„Wer unfähig ist, zu vergeben, der ist auch unfähig, zu lieben“, sagte der große Martin Luther King. Vergebung fällt nicht leicht – doch durch sie ist unendlich viel zu gewinnen: Freiheit, Frieden und Liebe.

von Martina Pahr

In den ersten Wochen eines neuen Jahres sind wir entweder darum bemüht, gute Vorsätze umzusetzen oder wir haben sie bereits „revidiert“. Stand auf deiner Liste, dass du einem anderen Menschen verzeihen möchtest? Falls ja, hast du sicher bereits die ersten Erfahrungen mit diesem unendlich kraftvollen Werkzeug gesammelt. Falls nein, möchte dir dieser Artikel näherbringen, warum Vergebung so grundlegend wichtig ist. Wenn du nicht vergeben kannst, dann hat das Haus deiner spirituellen Entwicklung, das du mit so viel Liebe gebaut hast, möglicherweise keine Tür, durch die du es betreten kannst. Wenn du etwas säst und trotz aller Mühe keine Früchte erntest, dann frage dich ehrlich, ob es noch etwas oder jemanden gibt, dem du zu vergeben hast. Vielleicht ja dir selbst? Nicht zu vergeben, das ist, als würden wir Gift trinken in der Hoffnung, ein anderer, ein „Übeltäter“, würde daran sterben. Doch in Wahrheit werden wir selbst davon krank.

Wir sollen immer verzeihen, dem Reuigen um seinetwillen, dem Reuelosen um unseretwillen. Marie Freifrau von Ebner-Eschenbach

Ganz gleich, ob es um Kleinigkeiten geht, als ob uns jemand die Vorfahrt nähme, als ob es um „Mittelgewichte“ wie eine Kollegin geht, die Lügen über uns verbreitet, oder einschneidende Dinge wie Vertrauensbruch: Der „Täter“ schlägt einmal zu, und das war es dann auch schon. Wir selbst sind es, die diesen Schlag energetisch verstärken, indem wir ihn immer wieder vor unserem geistigen Auge abspulen, im Geiste wiederholen und hemmungslos in unsere Emotionen gehen und darin eintauchen. Auf diese Weise halten wir die Wunde immer offen. Wir nehmen uns als ohnmächtig wahr und identifizieren uns mit dem Status eines Opfers, ohne zu realisieren, dass wir uns dadurch jede Möglichkeit verwehren zu heilen und Frieden zu finden. Erst durch Vergebung befreien wir uns aus der energetischen Verstrickung mit der Wunde. Wir werfen den Ballast unserer Vergangenheit sowie die Schwere unserer negativen Gefühle über Bord und können voller Zuversicht nach vorne blicken.

Vergebung ist ein „Akt des Herzens“

Niemand behauptet, dass Vergebung leicht fällt – umso weniger, wenn diejenigen, die uns etwas zugefügt haben, nicht einmal die Tat bereuen oder um Verzeihung bitten. Alles in uns sträubt sich dagegen, dass die „Täter“ so einfach „davonkommen“ sollen. Uns ist, als würden wir mit dem Akt der Vergebung leugnen, dass uns Unrecht geschehen ist. Autorin Angela Metzlaff bringt es auf den Punkt: „Wir sind unversöhnlich, weil wir nicht der „Dumme“ sein wollen, der immer nachgibt.“ Wir leiden ganz offensichtlich, denn „die anderen sollen sehen, wie schwer wir es haben, wie schwer wir an unserer Last tragen.“ Natürlich suchen wir uns diese Situationen nicht aus!

Doch wenn wir an ihnen festhalten und ihnen Macht über unser Leben einräumen, ist es unser Ego, das uns beherrscht: jenes Ego, das Unversöhnlichkeit verknüpft mit Neid, Angst, Zweifel, Missgunst und Sorge. Die relevante Frage, die man sich dann stellen muss, ist: „Will ich recht haben oder glücklich sein?“ Damit soll Unrecht keinesfalls geleugnet oder schöngeredet werden, wie die Autorin, die selbst sexuelle Übergriffe erfahren hat, aus eigener Erfahrung weiß. Doch der erste Schritt zur inneren Freiheit beginnt damit zu akzeptieren, dass etwas geschehen ist, das wir nicht ändern können. Metzlaff bezeichnet Situationen dieser Art als die größten Herausforderungen im Leben – und zugleich Übungsfelder für das Vertrauen darauf, dass jeder Situation, die uns herausfordert, „das Geschenk des Wachsens“ innewohnt.

