Altes Wissen in neuem Gewand: Mira Mühlenhof hat Jahrtausende alte Kenntnisse über die verborgenen Antriebe des Menschen in die heutige Zeit übersetzt. Mit der auf dem Enneagramm basierenden Methode „Key to see“ zeigt sie, wie wir unseren zentralen blinden Fleck enttarnen – das, was wir bei uns selbst nicht sehen können und wollen – und dadurch für uns selbst und andere mehr Empathie entwickeln.

Das Enneagramm begegnete mir erstmalig im Jahr 2002. Ich hielt ein Buch über diese alte Lehre in den Händen, die als eine der ältesten Typologien der Menschheit gilt – und war überwältigt ob des profunden Wissens über menschliche Persönlichkeiten. Während meines Studiums der Sozialpsychologie war ich auf kein anderes Modell gestoßen, das auch nur annähernd exakt und umfassend die intrinsische Motivation unserer Spezies beleuchtet. Ich war infiziert. Im Jahr 2003 begann ich, mein Wissen in Seminaren weiterzugeben. Und ich merkte mit den Jahren: So, wie ich das Wissen weitergebe und lehre, funktioniert es nicht.

Ich beobachtete, wie unzählige Seminarteilnehmer sich einem der Persönlichkeits-Typen, wie sie im Enneagramm beschrieben werden, zuordneten, sich mit den Beschreibungen vollends identifizierten – und damit falsch lagen. Ein Beispiel: Eine Teilnehmerin ordnete sich selbst dem Enneagramm-Muster 1 zu, weil sie sich selbst für perfektionistisch hielt. In ihrem Verhalten, Auftreten, ihrer gesamten Erscheinung wirkte sie jedoch auf die anderen Teilnehmer (und mich) wie Enneagramm-Typus 6 – also eher zurückhaltend, scheu und ängstlich anstatt streng, starr und korrigierend. Ihr Selbstbild unterschied sich deutlich von der Wahrnehmung der anderen Gruppenmitglieder.

Der blinde Fleck in der Arbeit mit dem Enneagramm

Dieses Phänomen, ich nenne es „Fehlidentifikation“, ließ mich nicht mehr los. Mir wurde klar:
Der eigene wahre Enneagramm-Typus ist unbewusst. Spannenderweise ist er aber für andere oft gut ersichtlich. Meine Mitmenschen können mein zum Teil unbewusstes, weil automatisiertes Verhalten viel objektiver wahrnehmen als ich selbst.

Mir wurde auch bewusst, dass in der beschriebenen Diskrepanz zwischen Selbstbild und Fremdbild die Ursache für fast alle unserer zwischenmenschlichen Konflikte zu finden ist. Und was ich noch beobachten durfte: Ein Mensch reagiert mit vehementem Widerstand, wenn man versucht, seinen „blinden Fleck“ aufzudecken, also wenn man ihm ungefragt sein unbewusstes Verhalten spiegelt. Was nichts bringt, denn es geht ja um Selbsterkenntnis und nicht um das Übernehmen äußerer Urteile. Auch wenn ich zu Beginn meiner Enneagramm-Arbeit sehr missionarisch unterwegs war (ich habe jedem, der es wissen oder nicht wissen wollte, meine Wahrnehmung seines Enneagramm-Typus auf die Nase gebunden): Heute spreche ich nicht mehr darüber, welches unbewusste Muster ich in einem Menschen sehe. Ich kann den Typus wahrnehmen, behalte ihn jedoch für mich. Das Erkennen des eigenen Enneagramm-Typus, also die Synchronisierung des eigenen Selbstbilds mit dem Bild, das andere von mir haben, birgt nämlich viele Offenbarungen in sich. Oft verstehen die Menschen ihr Leben rückwärts und beginnen, sich selbst zu lieben. Diese wertvollen Erfahrungen der Selbsterkenntnis möchte ich niemandem nehmen, indem ich ihn einem Enneagramm- Typus zuordne und ihm diesen mitteile.

Aus der Motivation heraus, Menschen in ihrem kraftvollen Prozess der Selbsterkenntnis zu begleiten und ihnen somit einen Zugang zu dem unbewussten Teil ihrer selbst zu erleichtern, habe ich die Key-to-see-Methode entwickelt. Sie wirkt als Turbo in dem Bestreben, den wahren eigenen Enneagramm-Typus zu erkennen. Als Coach oder Therapeut ist es zwar dienlich, den Enneagramm-Typus des Klienten zu kennen (dafür biete ich Ausbildungen an) – es kommt jedoch auch immer wieder vor, dass ich den Typus meines Coachees nicht auf Anhieb erkennen kann. Dem Erkenntnisprozess des Klienten tut das jedoch keinen Abbruch. Im Gegenteil: Manchmal erleben wir gemeinsam die eine oder andere Überraschung!

