt, in der wir vor allem passiv konsumieren und ohne wirkliche Verbindung rasant von News zu News springen, fühlen sich viele trotz hoher Freundeszahl einsam. Kommentare zu einem Facebookpost oder Hunderte von Instagram-Fans können unsere Sehnsucht nach Verbundenheit und Gesehenwerden nicht erfüllen. Um unsere emotionale Landkarte bewusst zu gestalten, müssen wir die Medienbeschallung anhalten und Raum zum Nachdenken und -spüren schaffen. Dann können wir auch bewusst in die Zukunft blicken und die Weichen dafür stellen.

Rituale mit Jugendlichen: Alternative zu Jugendweihe, Konfirmation oder Firmung

Traditionelle Zeremonien wie Konfirmation, Firmung, Jugendweihe, Bar oder Bat Mitzwa berühren in unserer säkularen Gesellschaft inzwischen nur noch wenige. Aber dass uns diese Rituale nichts mehr sagen, heißt nicht, dass uns Rituale grundsätzlich nicht berühren können.

“Was tue ich hier eigentlich?” hinterfragen Teenager. Diese emotionale Auseinandersetzung mit der eigenen Identität und gesellschaftlichen Werten ist ein wichtiger Baustein in der Neuorientierung und Persönlichkeitsentwicklung. Wir sollten sie dabei unterstützen. Zwar können wir unsere Söhne nicht für sechs Monate in der Wildnis aussetzen wie im traditionellen Walkabout der Aborigines, oder unsere Töchter bei der ersten Menstruation in das Rote Zelt der Frauen bringen, doch es gibt  spannende Programme und Ideen, um unsere Kinder und Familien zu stärken.

“Phoenixzeit” begleitet Jungen im Alter von 13 bis 15 Jahren im Rahmen einer zeitgemäßen Entdeckungsreise durch die Themen ‘Abschied von der Kindheit’, ‘Ausblick auf die Jugendzeit’ und ‘Wandlung zum Mann’. In Verbindung mit einem männlichen Paten erlebt der Junge im Übergangsritual eine neue Perspektive für sich und seine Familie.

“Der Rote Mond” bietet Mädchen einen ähnlichen Erlebnisraum mit abschließendem Übergangsritual. Inspiriert durch die Tradition des Roten Zeltes, in dem sich Frauen zusammenfinden, um sich mit weiblichen Gemeinschaftsthemen zu beschäftigen, gehen Mütter mit ihren Töchtern beim Roten Mond durch einen mehrtägigen Entwicklungsprozess, der sich den Veränderungen beider Seiten widmet.

Nährstoffe für die Teenagerpsyche

Mit Ritualen, die wir kreativ und intuitiv immer wieder neu gestalten können, lassen sich  die Übergänge in unserem Familienleben gemeinsam individuell, zeitgemäß und hilfreich gestalten. In diesem Rahmen erleben wir uns als ein Teil eines größeren Ganzen. Ohne solche Momente wird unsere Welt zu einem Ort der reinen Tatsachen. Wir leben und wir sterben. Doch Tatsachen allein können unsere Psyche nicht nähren. Wir sind einzigartige, fühlende, warmherzige, spirituelle Wesen und unser Handeln sollte diese Einzigartigkeit achten und feiern.

2 Responses

  1. Jeanette Dean
    Rituale als Start

    Noch heute gibt es Tage, in denen ich mich Frage, welchen Weg ich eingeschlagen, welche Wirrungen und Schmerzen ich vermieden hätte, wenn mich jemand an der Hand genommen und aufgeklärt hätte, was es bedeutet, vom Jungen zum Mann zu werden.
    Größtenteils hab ich mir intuitiv meine eigenen Initiationen gebastelt.
    Speziell die Natur war eine gute Meisterin, wenn es darum ging, Kindheit, Abhängigkeiten, und die Illusionen der Gesellschaft hinter mir zu lassen.
    Sehe ich mich um, fühle ich mich umgeben von erwachsenen, verletzten Kindern, die vielleicht ihre Eltern verlassen oder verloren haben, doch nie gewagt haben, nie gelernt haben, nie inspiriert wurden, ihre eigenen Wege zu finden und zu gehen.
    Ich gehe nicht davon aus, dass eine Initiation in einem Ritual dazu dient, alle Antworten und Lösungen zu liefern.
    Doch es funktioniert als Meilenstein, als Startlinie, als Polaroid eines kostbaren Lebensmoments, von dem aus viele neue Erfahrungen und Einsichten gewonnen werden können.

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  2. Die Stimme Gottes
    Rituale, Kraft und viel zu normale Eltern

    ja, finde ich gut, allerdings können Rituale abhängig machen und ich find’s verklärend sie als Wiedergeburtsding zu betrachten, denn das hieße ja, dass die Kirche keine rituelle Veranstaltung wäre, oder was auch alles sonst.
    Ich habe interessante Ritualgeschichten in einem Video gesehen, wo junge Leute sich Haken durch die Rückenhaut stechen um sich an denen aufhängen zu lassen, so als Erwachsen-werden-Symbolik.

    Hmmm ich find diese Idee mit Kraft etwas zu bewegen inzwischen problematisch, weil ich diese Kräfte im Stadtalltag als oft unangebracht erlebe und keinen beruflichen Weg gefunden hab, die würdigen, ich glaube, dass dieses Erwachsensein eigentlich eines größeren Gespräches bedarf, in einer Welt, die doch Narzismus belohnt, Vollbartdiskussion oder „analog ist das neue bio“ hin- oder her.

    Ich hätte nie im Leben an meinen ersten „Samenerguss“ – schreckliches Wort – kommuniziert, während die erste Menstruation doch noch etwas Generationsübergreifendes ist offenbar.

    Weiss nicht, ob es da einen Genderbezug gibt oder ob der hergestellt werden kann.

    Oh nebenbei, noch ein Kritikpunkt allgemein: Initiation stellen ja per se eine Hierachie her zu Sachen die man vermeintlich nicht selbst kann, viele Kids machen es ja dagegen selbst: Sie rauchen, trinken, hauen von zu Hause ab usw. und schaffen sich darüber selbst neue Identitäten.

    Ich bin bei diesem Konzept skeptisch, weil es nichts gab was sich durch die Jugendweihe glaub ich verändert hat, doch ich war 2 Tage lang stolz und bekam vor allem Geld, aber spannender wäre es ja, wenn sich die Familie mitverändern würde, wenn es rituell auch ein Loslassen der Eltern einfordern würde, oder wenigstens symbolisch mehr Mitbestimmung am Haushalt, so dass sich Rollen durch praktische Kooperation verändern, die durch was aufredendes eingeleitet werden, sonst wäre es glaub ich wirklich mehr Hollywood als Gemeinschaftserfahrung.

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