Der spirituelle Lehrer Sascha Ansahl sieht Vergebung als einen Akt des Herzens, bei dem es einzig und alleine um die Verbindung zu Gott, zum eigenen Herzen und zur eigenen Seele geht. Wir empfinden Schmerz, weil wir uns von der Quelle unseres Lebens entfernt haben, sagt Ansahl, der diese Quelle als Gott, wiederum andere als kosmische Energie, Universum oder mit anderen Worten bezeichnen mögen. Unsere oftmals negativen Reaktionen auf Lebensereignisse laufen innerhalb eines automatisierten Verdrängungsmechanismus ab, wir sprechen andere Menschen für negative Erfahrungen schuldig, um die eigenen Ängste und Verfehlungen nicht betrachten zu müssen. „Reagiere ich auf meine Umwelt oder übernehme ich Verantwortung und handle bewusst?“, ist die Frage, die wir uns an in diesen Momenten selbst stellen können. Es ist nicht möglich zu verhindern, dass sich Herausforderungen ereignen. Doch wir können unsere Aufgabe wahrnehmen, uns selbst in einen inneren Frieden zu begleiten.

„Wir müssen immer vergeben, daran erinnernd, dass wir selbst Vergebung brauchen. Wir brauchen Vergebung viel öfter, als wir vergeben müssen.“ Johannes Paul II

Vergebung ist laut Ansahl „die einzige konsequente Möglichkeit, sehr verlässlich und absolut sicher wieder Freude, Freiheit und Klarheit zu erlangen.“ Sie bringt uns zurück zur Quelle und zu dem Bewusstsein, dass wir weder von unserer Quelle noch voneinander wirklich getrennt sind; sie führt uns aus dem Hass und der Wahrnehmung der Getrenntheit zurück zur Liebe. „Wie viel Liebe bin ich bereit gegen all diese negativen Gedanken und Gefühle einzutauschen?“ – ist die Frage, die wir uns jetzt stellen können.

Willy Weber, Ausbilder für Klinische Seelsorge, weiß aus seiner Praxis, dass Vergebung selbst uralte Verletzungen heilen und tief wirksam wie eine gute Psychotherapie sein kann. Es kann ein langwieriger Prozess sein, denn es gilt, die individuellen Gefühle nicht zu verdrängen, sondern zu verarbeiten. Gefühle möchten wahrgenommen werden – und ernst genommen. Der Pastor und Dozent plädiert für eine „Vergebung mit Gefühl“, die die eigene emotionale Wirklichkeit nicht leugnet und sich in konkreten Schritten umsetzen lässt. Zunächst einmal sollte es Raum für Vorwürfe und Wut geben. Vergebung ist kein Deckel, den wir auf „negative“, angsteinflößende Gefühle drücken können, damit sie nicht an die Oberfläche kommen. Erst wenn wir gelernt haben, starke innere Gefühle wie Wut, Trauer, Hass, Rache – um nur einige zu nennen – zu spüren, anzuerkennen und ihnen Raum in uns zu geben, können wir uns auf die Reise zur Vergebung begeben.

