(über die Kunst, sich nah zu sein)

Interview mit Stephan Ludwig

Direktor und Seminarleiter des Orgoville-Hamburg

Frage: Welche Bedeutung hat das wachsende Angebot von Frauen und Männergruppen? Ist die Geschlechtertrennung ein notwendiger Schritt auf dem Weg zu einem wahrhaftigerem Leben?
SL: Um es vorwegzunehmen: natürlich ist die Arbeit in getrennten Männer- und Frauenkreisen im strengen Sinn kein notwendiges Element des eigenen Erkenntnisweges. Aber es ist für bestimmte Menschen eine ungeahnte Chance, etwas über sich selbst zu erfahren, was anders nur sehr schwer zugänglich ist. Zum Beispiel die Erfahrung purer weiblicher oder männlicher Urkraft. Das wirklich am eigenen Leibe zu spüren, das ist eine bewegende Erfahrung. Du kannst das natürlich in dir selbst erwecken, aber in einer Gruppe von Frauen oder Männern, die sich auf die gleiche Entdeckungsreise machen, ist die Erfahrung leichter und tiefergreifender. 

Frage: Welche Bedeutung hat die Männer- und Frauenarbeit im Konzept des Orgoville Hamburg?
SL: Ich sehe es so, daß in unserer Zeit und in unserer Kultur eine bestimmte Energie der Verbindung und der gegenseitigen Stärkung zwischen Männern und Männern und zwischen Frauen und Frauen verlorengegangen oder zumindestens ver-
kümmert ist. Häufig begegnen wir uns in einem unterschwelligen Kontext von Konkurrenz. Wer ist der bessere Mann? Wer ist die tollste Frau?
Erlauben wir uns eine kleine innere Reise in die Vergangenheit: Was geschah in den Seelen der Männer, die sich versammeln, um gemeinsam auf eine gefährliche Jagd zu gehen?
…  und welche Atmosphäre umgab den Kreis von Frauen, die sich in einer Vollmondnacht an einem besonders kraftvollen Platz in der Natur zu einem Reinigungsritual trafen? Auf dem Erdboden sitzend, schmelzend und schwitzend bis an die Grenze ihrer persönlichen Kraft? Ich möchte das als Bilder verstanden wissen: Energie von Menschen, die sich in existentiell bedrohlichen Situationen befinden, die beten und die klärende Worte aussprechen. Das ist eine bestimmte energetische Qualität! Kein Raum für Fassaden. In diesen Bildern geht es um wirkliche Nähe. Um Intimität. Um Nähe zum Puls des Lebens, Nähe zu anderen Männern und Frauen. Die Kraftkreise der Männer und der Frauen sind eine wunderbare Hilfestellung, um diese archaischen, verbindenden Kräfte in uns zu erwecken und eine energetische Lücke in uns zu schließen.
Und dabei ist die Trennung von weiblicher und männlicher Energie in getrennten Kreisen kein Selbstzweck, sondern wir benutzen die Struktur der Trennung, um etwas Bestimmtes in uns zu kristallisieren, was mit der Kontur unseres Lebens zu tun hat. Wir fragen uns, wer wir als Mann oder als Frau wirklich sind, wenn wir aufhören, den äußeren Bildern des Mannseins, des Frauseins nachzulaufen? Was lehrt uns unsere persönliche Geschichte der Mann-werdung, der Frau-werdung? Welche Verletzungen haben Spuren hinterlassen? Was ist dein Anliegen, deine Botschaft, dein Weg … ?  Und dann führen wir die Männer und Frauen in unserer Arbeit wieder zusammen, einfach weil wir das im Leben auch nicht getrennt halten können und weil wir wollen, daß die neuen Erfahrungen im Kraftkreis der Männer und im Schutzkreis der Frauen wieder unserer Beziehungsfähigkeit und der Tiefe unserer Begegnungen zwischen Mann und Frau zugute kommen. Wir verstehen das als Arbeit am Selbst und als Beziehungsarbeit zugleich.

