Kriegsereignisse hinterlassen – wie alle traumatischen Ereignisse – bei den Personen, die sie direkt erleben, eine oft stark zerrüttete psychische Struktur. Werden diese Menschen Eltern, geben sie die entsprechenden Muster unbewusst an ihre Kinder weiter – denn sie können nur das geben, was sie sind. Allein eine Aufarbeitung dieser Kriegstraumata kann hier den Kreislauf des Leidens beenden.

Kriegstraumata – das Thema drängt immer mehr an die Öffentlichkeit, auch wenn es in der Psychotherapie immer noch viel zu wenig Beachtung findet. Wenn wir den Fernseher einschalten, sehen wir vor allem Eines: Schrecken und Gewalt. Dazu Flüchtlingsströme von Menschen, die nicht nur in ihrem Heimatland Krieg, Armut, Hunger, Vertreibung und Gewalt erlebt haben, sondern die auf der Flucht nach Europa ebenfalls großen Risiken und lebensgefährlichen Umständen ausgesetzt sind. Wie geht es diesen Menschen? Wie wird ihre Zukunft sein? Wie werden sie in der neuen Gesellschaft zurecht kommen? Was bedeuten diese Torturen für ihre Kinder?

All das frage ich mich als Traumatherapeutin und brauche nur ins eigene Land zu schauen, auf unsere deutsche Geschichte, um Antworten zu finden. Und ich betrachte diese Geschichte nicht aus der Perspektive dessen, was wir als Deutsche anderen Völkern angetan haben, das bleibt unbenommen, sondern aus der Perspektive des einzelnen Menschen, der den Krieg erlebt hat.

Ich möchte dabei einmal von den heute älteren Menschen sprechen, die während des Zweiten Weltkriegs geboren wurden, den sogenannten „Kriegskindern“, aber auch von ihren Kindern, den „Kriegsenkeln“ (Siehe auch Sabine Bode, „Die vergessene Generation“). Erstere sind heute in den Siebzigern und älter, viele von ihnen schon in Alten- und Pflegeheimen. Dort brechen nach Jahren des Schweigens und Verdrängens, im hohen Alter, die Erlebnisse des Zweiten Weltkrieges wieder auf: Bombardierung, Vergewaltigung, Hunger, Vertreibung, Heimatverlust, um nur einige zu nennen – ein Schrecken, der für uns unvorstellbar ist. Die Pflegenden sind mit den Alten und ihren Erinnerungen häufig überfordert, Hilfe gibt es kaum.

Massive Beeinträchtigungen durch Kriegstraumata

Als Traumatherapeutin habe ich also kaum mit diesen alten Menschen zu tun, sie schaffen es schlichtweg nicht in meine Praxis bzw. es interessiert niemanden oder ist auch nicht bekannt, dass selbst Menschen im hohen Alter mit einer entsprechenden Traumatherapie geholfen werden könnte.

Ich habe es eher mit den Kindern der Kriegskinder, den Kriegsenkeln zu tun. Sie kommen zur normalen Traumatherapie in meine Praxis und ab und an wird klar, dass es da noch etwas anderes gibt als die typischen Lebensereignisse, die Trauma verursachen, etwas, das noch viel mehr im Dunkeln liegt, weniger greifbar ist und doch unter Umständen massiv in das Leben des Betroffenen eingreift. Genau deshalb möchte ich darüber schreiben, über den Krieg und seine Folgen, gerade für die nachfolgenden Generationen. Dazu werde ich ein Beispiel aus meiner Praxis verwenden und kursiv immer wieder Erläuterungen dazu geben.

Herr A. ist 48 Jahre alt. Seine Mutter wurde 1930 geboren. Sie stammt aus Ostpreußen, aus einer ländlichen Gegend. Auf dem elterlichen Gut musste sie schon früh mitarbeiten. Mit dem Krieg kam sie erst 1944 in Kontakt, als die Nazis in Polen einmarschierten.

Nachweislich ist es so, dass die Kinder, die erst in der späteren Kindheit mit dem Krieg konfrontiert wurden und noch die Möglichkeit hatten, eine relativ unbeschwerte Kindheit zu erleben, eine höher Resilienz (Widerstandskraft) entwickeln konnten – gerade im Umgang mit den Kriegstraumata – als die Kinder, die direkt während des Krieges zur Welt kamen. Auf die Mutter von Herrn A. trifft das zu. Wie wir nachfolgend sehen werden, ist es enorm, was sie in ihrem Leben geschafft hat, trotz unvorstellbarer Traumatisierungen.

Kriegstrauma und Erinnerungslücken

Mutter A. musste 1944 flüchten, leider zu spät, sie geriet zwischen die Fronten. Im Januar 1945 wurde die gesamte Familie in russische Lager deportiert. Sie musste dort drei lange Jahre verbleiben: Unzählige Vergewaltigungen, Typhus, Malaria, Hunger und Erfrierungen waren an der Tagesordnung. Gearbeitet wurde in der Landwirtschaft bzw. es mussten Gräben ausgehoben werden, um die vielen Leichen zu verscharren.