Dann können wir der Herausforderung begegnen, Verständnis für den Täter – unser damaliges dynamisches Gegenüber – zu gewinnen, unabhängig davon wie lange dies dauern wird. Erst dann, sagt Weber, kann Vergebung in uns wirken und „eine Tür zu geklärten Beziehungen öffnen sowie zu einem inneren und zwischenmenschlichen Frieden führen.“

Sich selbst vergeben

In jeder großen Religion ist ein Konzept des Vergebens eingebettet. Ohne dies wäre nicht nur menschliches Miteinander, sondern auch individuelle Heilung nicht möglich. Die Annahme eines göttlichen Prinzips macht die Vergebungsarbeit wesentlich leichter, für viele Menschen somit erst möglich. Doch Vergebung kann unabhängig davon in jedes persönliche Glaubenssystem integriert werden – und sollte es auch, da das Festhalten an alten Wunden und negativen Gefühlen massive seelische und körperliche Auswirkungen haben kann. Psychoanalytiker Franz Alexander, Pionier der psychosomatischen Medizin, erkannte schon in den 1960er Jahren, dass Schuld- und Minderwertigkeitsgefühle eine zentrale Rolle in den Erklärungen psychopathologischer Phänomene spielen. Gerade Schuldgefühle sind wesentlich an der Entstehung von Süchten, Depressionen und psychosomatischen Erkrankungen beteiligt; sie zerstören das Gefühl innerer Zufriedenheit und das Potenzial, über uns selbst hinauszuwachsen. Und Schuld ist letztlich nicht das, was wir dem anderen, dem „Täter“, zuweisen – ihre negative Energie fällt auch auf uns selbst zurück.

Die Identifikation mit dem eigenen Ego ist besonders wirksam, wenn wir an dem festhalten, das uns schmerzt und schwächt. Die Anhaftung daran lässt uns unsere Verbindung zur Quelle allen Lebens – zur Liebe – vergessen. Und darauf reagieren wir mit Gefühlen von Angst und Schuld. Wenn wir diese Schuldgefühle nicht verstehen, projizieren wir sie auf den anderen. Sehr oft sind es die Menschen, denen wir selbst am meisten zu vergeben haben, über die wir uns am meisten ärgern und die wir am weitesten von uns wegstoßen wollen. Und sehr oft bist du selbst der Mensch, dem du am meisten zu vergeben hast. Vergib dir endlich dein „Nicht – Perfekt – Sein“, vergib dir, dass du das breite Spektrum an menschlichen Gefühlen in dir trägst – helles wie dunkles. Vergib dir anstatt dir Vorwürfe zu machen, vergib dir, dass du dich im Augenblick nicht so liebst und annimmst, wie du bist. Es ist möglich, dass du erst dann wirklich fähig bist anderen Wesen zu vergeben, wenn du dir selbst aus tiefstem Herzen vergeben kannst. Wenn wir mit uns selbst nachsichtig und verständnisvoll umgehen, können wir auch unseren Mitmenschen – ja dem Leben selbst! – mit mehr Liebe und Wertschätzung begegnen, innerlich befreit und unbesorgt.

Vergebung ist eine Entscheidung

Es ist in jedem einzelnen Moment unsere Entscheidung, wie wir auf eine Verletzung reagieren. Es liegt in unserem eigenen Ermessen, Schmerz oder Freiheit zu wählen, uns als Opfer oder bewusste Agenten wahrzunehmen, die Vergangenheit hinter uns zu lassen oder uns selbst einen Amboß an den Fuß zu binden, der uns künftig am Laufen hindern wird. Vergebung ist die ultimative Herausforderung für unsere spirituelle Entwicklung. Selbst wenn wir lernen, eine kleine Kränkung nicht persönlich zu nehmen, und es uns gelingt, die Umstände wahrzunehmen, die einen anderen Menschen zu ungerechtem Verhalten uns gegenüber veranlasst haben, wird diese Übung immer schwerer, je größer das ist, was wir zu vergeben haben.

Sogar der Feind ist uns nütze, denn um Mitgefühl empfinden zu können, müssen wir uns in Toleranz, Vergebung und Geduld üben – und das lässt die Wut verfliegen. Dalai Lama

Wenn uns unser langjähriger Partner betrügt oder gar verlässt, kann Vergebung ein sehr langwieriger Prozess sein. Wie unterschiedlich die Menschen damit umgehen, kann sicher jeder von uns in seinem persönlichen Umfeld sehen. Schön, wenn ein ehemaliges Paar gemeinsamer Kinder zuliebe das verletzte Ego zur Seite schiebt, um freundschaftlich das Sorgerecht miteinander wahrzunehmen. Bitter, wenn jemand keine Liebe mehr in sein Leben lassen kann, weil er im inneren Gefängnis von Opferrolle, Schuldzuweisung und Schmerz festsitzt.

