Die Basis eines guten Selbstwertgefühls ist die Fähigkeit, nein zu sagen, wenn wir nein meinen. Selbstliebe und die Liebe zu anderen beginnen mit der Kunst der gesunden Abgrenzung, denn das Nein zu dem, was für uns nicht stimmt, ist das Ja zu uns selbst.

 

Die meiste Zeit meines Lebens bin ich ein Bettler gewesen, immer auf der Suche nach Aufmerksamkeit, Gemochtwerden, Liebe. Und daher in Schwierigkeiten, wenn es darum ging, zu mir selbst zu stehen. Die Frage “Ich oder der andere zuerst?” braucht eine entschiedene Antwort – ansonsten können wir jeden echten persönlichen Fortschritt vergessen, egal wie viel wir sonst in uns „aufräumen“. Ganz einfach, weil in dieser Antwort unsere eigene, immense Kraft liegt. Entweder wir nehmen sie zu uns oder wir geben sie ab. Je mehr wir auf Bestätigung im Außen schielen, je mehr wir anderen die Macht zugestehen, darüber zu entscheiden, ob wir doch irgendwie in Ordnung und liebenswert sind, desto schwächer und ohnmächtiger fühlen wir uns.

Zu sich selbst zu stehen heißt vor allem, auch Abgrenzung zu wagen: Nein, so will ich das nicht. Allerdings ist das Wort Nein sehr negativ besetzt – besonders in der spirituellen Szene. Nur Ja ist gut, ist Öffnung, Verbindung, Hereinlassen. Nein wird mit Widerstand und dem Ego assoziiert – und das gilt es ja aufzulösen. Unser gesundes Nein wird daher nicht nur durch unsere Erziehung unterdrückt, sondern später auch noch durch jede Menge spirituelle Konzepte verurteilt: Wir dürfen den anderen durch unser Nein nicht verletzen, weil doch schließlich alles auf uns zurückfällt (mieses Karma wird angehäuft, böse, böse) und wir ja sowieso alle eins sind und uns letztlich daher selbst verletzen. Statt dessen bitte gute Gedanken und gute Taten (sagt angeblich Onkel Buddha). Und letztlich gibt es ja sowieso keinen freien Willen – ich bin halt, wie ich bin, und kann kein Nein sagen. Aber: Im nächsten Leben wird ja alles besser. Wie sich solch ein geistiger Überbau auswirkt, kann man in Indien mit seinen Millionen Bettlern live erleben. Das Fatale ist, dass in all diesen Konzepten ein wahrer Kern steckt – darum wirken sie ja auch so gut. Aber: An dem Punkt der Ego-Transzendenz, wo diese Wahrheiten erlebte Wirklichkeit werden, stehen die meisten Menschen noch gar nicht. Das Nein spüren, nicht mehr drüber wegbrettern und lernen, es klar auszudrücken, ist statt dessen angesagt.

 

Ja zum Nein

Wir merken gar nicht, was wir uns täglich antun. Jeder kleine Gedanke von “Ach, ist doch nicht so wichtig, dass ich mich jetzt gerade zeige” oder “Die Energie ist zwar jetzt gerade mal so, dass ich Nein sagen möchte, aber nachher sehe ich das vielleicht wieder anders, also lasse ich´s lieber” blockiert die Lebensenergie, die frei fließen und sich ausdrücken will. Solche Gedanken wirken wie ein Schild, an dem diese Energie abprallt und wieder nach innen gelenkt wird. Die Folge: Verspannung, Energieabfall, das Gefühl von Abtrennung, Verbindungs- und Leblosigkeit.

Wir haben gelernt, rücksichtsvoll zu sein und niemanden zu verletzen. Weil wir aber aus einem unlebendigen, neurotischen Konzept heraus handeln (das heißen kann: “Ich will ja auch nicht verletzt werden und keine Ablehnung erfahren”), sind wir überhaupt nicht mit der Realität des Momentes verbunden. Ist dagegen das Nein integriert, spüren wir auf einmal ganz konkret, wo tatsächlich Rücksicht angebracht ist und hundert Prozent Gradlinigkeit den anderen überfordern würde. Aber dann müssen wir uns dabei nicht mehr verbiegen, weil wir im Kontakt mit uns sind. Integrierte Aggression ist einfach Klarheit. Alles Echte erwächst aus dem Moment und niemals aus einem Konzept, weil Liebe unsere wahre Natur ist – und die entsteht immer aus dem vollkommenen Kontakt zum jeweiligen Moment und nicht aus einer Vorstellung. Man kann Liebe nicht erzwingen. Wenn da ein Nein ist, dann muss man mit dem Nein gehen und kann kein Ja drüberschummeln. So ein Ja wird sich für alle Beteiligten ungut anfühlen.

 

Nicht mehr lieb und freundlich sein

Wir leben auch in dem irrigen Glauben, zu lieben hieße, zum Anderen nur nett zu sein, für dessen Glück Verantwortung zu übernehmen, ihm zu helfen, indem wir “lieb und freundlich” zu ihm sind und ihm am besten das geben, was er will. Dabei übersehen wir erneut, dass wir damit nicht in Kontakt zur Wirklichkeit sind. Ein authentisch gesagtes Nein kann für einen Menschen ein heilsames Geschenk sein, beispielsweise, weil es ihm eine klare Orientierung liefert oder indem es ihn in Kontakt zu seinem verdrängten Schmerz bringt.

