Von Dorothée Jansen

In wenigen Tagen werde ich 60 Jahre alt. Ein Einschnitt? Eine Zeitenwende? Was ändert sich mit 60 Jahren? Befinde ich mich aktuell in einer Zeit des Übergangs?

Ja, aber das hat weniger mit den 60 Jahren zu tun. Seit geraumer Zeit bin ich auf Grund einer Erkrankung frühberentet. Mich an das Dasein einer Rentnerin zu gewöhnen, dauert. Das ist nicht an einem einzigen Tag getan. Ich muss eine neue Lebensphase betreten. Das braucht einen langsamen Übergang. Das braucht Zeit. Das merke ich.

So viele Fragen wollen da angeschaut werden. Wie definiert die Gesellschaft den Status einer Rentnerin? Wie möchte ich ihn verstehen? Will und kann ich wirklich gar nicht mehr arbeiten? Oder gibt es noch etwas, das ich weitergeben möchte? Wie will ich mich gesellschaftlich einbringen, oder ziehe ich mich jetzt ganz zurück und freue mich, dass ich meine Ruhe habe? Eine Frage, die besonders in meinen Zellen surrt: Wie werden andere mich behandeln? Bin ich jetzt nichts mehr wert?

Carl Gustav Jung hat das Leben eines Menschen in fünf Phasen eingeteilt. Dazu später. Beim Wechsel von der einen in die andere Phase würde es Rituale brauchen – so seine Behauptung. Ein solches Ritual habe ich abgehalten. Viele Freunde waren damals anwesend. Ich durfte nochmals von all meinen beruflichen Tätigkeiten erzählen. Sie wurden von den Anwesenden gewürdigt. Für meine neue Lebensphase bekam ich zudem die wohlwollendsten Wünsche mit auf den Weg. Ein schönes Ritual. Wohltuend, dass ich dabei nicht alleine war.

Die Gesellschaft sei dafür verantwortlich – so Jung –, einen Menschen durch die Zeit des Übergangs zu begleiten. Denn diese Schwellenphase sei chaotisch, unüberschaubar. Etwas Altes müsse losgelassen werden. Das Neue zeige sich noch nicht am Horizont. Provisorien würden eingerichtet, die oft jedoch keinen sicheren Halt böten. Ein Zustand des Schwimmens, des Nebels, der Undurchsichtigkeit. Das menschliche Netz einer Gruppe könne halten, auffangen und beschwichtigen bei Schwindel und aufkommender Übelkeit in solch wackeligen Zeiten. Doch wer hat heute noch solch ein gutes soziales Netzwerk?

Rituale für Übergangszeiten

C.G. Jung hat – aufbauend auf seinen interkulturellen Studien – ein komplexes Modell von Lebensphasen und deren Übergängen entwickelt. Kindesphase, Liebhaberphase, Zeit des Königtums, Kriegerphase und Stufe der weisen Alten benennt er die fünf Zeiträume im Leben eines Individuums. Das Kind dürfe spielen und sich alleine um sich selbst drehen. Der Liebhaber entdecke sich als erotisches Wesen mit der Fähigkeit des Begehrens eines anderen. Für den König sei die eigene finanzielle Absicherung, der Aufbau eines eigenen Heims und einer Familie bestimmend. Darauf aufbauen würde sich ein Interesse an größeren gesellschaftlichen Zusammenhängen und dem aktiven Kampf für die Werte einer Gruppe in der Kriegerphase. Abgeschlossen würde das Menschenrund durch existentielle Fragen, die auch nach dem Vorher und Nachher menschlichen Seins fragen. Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin? Was ist der Mensch? Gibt es Gott? Der Weise sucht und findet Antwort auf diese Fragen.

Arnold van Gennep interessierten Rituale für den Übergang in eine neue Lebensphase. Jede Kultur hat bspw. Rituale zur Begrüßung eines neuen Lebewesens: Taufe, Babypinkeln etc. Auch der Übergang ins Jugendalter wird mit Firmung, Konfirmation, Jugendweihe o.ä. immer noch bei uns gefeiert. Für die Wende zur Königsphase gibt es Hochzeitsrituale oder Rituale zum Eintritt ins Berufsleben, dem Abschluss der Ausbildung oder des Studiums.

Auch wenn dem einen oder anderen manche der Gepflogenheiten nicht zusagen, so gibt es immerhin kulturell tradierte, somit sozial bekannte Gestaltungsformen für derartige Übergänge. Wir wissen um diese Übergänge.

