Ashish Kothari, Mitbegründer der indischen Umweltorganisation Kalpavriksh und Vorsitzender von Greenpeace Indien, hat über dreißig Bücher zu Umwelt- und ­Gerechtigkeitsthemen veröffentlicht. Zusammen mit Aktivisten und Forschern aus aller Welt entwickelte er das Konzept einer ­„radikalen ökologischen Demokratie“. Kontext TV sprach mit ihm über dieses Konzept und die ökologische und soziale Situation in Indien.

In den letzten zwei Jahrzehnten hat Indien erstaunliche Wachstumsraten erlebt.

Was sind die ökologischen und sozialen Folgen dieses Wachstums?

Ashish Kothari: Seit 1991 ist ­Indien in eine neue ökonomische Phase eingetreten und hat sich der Weltwirtschaft geöffnet – mit zum Teil sehr hohen Wachstumsraten. Wir haben das detailliert analysiert und herausgefunden, dass in praktisch allen wichtigen Bereichen – sei es Armut, soziale Ungleichheit oder Umweltbelastung, Arbeitsplätze oder Existenzsicherung – die Situation sich nicht nur nicht verbessert hat, sondern für die ärmere Hälfte Indiens sogar noch schlimmer geworden ist, als sie es je war. Selbst wenn die Löhne in einigen Fällen gestiegen sind, müssen die Menschen in vielen anderen Fällen immer mehr entbehren: gutes Essen, sauberes Wasser, saubere Luft, Zugang zu Bildung und Gesundheit. Wir ­stellen also fest, dass eine Vielzahl von ökonomischen, sozialen, kulturellen und ökologischen Aspekten negativ beeinflusst wurden. Ökologisch sind wir klar auf einem nicht-nachhaltigen Kurs. Das zeigt sich in allen durchgeführten Studien; es zeigt sich auch daran, dass Indien zunehmend andere Länder kolonisiert – indem es sich des fruchtbaren Bodens, der Wälder und anderer Ressourcen von schwächeren Staaten bemächtigt. Indien, als ein Land, das 200 Jahre kolonisiert wurde und all die ­destruktiven Folgen davon erlebt hat, tut jetzt anderen dasselbe an – und zwar aufgrund eines ökonomischen Modells, das uns zwingt, sowohl nach innen hin unsere ­eigene Bevölkerung zu kolonisieren – vor allem die indigenen Volksgruppen – als auch nach ­außen hin schwächere Staaten.

Als Alternative zu dem gegenwärtig dominierenden System schlagen Sie eine „radikale ökologische Demokratie“ vor. Was verstehen Sie darunter?

Ashish Kothari: Radikale ökologische Demokratie ist im Grunde ­eine simple Idee. Die heutige Form der Demokratie ist eine ­repräsentative Demokratie und keine echte Demokratie, weil wir nur einmal alle vier oder fünf Jahre wählen und es dann im Grunde den Gewählten überlassen, das zu tun, was für uns – angeblich – richtig ist. Und wir wissen, dass das oft nicht in unserem Sinne läuft. In einer radikalen oder direkten Demokratie geht es darum, dass jeder von uns Verantwortung übernimmt, Teil nimmt und das Recht hat, an ­Entscheidungen, die unser Leben be­einflussen, Teil zu haben. Das ist der ­radikale oder direkte Aspekt dieser Demokratie. Aber die Entscheidungsfindung muss auch die Ökologie berücksichtigen und für soziale Fragen sensibel sein, damit nicht die Hälfte der Menschheit im Stich gelassen wird. Radikale ökologische Demokratie ist also eine Form
von Entscheidungsprozess, der auf Nachhaltigkeit, Verteilungsgerechtigkeit und der Mitwirkung von allen beruht.
Für radikale ökologische Demokratie gibt es jede Menge Beispiele. Im Zentrum Indiens etwa gibt es ein kleines indigenes Dorf, das exemplarisch für diese Ideen steht. Die Leute dort sagen: In Delhi und Mumbai ist die Regierung, die wir wählen. In unserem Dorf sind wir die Regierung. Dieses Dorf verwaltet sich praktisch seit dreißig Jahren selbst: Sie fällen Entscheidungen im Konsens, und der Staat kann dort nicht ohne Genehmigung des Dorfrats intervenieren. Sie bemühen sich auch, für ihre ­Entscheidungen eine adäquate ­Wissensgrundlage zu schaffen, die ­einerseits auf ihrem lokalen, tradi­tionellen Wissen beruht, auf der ­anderen Seite werden aber auch Menschen von außerhalb einge­laden, sodass es eine solide Grund­lage gibt, um Entscheidungen zu ­fällen. Es gibt viele solcher Beispiele, wo Menschen den Entscheidungsprozess selbst in die Hand nehmen.

Wie reagiert die indische Regierung auf diese Initiativen?

Ashish Kothari: Es ist unmöglich, das zu generalisieren. Es gibt Regionen in Indien, in denen diese Dörfer mit Repressionen rechnen müssen – finanzielle Zuwendungen werden gekürzt, die Leit­figuren der Bewegung öffentlich durch falsche Beschuldigungen diskreditiert –, in anderen Regionen werden sie dagegen sogar von der Regierung unterstützt. Das hängt natürlich auch davon ab, wie bedrohlich die Aktionen eines einzelnen Dorfes für die nationale Politik sind und wie hoch der Einfluss dieses Dorfes auf die ganze Region ist.

Eine Antwort

  1. Jochen
    Oh, schon vorbei?

    Leider ziemlich kurz dieses Interview, dabei hat es so spannend begonnen …
    Von dem Demokratiekonzept kommt in dem knappen Rahmen auch nicht viel rüber, aber mich erinnert das Wenige an Vandana Shivas Buch »Erddemokratie«.

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