von Barbara Stützel

Kommunikation ohne Sieger und Verlierer ist gar nicht so einfach

Die meisten Beziehungen sind so strukturiert, dass einer dem anderen über- oder unterstellt ist. Die Chefin gibt Anweisungen, der Lehrer bestimmt über die Schüler, und es ist noch nicht so lange her, da waren wir Frauen den Entscheidungen der Männer ausgeliefert. Unsere Zellen wissen dies noch, und immer wieder unterwerfen sich eher Frauen unbewusst den Männern als umgekehrt. In all diesen Strukturen gibt es eine Hierarchie, die in Konfliktsituationen entscheidet, wessen Bedürfnisse letztendlich Vorrang haben. Diese Klarheit vereinfacht das Leben. Und vermeidet Intimität und Kontakt.

Welche Art von Beziehungen wünschen wir uns?

Unsere Gesellschaft wandelt sich und baut Hierarchien ab, und immer mehr Menschen erkennen, dass es konstruktivere Wege gibt, Konflikte zu lösen als durch Machtpositionen. Und dass Lösungen, die verschiedene Bedürfnisse verbinden, nachhaltiger sind als die, bei denen sich eine Partei durchgesetzt hat. Wenn Beziehungen auf Augenhöhe gelebt werden, entsteht mehr Kontakt und tieferes Verständnis.

Aber dieser Weg auf Augenhöhe ist nicht einfach. Wir müssen ihn üben: Komplexität aushalten. Dem anderen zuhören. Nicht sofort eine Rechtfertigung parat haben. Keine Antwort wissen, sondern in der Spannung ausharren. Den eigenen Standpunkt überzeugend vertreten und gleichzeitig bereit sein, ihn loszulassen. Und gemeinsam das Wunder einladen, dass es Lösungen geben kann, in denen beide Parteien Sieger sind. Im Wissen, dass es nicht mehr darum geht, den anderen zu besiegen, sondern für alle das Beste zu erreichen.

Ein offensichtliches Übungsfeld sind Liebesbeziehungen. Zwischen Mann und Frau besteht der größte Wunsch nach wirklicher Beziehung. Die Zeiten, in denen der Mann automatisch für beide entschieden hat, sind in unserer Gesellschaft Gott sei Dank vorbei. Doch jetzt folgt die verblüffende Erkenntnis, dass alleine der Wunsch nach Augenhöhe nicht ausreicht. Es braucht ein bewusstes Üben. Sonst geben im Zweifelsfall die einen lieber nach, statt dass sie sich um verbindende Lösung bemühen. Und die anderen setzen sich immer noch durch, obwohl sie eigentlich wissen, dass „siegen“ auf Kosten des Gegenübers sich in der Liebe nicht auszahlt. Denn wenn einer verliert, verlieren beide. Es braucht Übung, Kommunikation, Transparenz. Authentische Mitteilungen, auch wenn es mal schmerzt. Respekt vor dem anderen, auch wenn der innere Vulkan kurz vor dem Explodieren ist. Leichter als zu zweit ist dies gemeinsam in einer Gruppe von Menschen, die sich bewusst dafür entscheiden, diesen Weg der „Augenhöhe“ zu gehen.

Sich von Herz zu Herz begegnen, den anderen unterstützen

In manchen Lebensgemeinschaften haben sich Menschen bewusst für ein Leben ohne Hierarchien entschieden. So experimentiert die ZEGG-Gemeinschaft in Brandenburg seit 25 Jahren mit Beziehungen auf Augenhöhe. 100 Menschen leben hier ohne Chef zusammen – und finden immer neue Wege, alle Mitglieder gleichberechtigt einzubeziehen und trotzdem ihren Alltag zu strukturieren, gemeinsam Entscheidungen zu treffen und Visionen einzelner Mitglieder ins Leben zu bringen. Die Basis dafür ist immer wieder: jeden Menschen als Ganzes sehen, sich von Herz zu Herz begegnen, den anderen in seiner Entfaltung unterstützen. Je mehr dies praktiziert wird, desto inniger wird der Zusammenhalt der Gruppe. Je klarer und herzlicher die Kommunikation, desto lebendiger wird die Gemeinschaft. Und es braucht immer wieder Übung, Aufmerksamkeit, Einsatz. In der Gemeinschaft nehmen sich Untergruppen und die Gemeinschaft als Ganzes mehrere Zeiten im Jahr, in denen Beziehungen, Gefühle und Konflikte im Mittelpunkt stehen. Dabei lernt jede(r) Einzelne, selbstverantwortlich mit Ge fühlen und Bedürfnissen umzugehen.

Da das ZEGG nicht nur eine Lebensgemeinschaft, sondern auch ein Bildungszentrum ist, erwachsen aus diesen Intensivzeiten Festivals mit dem besonderen Gemeinschafts-Flair. Hier führen die gemachten Erfahrungen zu Angeboten für Gäste. Dieses Jahr geht es z.B. beim Pfingstfestival um das Thema Beziehungen – zwischen Mann und Frau, im Beruf oder im Umgang mit Kindern – und wie wir in uns die Grundlage schaffen können, Beziehungen wirklich auf Augenhöhe zu führen. Denn wenn immer mehr Menschen auf der Welt aus dem Spiel der Sieger und Verlierer aussteigen und fähig werden, verbindende Lösungen zu erschaffen, dann steigt die Hoffnung auf Frieden.

Über den Autor

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Dipl. Psych. und Psychologische Psychotherapeutin, Yoga-Lehrerin, Sängerin und Gemeinschaftscoach, geb. 1966 in Saarbrücken

1997 führte sie die Sehnsucht nach einem selbstbestimmten, nachhaltigen und intimen Miteinander ins ZEGG. Seit 2001 lebt sie in der Gemeinschaft und leitete dort viele Jahre Festivals, Seminare und die Öffentlichkeitsarbeit. Das Wirken von Barbara Stützel liegt an der Schnittstelle von Gemeinschaft, Kreativität und Heilung – dort, wo Menschen zusammen kommen, um ihr Potenzial zu erweitern und ein Leben in größerer Verbundenheit zu leben.

Heute begleitet sie vorrangig Gruppen zu der Frage, wie aus vielen Ichs ein bewusstes und heilendes Wir entsteht. Dazu gehören Forumsworkshops und Forumsleitungsausbildungen (in Frankreich, Brasilien und Spanien sowie Transfor(u)m in Deutschland), Gesangsworkshops, Gemeinschaftsberatungen und jährliche Tantra Yoga Lehrer Ausbildungen (Durgas Tiger School). Hier fließen ihre Erfahrungen aus der Arbeit als Dipl. Psychologin und Künstlerin genauso ein wie über 20 Jahre Gemeinschaftserfahrung. Ihre Arbeit ermöglicht einen Raum von Präsenz und Kontakt, in dem hindernde Strukturen wahrgenommen werden und neue innere Bewegungen entstehen. Die Integration von Geist, Körper, Gefühlen, Kreativität ermöglichen einen ganzheitlichen Zugang zum Menschsein und eine Öffnung für die Möglichkeiten der Zukunft.

www.zegg.de 
www.durgas-tiger-school.com

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