Frage: Was kann für einen Seminarteilnehmer oder eine Seminarteilnehmerin im Kreis der Frauen oder im Kreis der Männer geschehen?
SL: Eine Erfahrung, die fast alle Teilnehmer machen, ist, daß eine gewisse Grundspannung wegfällt und daß wir uns freier und leichter fühlen. So als würde ein innerer Motor abgestellt und eine tiefere organismische Entspannung beginnt. In diesem Klima entstehen Vertrauen und Nähe, wir tauschen uns aus über das, was uns in der Tiefe bewegt und lassen uns von dem bewegen, was andere Männer oder Frauen fühlen und empfinden. Wir lernen voneinander, spüren unsere Sehnsüchte und lassen uns von anderen Frauen und Männern zu etwas Neuem inspirieren.
Schlüsselerfahrungen sind die empfundene Tiefe und Offenheit, die uns in unserem eigenen Mann-sein oder Frau-sein tiefer verankern. Und natürlich die Arbeit mit dem erotischen Selbstbild: Wieweit erlaube ich mir, mit meinem instinktiven Teil da zu sein, mit meiner Liebe, mit meiner Zärtlichkeit und Sinnlichkeit. Im Kontakt, in der Gruppe, in meiner Sexualität oder in meinem Alltag? Fühle ich mich wirklich als Mann, als Frau? Oder verwirrt und verunsichert mich die Frage: Wer bist du als Frau? Wer bist du als Mann?
Es ist eine ungewöhnliche Chance,  das eigene Mann-sein oder Frau-sein in den Gesichtern, den Körpern und den Herzen von Menschen zu spiegeln, die das Leben aus der gleichen Perspektive erfahren wie du. Es schafft eine enorme Intimität und Nähe, die eigenen Erfahrungen mit Menschen zu teilen, die sich in ihren Beziehungen auf die gleiche Weise bemühen und erfreuen wie Du und die ihre Sexualität mit dem gleichen Körper wie Du erleben. Aus diesem Raum erwächst ein neues Gefühl für dich selbst und eine ungeahnte Form von Unterstützung und Leichtigkeit kann in dein Leben kommen.

Frage: Was sind die Quellen der verändernden Kraft dieser Arbeit?
SL: Der grundlegendste Prozeß ist die Umgestaltung des Selbstbildes als Mann oder als Frau. Was ich darüber denke, wer ich als Mann oder Frau bin oder nicht bin, bestimmt in großem Ausmaß, was ich mit mir und in meinen Beziehungen erfahre oder vermisse! Die bewußte Wahrnehmung des Selbstbildes entfaltet eine enorme Kraft in unserem Leben. Wir entdecken die ungenutzten Potentiale, die blinden Flecken unseres Energiehologramms und natürlich auch unsere Angst vor Veränderung. Für den einen kann das die Befreiung der eigenen initiatorischen Kraft sein, für jemand anderen die Entdeckung des wilden Mannes, der wilden Frau, der unbändigen Lust am Leben. In gewissem Sinn werden wir zu Pionieren, weil wir bereit sind, das alte Selbstbild loszulassen und uns in dieser Arbeit neu zu entdecken.
Und es gibt eine magische Komponente, wenn sich die Männer und die Frauen in getrennten Kreisen treffen. Und diese Magie hat ihren Ursprung in kollektiven Erinnerungen an Rituale, Zeremonien und Initiationen, die nur unter Männern oder nur unter Frauen stattfanden. Fast alle alten Kulturen verfügten über Rituale, in denen sich Männer und Frauen in getrennten Energiekreisen versammeln. In diesen Ritualen herrschte ein Klima tiefer Verbundenheit, Nähe und Verletzlichkeit, das ein tiefes Eintauchen  in die Mysterien des Mann-seins, des Frau-seins und des Mensch-seins möglich macht.