1948 ging es in ein Auffanglager, nach Friedland/Schleswig Holstein – dort erlitt Mutter A. einen Gedächtnisverlust und wurde apathisch. Sie konnte sich an nichts mehr erinnern. Sie beschreibt es selbst so, dass ihr „Bewusstsein“ erst viel später wieder einsetzte und die Erinnerungen zurückkamen. Danach sagte Mutter A.: „Ich habe vor nichts mehr Angst. Ich habe so viel Schlimmes erlebt, mir kann nichts mehr Angst machen.“

Das stimmt so natürlich nicht, die Angst gab es natürlich, sie war nur weitestgehend verdrängt und kam in eher kleinen Episoden zum Vorschein. Im Alter jedoch bricht sie massiv und unerwartet auf.

Von Friedland ging es weiter nach Sachsen, zu einem Teil ihrer Familie. 1953 sollte sie dort mit einem älteren Mann verheiratet werden. Das wollte sie nicht und floh nach Berlin zu einer Tante. In Berlin machte sie eine Ausbildung zur Krankenschwester, ein ganz alter Jugendtraum ging damit in Erfüllung.

Hier zeigt sich nochmals die hohe Resilienz von Mutter A. – sie schaffte es, ihren Jugendtraum umzusetzen, genauso wie sie es schaffte, sich gegen die Heirat zu wehren. Sie konnte für sich einstehen und sorgen.

Mutter A. sagt heute, das war ihre schönste Zeit, sie habe damals ihre Jugend nachgeholt und einfach gelebt. 1961 lernte sie dann den Vater von Herrn A. kennen. Damit ging ein weiterer Wunsch in Erfüllung – sie wollte eine Familie gründen. Das war eine ganz bewusste Entscheidung von ihr.

Schnelles Überfordert-Fühlen als Folge von Kriegstraumata

1963 wurde mein Klient, Herr A. geboren. Vier Jahre später ein Bruder. Die Familie lebte im Grünen, in einem Haus mit Garten, musste jedoch sehr sparsam sein.

Wie beschreibt nun Herr A. seine Kindheit? Herr A. erlebte seine Mutter als Kind als sehr verunsichert in ihrer Rolle als Mutter. Sie war da, aber nicht sehr feinfühlig, oft hilflos, schnell überfordert, wenn die Dinge über Alltagspraktisches hinausgingen. Das heißt (Kriegsfolge), das Überleben von Herrn A. wurde gesichert, aber es ging nicht um eine Förderung von Herrn A., darum, was ihn ausmachte, welche Persönlichkeit er hatte. Es ging schlichtweg nur um „Funktionieren“. Herr A. fühlte sich von seiner Mutter nicht gesehen. Im Gegenteil, die Mutter wollte von ihm verstanden werden, als Kind musste sich Herr A. oft die Kriegsgeschichten der Mutter und der Tante anhören, auch über so traumatische Sachen wie verstorbene Kinder im Flüchtlingstreck.

Ruhige Momente gab es in der Familie selten, es musste immer irgendwie „Drama“ sein. Permanenter Stress, Streit und Chaos waren normal. Ruhige Momente waren von einer Sehnsucht und Traurigkeit erfüllt.

Es ist sehr sicher, dass Mutter A. unter einer „Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS)“ leidet. Ein derartig aktiviertes Nervensystem macht vor allem eines – es verursacht Stress, nicht nur im Inneren, sondern auch im Außen. Daher das Chaos und der permanente Stress in der Familie. Mutter A. ging es, wie im Krieg, nur um das blanke Überleben, das musste reichen. Sprich: Ihr ganzes System hat noch so funktioniert wie im Krieg. Ein genaues Hingucken und -fühlen, was ein Kind eigentlich braucht, hätte im Krieg den sicheren Tod bedeutet. Krieg kann ich nur überleben, wenn ich „dicht mache“, funktioniere, möglichst wenig fühle und nicht richtig „da bin“. Dieser Modus, und das ist das Drama, läuft aber in Friedenszeiten weiter und überträgt sich auf die Folgegeneration, die den Krieg gar nicht mehr kennt. Diese Kinder der Kriegskinder hatten also mit Eltern zu tun, die nicht wirklich ansprechbar und häufig dissoziiert waren. Das Kind lernt: Ich erreiche meine Eltern nicht, ich bin nicht wichtig. Bzw. das Kind lernt: Meinen Eltern geht es so schlecht, dann muss ich ganz brav sein, mich anpassen. Das war übrigens damals auch eine ganz gängige Erziehungsmethode – den Kindern wenig Beachtung schenken, sie „hart wie Kruppstahl machen“. Wir sprechen von der sogenannten „Schwarzen Erziehung“, wie sie die österreichisch-deutsche Ärztin und Autorin Johanna Haarer in Erziehungsratgebern wie „Die Mutter und ihr erstes Kind“ schon in der Nazizeit propagierte. Etwas, das man heute als „Emotionale Traumatisierungen“ begreifen würde.

