Am Rande der 4. Internationalen Degrowth-Konferenz in Leipzig sprach Kontext TV mit Jean-Louis Aillon, einem der Gründer des italienischen „Movimento per la Decrescita Felice“ – der Bewegung für das glückliche Schrumpfen der Wirtschaft.

Jean-Louis Aillon: Uns gefällt der Begriff Degrowth – Ent-Wachstum – gerade weil oft kritisiert wird, dass er so nach Schrumpfung klingt. Das glückliche Schrumpfen der Wirtschaft scheint ein Widerspruch, aber genau darum geht es gesellschaftlich: um die Wiederherstellung des Wohlbefindens und zugleich um den Respekt vor den sozialen und ökonomischen Grenzen unseres Tuns.

Für unsere Bewegung ist es sehr wichtig, der Kommerzialisierung etwas entgegenzusetzen, Dinge dem Markt zu entziehen. Unser Zugang zum Thema Degrowth ist prag – matisch, wir versuchen Theorie und Praxis zu kombinieren. Unser Ziel ist es, Menschen, die Bücher über das Thema lesen und möglicherweise frustriert sind, weil sie nicht wissen, was sie jetzt tun sollen, Werkzeuge an die Hand zu geben: Werkzeuge, die ihnen helfen, sich in ihrer Stadt zu organisieren.

Wir haben vier Säulen für unsere Aktionen. Bei der ersten geht es um neue Lebensformen. Wir unternehmen verschiedenste Aktivitäten wie zum Beispiel städtisches Gärtnern. Wir nennen das unsere „Universität der Eigenproduktion“. Wir organisieren Gratiskurse, in denen wir Leuten beibringen, wie man Dinge selber produzieren kann.

Bei uns lernt man zum Beispiel, wie man Käse macht, elektrische Geräte repariert oder Make-up herstellt. Diese neuen Lebensformen, die wir ausprobieren, fördern die Gemeinsamkeit und Geselligkeit. Das ist in gewisser Weise der Fun-Part. Ein anderer Aspekt ist Politik. Wir organisieren lokale politische Aktionen. Wir protestieren etwa gegen eine Müllverbrennungsanlage, besetzen Plätze und mobilisieren Unterschriftenaktionen. Wir stellen uns diesem Kampf. Technologie ist ein weiteres Feld, und das noch größere Gebiet, das wir abdecken, ist eine kulturelle Revolution.

Gesundheit jenseits von medizinischem Konsum

In Italien haben wir außerdem gerade ein Netzwerk gegründet, das sich „Gesundheit und Nachhaltigkeit“ nennt, gemeinsam mit 21 Organisationen, die auf dem Gebiet der Gesundheit arbeiten. Wir haben das internationale Manifest von Bologna unterzeichnet, in dem steht, dass Wirtschaftswachstum nicht nur aus ökonomischen, sozialen und Umwelt- Gründen nicht nachhaltig ist, sondern auch in Bezug auf die Gesundheit. Um Gesundheit zu fördern und zu schützen, müssen wir das derzeitige gesellschaftliche System überwinden und über das Wachstumsprinzip hinausgehen. Unsere Gesundheit wird zu 60 Prozent von sozialen und Umweltfaktoren bestimmt wie Verteilungsgerechtigkeit, dem Funktionieren unserer sozialen Sicherungssysteme oder der Qualität von Luft, Wasser, Boden und Nahrung. Unsere Gesellschaft investiert viel Geld in das Gesundheitssystem. Doch diese Investitionen haben nur einen begrenzten Effekt auf unsere Gesundheit, sie machen nur etwa 20 Prozent aus.

Auf der anderen Seite beutet die Gesellschaft durch ihr ökonomisches Handeln Menschen und Umwelt aus. Das ist also nicht nachhaltig, und wir müssen darüber hinausgehen und jenseits von medizinischem Konsum und der Erfindung immer neuer Krankheitsbilder zu einer neuen Art von Fürsorge finden, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt. Für uns ist der Mensch nicht eine Maschine, sondern ein bio-psychisches, soziales, spirituelles Wesen in Beziehung mit anderen. Das sollten wir beachten. Der Heilungsprozess darf nicht nur in Krankenhäusern mit neuesten Technologien stattfinden, sondern sollte die Menschen als Ganzes in vielfältigen Beziehungen einbeziehen. Gesundheit ist nicht etwas, was man kaufen kann. Man muss aktiv und gemeinschaftlich daran mitwirken und in einen Prozess treten, der Gesundheit bewusst fördert, nicht nur einzelne Probleme kurzfristig lindert.

Ich denke, dass die Krise, die wir gerade in Italien und anderswo erleben, eine Chance für all diese Veränderungen sein kann. Aber wir brauchen Mittel, um uns zu organisieren und diese Veränderungen zu gestalten. Denn wenn uns das nicht gelingt, dann drohen uns Barbarei, Diktatur oder dergleichen. Als “Movimento per la Decrescita Felice” versuchen wir, in dieser Übergangsphase einen Wandel zu erreichen. Menschen haben ein enormes Potential. Man muss sich zusammentun und versuchen, gemeinsam etwas auf die Beine zu stellen. Aber jede Gruppe ist anders. Es geht nicht darum, zu tun, was in irgendeiner Bibel steht, sondern das, was man mag, was man fühlt! Man muss es mit Kreativität tun, dann hat es großes Potential. Es fängt jetzt in Italien an – vielleicht nicht nur in Italien – und es ist offen, wohin es gehen wird.

Eine Antwort

  1. Elisabeth Walther
    Die Zeit ist reif ....

    Genau diese Ideen finden in den Zielen der Violetten wieder. Ich setze mich seit kurzem dafür ein, dass diese Ideen und Wertvorstellungen auch ihren Einzug in den politischen Alltag finden. Viele Jahre, als Vorsitzende einer Umweltbewegung, Rudolf-Steiner-Mutter,, Prananahrung, Buchautorin und vielen anderen Erfahrungen, habe ich mich entschieden, meine Zeit dafür zu investieren diese Werte einer größeren Öffentlichkeit vorzustellen und ihnen in den Parlamenten eine Stimme zu verleihen.
    Die Zeit ist reif und es ist hilfreich sich zu vernetzen und auszutauschen. Elisabeth Walther

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