Frage: Die Zusammenführung von Männern und Frauen ist also ein Bestandteil der Seminararbeit. Gibt es dafür eine besondere Form?
SL: Der Rahmen für die Zusammenführung ist ein mehrstündiges Ritual, in dem jeder einzelne sehr viel Freiheit hat, seinen oder ihren eigenen Weg in die Verbindung zu finden. Das Wichtigste ist das Klima des Respekts und der Behutsamkeit, in welchem die Zusammenführung geschieht. Die Frauen und die Männer kommen aus unterschiedlichen Energiefeldern und bringen unterschiedliche Erfahrungen und Schwingungen mit. Das ist spannend und bringt etwas Unvorhersehbares in dieses Ritual. Die Zusammenführung ist ein komplexer und feierlicher Einstimmungsprozeß, der symbolisch für jede Begegnung zwischen Mann und Frau vollzogen wird. Das Zusammenführungsritual hat eine kollektive Heilungskomponente, die in den Alltag aller Teilnehmer hineinwirkt.

Frage: Gibt es eine gesellschaftliche Dimension in deiner Arbeit?
SL: Man muß den größeren Rahmen sehen, in dem diese Arbeit steht. Wir trennen die Energien, um sie auf einer höheren energetischen Ebene wieder zusammenzuführen. Damit stehen wir in der Tradition des alchymistischen Grundsatzes: Löse und binde! Wenn dieser Prozeß gelingt, mündet das in eine neue Beziehungs- und Lebensqualität. Und genau dort braucht unsere Zeit Impulse! In den alten Modellen von Begegnung und Beziehung sieht man immer seltener glückliche Menschen, obwohl es nicht am beiderseitigem Bemühen mangelt. Es ist wie eine Dissonanz zum Zeitgeist. Damit müssen wir uns auseinandersetzen: Wie wollen wir unsere Beziehungen leben? Immer mehr Menschen flüchten sich ins scheinbar freiheitlich-autonome Single-dasein. Häufig führt das zu einer inneren Vereinsamung oder zum Kontaktkonsum, also zu einer Verflachung des gefühlten Kontakts und der gelebten Beziehungen. Wir sind auf dem Weg zu neuen Formen der Begegnung von Menschen. Die innere Qualität von Begegnung und Beziehung ist uns wichtig und die Tiefe, mit der wir uns ausdrücken und einbringen können. Das heißt, zuerst kommt für uns die Beziehung zu uns selbst. Die eigene Tiefe auszuloten und zu erforschen ist die Voraussetzung für erfüllte Beziehungen. Wir dürfen keine Tiefe in Beziehungen erwarten, solange es uns an Tiefe, an Liebe und Mitgefühl, an Ausdruckskraft und am Mut, uns selbst zu riskieren, ermangelt. Und dann kommt die Qualität der Beziehung und schließlich die äußere Form, in der sie gelebt werden kann. Natürlich hat das eine gesellschaftlich relevante Dimension. Wir schaffen einen Kontrapunkt in unserer immer schneller werdenden und reizüberfluteten Welt. Wir laden ein zum Innehalten, zur Verlangsamung, zu einem Sich-Zeit-nehmen für sich und für den Kontakt mit anderen Menschen. Samenkörner von Bewußtheit, Achtsamkeit, Einfachheit und Menschlichkeit. Was braucht unsere Zeit dringender?

Frage: Was ist das wichtigste Anliegen deiner Arbeit?
SL: Wir arbeiten fast immer in einem größeren Team. Deshalb möchte ich an dieser Stelle für das Orgoville Hamburg sprechen. Wir verstehen uns als eine Lebens- und Beziehungsschule. Unsere Seminare und unsere offenen Treffpunkte sind Übungsräume für Menschen, die sich selber lieben und in ihren Herzen die Sehnsucht nach Freiheit, Liebe und Verbindung spüren. Wir machen eine lebensnahe Bewußtseinsarbeit, die Spaß macht und die in die eigene Tiefe führt. Wir lieben es, dafür einen ästhetischen äußeren Rahmen zu schaffen, in dem Heilungsprozesse in Achtsamkeit und Natürlichkeit geschehen können.
Ich weiß, daß es nicht leicht ist, in unserer Zeit, Begegnung, Beziehung und Partnerschaft mit der Qualität von Tiefe, Freude und Leichtigkeit zu leben, wie es sich die meisten von uns wünschen. Gerade deshalb brauchen wir diese Räume, wo wir uns üben in der Kunst, sich nah zu sein: sich selbst, dem eigenen Herzen, den Gefühlen anderer Männer und Frauen und dem größeren Ganzen.

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