Anders sieht es da aus in Bezug auf den Eintritt in die Phase des Kriegers. Dieser Übergang wird geflissentlich ignoriert. Hier fehlt es gänzlich an Ritualen. In der Regel sind die Menschen dann Mitte bis Ende 40. Oft ist dies die Zeit, in der die Kinder aus dem Haus gehen, es in der Ehe kriselt, der Beruf nochmals in Frage gestellt oder geändert wird. In diesen schwierigen Zeiten steht der Einzelne meist alleine da – oder er geht zum Psychotherapeuten oder in die psychosomatische Klinik. Kein Ritual. Kein soziales Netz.

Auch zum Übergang ins Rentnerdasein gab es früher einmal Berufsaustrittsfeierlichkeiten, Ehrungen, Urkunden – bei wachsender Anzahl der Arbeitsstätten und beruflichen Tätigkeiten sind diese Rituale größtenteils eingeschlafen.

Was aber geschieht mit solchen Übergängen, wenn es kein Ritual gibt? Spannenderweise wird dann die alte Phase einfach wiederholt. Da wird dann das 2. oder 3. Mal geheiratet, wird der 2. oder 3. Satz Kinder gezeugt und somit die Königsphase again and again and again wiederholt. „Und ewig grüßt das Murmeltier.“

Es kann aber auch geschehen, dass das chaotische Zwischenreich – ein Kennzeichen der Phase des Übergangs – nicht mehr verlassen wird. Überall Nebel, kein Land in Sicht. In der Regel nennt man das Depression.

Rituale helfen. Um Altes zu verabschieden. Um im Chaos nicht alleine zu sein. Um Ideen für das Danach zu finden. Sie strukturieren die Zeit. Sie tun dies mit Hilfe symbolischer Handlungen. Sie tun dies, indem es Zeugen gibt und einen gehaltenen Raum für Veränderung.

Archetypische Lebensphasen

Kind, Liebhaberin, Königin, Kriegerin, weise Frau… Bin ich auf dem Weg zur Weisen? Was aber heißt das? Aus meiner psychotherapeutischen Tätigkeit weiß ich: Derartige Konzepte können helfen, sie können einen aber auch niedermachen – wenn man nämlich nicht genau dem Archetyp der jeweiligen Phase entspricht. Wenn man als Jugendliche keinen Bock auf Sex, Anbaggerei und all die erotischen Spielchen hat. Wenn es einem trotz aller Anstrengung nicht gelingen mag, ein Königreich aufzubauen und finanziell auf eigenen Beinen zu stehen etc.

Manche wollen auch nicht dieser vorgegebenen archetypischen Rolle entsprechen, andere können es nicht, oft sind die äußeren Umstände auch nicht entsprechend. Wenn ein Mensch als Kind früh Verantwortung übernehmen muss, kann es passieren, dass es in der Phase des Kindes mehr Königsqualitäten zeigen muss.

Archetypen gesellschaftlicher Entwicklung

Wo stehen wir als menschliche Gesellschaft auf diesem Erdenball? Steht der klimatische Untergang vor der Haustür? Werden wir uns durch globale Kriege selbst zerstören? Macht die politische Situation – speziell auch der letzten Wahlen – deutlich, dass wir uns noch nie so uneins waren? Das Schiff, in dem wir alle sitzen, scheint derzeit sehr orientierungslos über den Ozean zu gleiten. Leben wir also in Übergangszeiten? Wenn dem so ist, wie geht es, in solch unsicheren Zeiten Halt zu finden? Oder ist es möglich, im Übergang selbst Heimat zu finden, ja, den Übergang selbst als sicheren Ort zu betrachten?

In Zeiten des Übergangs finden sich oft Verkünder, Propheten – Menschen, die meinen zu wissen, was nach diesem Übergang kommt und was wir zu tun haben, um dorthin zu gelangen. Sie vermögen Sicherheit und Halt zu bieten in ungewissen Zeiten. Dafür verlangen sie Gehorsam, das klare Befolgen von Regeln und Gesetzen. Können aber auf diese Art und Weise Bewusstseinsveränderungen und damit Phasensprünge geschehen für jeden einzelnen Menschen?