Keine sichere Basis – traumatische Grenzverletzungen

Es gab also für meinen Klienten als Kind, so beschreibt er es, keine sichere Basis. Herr A. muss all das nun als Erwachsener verarbeiten. Er hat durch diese Erfahrung selbst ein sehr aktiviertes Nervensystem und offiziell die Diagnose „ADHS“.

Wie geht es der Mutter heute? Sie hat immer noch ein hohes Maß an Resilienz und wird jetzt stolze 85 Jahre alt. Doch nun, im Alter, holen sie die Kriegserlebnisse ein. Sie grübelt, immer wieder kommen Situationen hoch, in denen sie fast gestorben wäre, im Keller eingeschlossen war etc. Sie kann sich gegen bestimmte Anforderungen von außen nicht zur Wehr und keine Grenzen setzen. So werden ihr Versicherungsverträge auf – geschwatzt, die sie nicht haben will.

Da bei einer Traumatisierung die eigenen Grenzen durchbrochen werden, ist das ganz typisch.

Nachts erlebt Mutter A. Flashbacks, das heißt, sie durch- und erlebt alte Kriegs- und Nachkriegserlebnisse wieder, geprägt von heftigen Gefühlszuständen. Sie fühlt sich ängstlich und unsicher, was sie früher nicht war. Das ist neu für sie und wirft sie, wie sie sagt, aus der Bahn.

Darüber hinaus ist sie depressiv und verspürt ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber anderen Menschen. Sie nimmt Sachverhalte falsch wahr und interpretiert diese verkehrt, auch das ganz typisch für eine Traumatisierung.

Sie hat große Angst vor Hilflosigkeit/Ausgeliefertsein im Alter und möchte das um jeden Preis vermeiden. So hat sie eine Patientenverfügung verfasst. Versorgen lässt sie sich nur durch ihre Söhne, denen sie vertraut, von „Fremden“ möchte sie nicht betreut werden. Sie versucht alleine mit ihren Ängsten, der Depression und den Flashbacks zurechtzukommen und erzählt diese Dinge höchstens ihrem Sohn, Herrn A. Männern gegenüber war sie Zeit ihres Lebens misstrauisch (u.a. Folgen der Vergewaltigungen). So erinnert sich Herr A., dass seine Mutter in seiner Kindheit häufig aus dem Auto des Vaters gesprungen sei, wenn ihr etwas „komisch“ vorkam.

Das heißt, die Mutter „floh“. Das ist ganz typisch bei Traumata. Wenn ich unter der Traumatisierung nicht fliehen konnte, zum Beispiel, weil der Gegner so stark war, alles im Organismus aber auf Flucht angelegt war, dann werde ich diese Fluchtimpulse mein Leben lang in diversen Situationen weiter haben, es sei denn, ich führe diese Fluchtimpulse in der Traumatherapie zur Vollendung. Dann dürfen sie aufhören.

Kein Frieden ohne therapeutische Bearbeitung

Ich denke, hier wird offensichtlich, dass beide Hilfe brauchen – Mutter und Sohn. Der Sohn holt sich aufgrund seiner Bildung und seines Alters diese Hilfe und kann mittels Traumatherapie seine Kindheitserfahrung Schritt für Schritt verarbeiten und sich von seinen Traumata befreien. Die Mutter gehört zu einer Generation, die Psychotherapie gegenüber skeptisch eingestellt ist, Hilfe ist für sie allerdings ohne eine solche nicht möglich. Eine gezielte Traumatherapie könnte zwar nicht die Kriegserlebnisse verändern, aber den Umgang des Nervensystems damit. So, dass im besten Falle Frieden einkehren könnte, auch in Hinblick auf den bevorstehenden Lebensabschluss.

Ich hoffe, dass anhand meines Beispiels deutlich wird, wie wichtig und aktuell es ist, den Kriegsfolgen Beachtung zu schenken und diese bewusst in die Traumatherapie einzubeziehen. Denn sonst tragen sich die Folgen von Generation zu Generation weiter. Und dabei geht es nicht nur um die Folgen für den Einzelnen, sondern auch um die Folgen für die gesamte Gesellschaft. Dies hier ist nur ein sehr kurzer Abriss zu dem brisanten Thema – wer mehr wissen möchte, dem seien die Bücher von Sabine Bode zu empfehlen.

Eine Antwort

  1. Johannes

    Christine Lemmrich kommt auf der hinterlegten Webseite http://www.traumatherapie.de/ nicht vor. Das verwirrt und erscheint unseriös.

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