Die innere Maschine

Ein Beispiel aus der Coaching-Praxis: Eine Klientin kam nach drei gescheiterten Beziehungen ins Coaching mit der Frage, ob sie wirklich so beziehungsunfähig sei, wie ihre Ex-Partner sie beschrieben hätten. Sie war am Boden zerstört und tieftraurig darüber, dass es mal wieder – trotz großer Liebe und Anziehung – nicht geklappt hatte. Dabei hatte sie doch aus ihrer Sicht alles für die Beziehung getan: Beispielsweise fuhr sie mehrmals in der Woche auf dem Nachhauseweg am Supermarkt vorbei, um einzukaufen und für ihren Liebsten spät am Abend noch ein Candle-Light-Dinner zu zaubern. Teurer Rotwein inklusive.

Ich lud sie ein, die Key-to-see-Methode und dadurch sich selbst ganz neu kennenzulernen. Im ersten Schritt erklärte ich ihr, dass unsere drängendste Motivation im Leben unbewusst aktiv ist – wie eine innere Maschine, die permanent ein bestimmtes Produkt herstellt. Die Key-to-see-Methode unterscheidet zehn verschiedene Maschinen sprich Produkte, die als Fixierung der Persönlichkeit gesehen werden können. Ein rationaler Zugang zu diesen Produkten führt jedoch zu einer rein kognitiven Zuordnung anhand bestimmter Eigenschaften und Verhaltensweisen und damit nicht zu einem tiefen Verstehen. Also habe ich im Verlauf des Coaching- Prozesses meine Klientin in Gefühlswelten geleitet, die mit einem bestimmten Typus in Resonanz gehen. Ich benutze dazu eine Vielzahl von Techniken, die allesamt auf Metaphern und Bildern beruhen – weil diese einen direkten Zugang zum Unbewussten haben.

Um bei dem Beispiel der Klientin zu bleiben: Mir war bewusst, dass die Struktur ihrer Persönlichkeit auf Erfolg ausgerichtet ist. Dieser Typus ist unter anderem erkennbar an einem charmanten, eloquenten Auftreten, einem rasanten Tempo im Denken und Handeln und einer Tendenz zum Multitasking. Menschen mit dieser Persönlichkeitsstruktur sind die geborenen Verkäufer, haben ein maskenhaftes Auftreten, sind imagegeprägt und karriereorientiert bis hin zum Workaholic. Sie definieren sich über ihr Tun und nicht über ihr Sein.

Arbeiten ohne Limit

Das Tier, das diesem Enneagramm-Typus zugeschrieben wird, ist der Pfau. Die Assoziationen der Klientin zu den gezeigten Bildern: Stolz, Schönheit, Vorzeigen, sich präsentieren, „Schaut mich an“. Ich fragte sie, ob sie sich in diesem Verhalten wiedererkennt. Sie verneinte (was nicht verwunderlich ist, wenn der Enneagramm-Typus unbewusst ist). Im Folgenden sind wir darauf eingegangen, was es heißt, sich immer ein Ziel zu setzen und sich über Handlungen und Leistungen zu definieren. Den Anspruch zu haben, besser und schneller zu sein als andere und dem Drang zu folgen, die eigenen Leistungen für andere sichtbar zu machen, sprich: darüber zu sprechen. Menschen mit der Fixierung auf Erfolg arbeiten immer. Sie kennen kein Limit, keine inneren Grenzen, ihnen geht alles leicht von der Hand. Sie merken erst, dass ihre Batterien leer gelaufen sind, wenn sie schon mit der Nase an der Wand kleben. Und auch das merken sie oft nicht einmal, weil sie nicht nur andere, sondern auch sich selbst täuschen.

Erste Einsicht

An diesem Punkt des Prozesses hatte die Klientin eine erste tief gehende Einsicht: Sie reflektierte, dass sie selbst oft arbeitet bis zum Umfallen und sich das ganz gut verkauft: „Ist ja keine wirkliche Arbeit, weil es mir Spaß macht.“ Auf die Frage, warum sie das tut, warum sie ihre eigenen Grenzen nicht kennt und Raubbau an ihrem Körper vornimmt, sagte sie: „Wenn ich nichts leiste, bekomme ich keine Anerkennung. Wenn man mich nicht sieht, existiere ich gar nicht.“ Hier zeigt sich der diesem Muster zugehörige Schmerz: Sich verbiegen und verleugnen zu müssen, um den Anforderungen und Erwartungen der Eltern (Bezugspersonen) zu genügen und geliebt zu werden. So sein zu müssen, wie man sein soll, und nicht so, wie man wirklich ist.

Obwohl die Klientin immer noch zwischen verschiedenen inneren Maschinen hin und her schwankte, fing sie doch an, immer mehr in dieses Gefühl einzutauchen – auch wenn sie es zwischenzeitlich immer wieder abwehrte. Das immer tiefer gehende Erinnern lenke ich durch Abgleichgeschichten („kenne ich das – oder eher nicht?“). Zeitweise war es ein sehr humorvoller, aber immer auch schmerzhafter Prozess, der in einem positiven Schock mündete. Die Klientin berichtete, dieser Schock habe sich wie das Wegziehen eines Vorhangs angefühlt, der den Blick auf die Wahrheit über das wahre Ich bisher verhüllt hatte.