Der Therapeut Colin Tipping hat vor mehr als 20 Jahren einen praktikablen Ansatz entwickelt, effektiv zu vergeben. Seine „Radikale Vergebung“ lädt dazu ein, die Ereignisse in unserem Leben aus einer völlig anderen Sicht wahrzunehmen, einer Sicht, die uns nicht auf die Rolle des Opfers beschränkt. Auch sie basiert auf der Prämisse, dass alles in unserem Leben einen tieferen Sinn hat, der sich uns nicht unbedingt gleich – oder jemals – erschließt. Mit Hilfe eines Arbeitsblattes, mit oder ohne Coach, können wir die jeweilige „Geschichte“ erzählen, ausloten, welche Gefühle sie in uns hervorruft, welchen Anteil wir selbst und andere daran haben, sie in einen neuen Kontext setzen und als „vollkommen“ ins eigene Leben integrieren.

Noch schneller geht es mit diesen vier Schritten: Erkennen, dass wir die Situation selbst mit geschaffen haben, um zu wachsen; Akzeptanz der eigenen Gefühle und Interpretationen; Bereitschaft, göttliche Vollkommenheit in der Situation zu akzeptieren, wenn nicht sogar zu erkennen; und schließlich die bewusste Entscheidung für die Kraft des Friedens.

Vergebung ist Liebe und Freiheit

Vielleicht denkst du nun, dass Vergebung im Kleinen gut und schön sein mag, im Großen aber an ihre Grenzen stößt? Das wäre ein Irrtum. Alle genannten Autoren bestätigen aus ihrer Erfahrung, dass jemand, der einen harten Schicksalsschlag vergibt, statt in Hass und Schmerz zu verhärten, daran wächst. Diese Erfahrung machten auch Sandra und Reinhard Schlitter, die das größte Unglück erleben mussten, das Eltern widerfahren kann. Ihr Sohn Mirco wurde 2010 ermordet. Sie beschlossen, seinem Mörder zu vergeben, um „unsere Herzen nicht von diesen negativen Gefühlen vergiften lassen“ – und um in Frieden weiterleben zu können, auch für ihre anderen Kinder.

Mircos Vater sagte in einem Interview: „Wenn ich allein meiner Natur als Mensch folgte, könnte ich nur fordern, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Aber den Mörder zu töten gibt mir keinen Frieden; ihm zu vergeben dagegen schon.“ Und seine Mutter bei anderer Gelegenheit: „Mein Mann und ich aber wollen nicht hassen. Rachegedanken sind Gefühle, die diejenigen verändern, der sie in sich trägt. Und zwar nicht zum Guten.“ Ihre Geschichte hat viele Menschen zutiefst berührt – und mit dem Größten konfrontiert, dessen wir fähig sind: mit der Macht, anderen zu vergeben, was diese wie ein Akt der Gnade befreit – und uns selbst im Austausch dafür Frieden und Kraft schenkt. Im Vorwort zu ihrem Buch, in dem sie über ihren Weg zur Vergebung berichten, schreibt das Ehepaar Schlitter: „Wenn dieser ganze Irrsinn von Mircos Tod doch noch irgendeinen Sinn haben sollte, dann diesen: […] Dass bei allem Unbegreiflichen, was uns im Leben widerfährt, noch Platz ist für Hoffnung und Vergebung.“

Lesetipps

Angela Metzlaff: „Vergebung macht stark“, Trinity Verlag
Colin C. Tipping: „Ich vergebe“, J.Kamphausen Verlag
Sascha Ansahl: „Vergebung befreit“, Reichel Verlag
Willy Weber: „Vergebung geht nicht nur im Kopf“, SCM Verlag
Sandra und Reinhard Schlitter: „Mirco: Verlieren. Verzweifeln. Verzeihen.“, Adeo Verlag

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