Ein System, das gesellschaftliche Entwicklung auf der Bewusstseinsebene zu verstehen versucht, ist die Spiraldynamik oder auch Spiral Dynamics. Sie ist in unterschiedlichen Variationen auf dem Markt (Don Beck, Clare W. Graves, Ken Wilber, Veit Lindau u.a.) und kategorisiert Phasen bzw. Stufen menschlicher Bewusstseinsentwicklung. Demnach würden wir uns gesamtgesellschaftlich im Übergang – da ist er wieder, der Übergang – zum integralen, dem gelben Mem (Bewusstseinslevel) befinden. Kalte Rationalität und Egoismus seien darin überwunden. Es ginge um Netzwerkbildung, Co-Kreation. Alle bisherigen Phasen würden integriert und geschätzt werden.

Das liest sich klar und leicht. Bei genauerer Betrachtung wird die Angelegenheit jedoch komplizierter, denn nicht alle Kulturen, erst recht nicht alle Menschen befinden sich bereits im vorhergehenden grünen Mem, das bereits ökologisch und gemeinschaftlich denkt. Manche sind jedoch im roten kriegerischen, wieder andere im orangenen wissenschaftlichen Mem gefangen und keineswegs „aufgestiegen“.

Genau genommen befinden sich bei diesem Konzept die wenigsten Menschen oder Gesellschaften in einem Übergang, sondern haben es sich auf einer der Bewusstseinsebenen gemütlich gemacht und wollen nur eins: Die anderen auch davon überzeugen. Das wollen die integrativen Gelben auch. Integrales Bewusstsein ist schließlich besser, oder?

Für eine Übergangskultur

Rainer Otte lädt in seinem Werk „Schweben. Denken. Eine andere Geschichte der Philosophie“ zu luftigem Denken ein, zur Überwindung der Sehnsucht nach festem Halt, nach Verwurzelung. Der Schwebezustand mache kreativ – so seine Devise. Als Mensch sind wir schließlich an keinen festen Ort gebunden. Wir sind keine Bäume, auch keine Tiere, die ihre Nischen haben. Wir sind Luftgestalten. Können wir aber das Schweben – und damit einen dauerhaften Übergangszustand – aushalten? Können wir aufhören, nach festem Halt zu greifen? Können wir im Flug unser Glück finden? Dennoch verbunden mit der Erde. Nicht über sie herrschend. Nicht ohne sie. Als windige Gestalten.

Seit April habe ich mit dem Segeln begonnen. Das erste Mal in meinem Leben, dass ich mich dem Element Wind im Verbund mit dem Wasser aussetze. Das Rauschen der Wellen zu hören, den Druck auf den Segeln zu spüren, während ich über den Wannsee gleite, ist betörend schön. Wind ist solch eine mächtige und oft auch unbeherrschbare Kraft. Mittlerweile weiß ich, wie verzehrend es sein kann, wenn er nicht da ist – der Wind. Und man festsitzt. Und nicht weiterkommt.

Im Mai bin ich um die Nordküste Sardiniens gesegelt. Die große Yacht, auf der wir zu sechst über die Wasser glitten, rief Erinnerungen an all die vor mir wach, die die Ozeane überquert haben, die noch kein Navi hatten, für die es keinen Funk gab. Und die dennoch loszogen. Die sich aufmachten ins Ungewisse.

Segeln auf den Ozeanen ist wie ein dauerhafter Übergangszustand. Der Geist hört auf, Konzepte zu entwerfen, zu planen, zu grübeln, sich Gedanken zu machen. Auch keine Konzepte von Memen, Bewusstseinssprüngen, notwendigen Ritualen o.ä. Einfach mit dem Wind wandern. Wunderschön.

Früher hat man in nordischen Landen dem Wind Nadel und Faden geopfert – damit er sich seine zerrissene Kleidung reparieren kann. Will er das aber? Möglicherweise liebt er es, ein wenig zerzaust und verwuselt gekleidet zu sein. Vielleicht sollten wir Heutigen den Wind darum bitten, uns eine Schere zu opfern, damit wir unseren Geist durchschneiden können, der sich so sehr nach Festigkeit und Halt sehnt. Damit wir Mut haben, im Übergang zu schweben.

Dr. phil. Dorothée Jansen betreibt in Potsdam eine Praxis für Psychotherapie und spirituelles Wachstum (HPG). Ab Herbst bietet sie dort wieder eine Jahresgruppe an.

Infos unter www.dorothee-jansen.de

Tel.: 0163-284 48 83, dorotheejansen@gmx.de

 

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