Film- und Gefühlswelten

In meinem Fallbeispiel fand der positive Schock während des vierten Coaching- Termins statt: Ich zeigte ihr eine Szene aus dem Film „Notting Hill“: Die Protagonistin Julia Roberts, im Film eine berühmte Hollywood-Diva, steht vor dem unscheinbaren Buchhändler (in den sie verliebt ist) und bittet ihn, sie einfach nur als das zu sehen, was sie ist: ein Mädchen, das geliebt werden will. Ohne ihre Rolle. Ohne ihre Maske. Ohne ihren Erfolg! Diese Szene thematisiert aufs Genaueste das unbewusste Muster des Enneagramm-Typus 3: Die Fixierung auf Erfolg. Die Steigerung des Selbstwertes über Ruhm und Anerkennung. Aber auch „mehr Schein als Sein“. Etwas tun, etwas Tolles leisten zu müssen, um geliebt zu werden. Dabei wünschte sich die Protagonistin des Films nichts sehnlicher, als einfach nur für das geliebt zu werden, was sie ist.

Key-to-see-Kroete-Typ-3Dieser Termin war sehr emotional und tränenreich. Meine Klientin erkannte, dass ihre Strategie, sich über Leistung zu definieren und dafür Anerkennung zu bekommen, in ihren Liebesbeziehungen nicht aufging. Dass sie auf andere maskenhaft und glatt wirkt, keinen Zugang zu ihren eigenen Gefühlen hat und sie diese in Beziehungen nicht ausleben kann. Sie musste ihr Selbstbild korrigieren. Dieser Prozess gleicht der Metapher, eine Kröte zu schlucken. In diesem Fall war es die gelbe, die folgendes ausdrückt:

„Sie laufen mit einer Maske durch die Welt, um Anerkennung zu bekommen und geliebt zu werden. Schwierig daran ist, dass Sie sich so sehr mit Ihrem Image identifizieren, dass Sie sich auch selbst damit täuschen. Eigentlich haben Sie sich selbst schon längst verloren. Und das ist auch das Problem in Beziehungen: Die anderen haben immer das Gefühl, nie wirklich zu Ihnen durchdringen zu können. Kein Wunder, Sie sind ja auch immer mit anderen Dingen beschäftigt – meistens mit Ihrem potenziellen nächsten Coup. Sie haben schon wieder zig neue Ideen, kreisen um sich selbst und hören den Menschen in Ihrem Umfeld gar nicht richtig zu. Die sind jedoch nicht auf der Welt, um Ihnen zu applaudieren und dadurch Ihren mangelnden Selbstwert auszugleichen.”

Der Schmerz über diese Erkenntnis wurde aber auch begleitet von einem intensiven Gefühl der inneren Befreiung: Sie verstand plötzlich ihr Leben rückwärts. Sie erkannte, dass sie im Job ständig bis zur Erschöpfung arbeitet und vor lauter schlechtem Gewissen darüber, ihrer Arbeit einen so hohen Stellenwert einzuräumen, zu Hause auch noch die perfekte Partnerin abgeben wollte. Ihre jeweiligen Partner wollten jedoch etwas anderes von ihr: Dass sie sich einlässt, dass sie da ist – ohne pompöses Abendessen, dafür präsent, wach und liebevoll. Und nicht schon wieder mit den Gedanken beim nächsten Erfolg.

Fazit: Der Klientin wurde im wahrsten Sinne des Wortes schlagartig bewusst, dass ihr bis dato unbewusstes Beziehungsverhalten einen wesentlichen Bestandteil ihrer immer wiederkehrenden Beziehungsprobleme ausmachte, und konnte dafür die Verantwortung übernehmen. Und sie erkannte, dass sie ihren mangelnden Selbstwert nur selbst ausgleichen und diesen Job nicht ihrem potentiellen Partner überlassen kann.

Bahnbrechende Erkenntnisse mit dem Enneagramm – und ein neues Leben

Ich habe oft erlebt, wie kraftvoll die Selbsterkenntnis mit Unterstützung des Enneagramms wirken kann. Meistens höre ich: „Hätte ich das eher gewusst, wären mir viele Dramen meines Lebens erspart geblieben.“ Hätte, hätte, Fahrradkette! Doch ich plädiere durchaus dafür, sich so früh wie möglich dem Prozess der Selbsterkenntnis zu widmen. Die Key-to-see-Methode kann der Schlüssel sein, um zwischenmenschliche Beziehungen im Leben zu verbessern und sich selbst lieben zu lernen. Manche Sozialpsychologen warnen, dass die uns nachfolgenden Generationen dabei sind, die Fähigkeit zur Empathie zu verlernen. Dieser Entwicklung möchte ich die Key-to-see-Methode entgegensetzen. Sie fördert ein tiefgehendes Selbstverständnis und gleichzeitig auch Einfühlungsvermögen, sprich: Empathie für andere. Denn wenn ich meinen eigenen blinden Fleck aufdecke, werde ich sensibler auf die blinden Flecke meiner Mitmenschen schauen. Ich habe es immer wieder gesehen: Das Aufdecken des blinden Flecks und die dazugehörige Erkenntnis, welcher unbewusste Mechanismus, welches unbewusste Muster, welche innere Maschine in uns aktiv ist, kann das eigene Leben grundlegend verändern.

 

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