Zu wissen, dass ich Nein und Ja dann sage, wenn ich es auch wirklich meine, gibt mir Sicherheit und bringt Ruhe ins System. Ich muss dann nicht mehr irgendwelche zukünftigen Situationen vorher im Kopf durchspielen, sondern entscheide aus dem Gefühl heraus, das im jeweiligen Moment da ist. Diese Entscheidung entsteht unabhängig von irgendwelchen Konzepten – vor allem muss sie nicht in irgendeiner Weise richtig sein. Ich darf Fehler machen und bin trotzdem nicht verdammenswert. Welche Erleichterung, welche Entspannung.

 

Ein Haus auf Fels gebaut

Eine der größten Lügen, die diesen ganzen Krampf aufrechterhalten, heißt: Wir können etwas dafür tun, dass wir geliebt werden – indem wir nett sind, uns positiv darstellen, und wenn das anscheinend nicht reicht, uns verschönern, verbessern und verändern. Unsere ganze Gesellschaft ist mit diesem Virus verseucht. Aber die Wahrheit ist: Wir können nichts dafür tun. Die Liebe sucht die Liebe, kein Ich ein anderes Ich. Da die Liebe sich durch etliche Schichten von verdrängten Gefühlen und dementsprechend entstandenen Konzepten hindurchschlängeln muss und entsprechend gefärbt ist, ziehen wir entsprechend unserer Resonanz genau die Personen und Erlebnisse an, die zu unser neurotischen Struktur passen. Und wenn da gar keine Anziehung ist, heißt das nur, dass es für diese Ebene der Verdrängung gerade keinen entsprechenden Partner gibt. Wir könnten uns eigentlich relaxed zurücklehnen und abwarten. Stattdessen verdrehen und verbiegen wir uns, um andere davon zu überzeugen, dass wir liebenswert und die richtigen Partner für sie sind.

Eine wirkliche spirituelle Entwicklung hin zur allumfassenden Liebe ist ohne die Integration des Nein nicht möglich, weil dann immer ein Punkt im Universum ausgeklammert bleibt, den wir nicht lieben: uns selbst. Ohne Selbstliebe ist unsere spirituelle Entwicklung auf Sand gebaut – beim kleinsten Erdstoß bricht alles zusammen. Doch das Interessante ist: Wenn wir zu uns selbst stehen und unser Nein ohne großartige Erklärungen und Rechtfertigungen vertreten, egal, was andere dazu sagen könnten, dann sprudeln auf einmal aus der Tiefe wie von selbst Liebe, Kraft, Energie und Freude.

 


Abb.: © gradt – Fotolia.com

 

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19 Responses

  1. Christina
    Menschen erlauben, zu lernen

    Sehr wichtiges Thema, ganz besonders in der spirituelleren Szene.
    Ich habe mein ganzes Leben immer versucht, es dem anderen möglichst rechtzumachen, in der Hoffnung, dann auch irgendwann gesehen zu werden … Diese Dynamiken haben sich endlos im Kreis gedreht und endeten schmerzhaft, weil man letztlich dem anderen seine Ängste nicht nehmen kann und auch nicht umschiffen – irgendwann muss jeder seinen Weg selbst gehen. Am schlimmsten für mich persönlich war dabei, dass ich auf diesem Weg immer mehr über die Menschen lernte aber gleichzeitig auch immer einsamer wurde – um mich nicht verletzt zu fühlen, musste ich lernen, dahinter zu sehen, sah dann zwar alles, jagte den anderen damit aber nur noch mehr Angst ein. Nun ist mir aber endlich klargeworden, dass ich jedes Mal, wo ich mich unauthentisch verhalte, wo ich meine Grenzen überschreiten lasse „aus Liebe“ zu dem anderen, dem ich meiner Meinung nach nicht so viel abfordern kann, ich den anderen auf ewig vor einen blinden Spiegel stelle, er sich somit nicht selbst erfahren kann, wie er es bräuchte für seine eigenen Lernprozesse. Und zwar, weil ich nicht authentisch reagiere; und Authenzität wäre oftmals Abgrenzung, ein Nein, Wut. Ich selbst habe an den Menschen immer am meisten gelernt, die in ihren Reaktionen hemmungslos ehrlich waren – die auch aufgrund ihrer psychischen Probleme meist gar nicht anders konnten und da in ihren Reaktionen impulsiv waren, manchmal auch verletzend – aber man kann lernen, zu sehen, was dahinter liegt. Aber mir hat das letztlich gut getan, ich habe an ihnen gelernt. Und ich sehe inzwischen, dass es auch mit Respekt dem anderen und seinen Lernaufgaben gegenüber ebenso aber auch mit dem Vertrauen darin, dass der andere die tatsächliche Realität meistern kann, zu tun hat, und ich ihn nicht mit meiner bedingungsloslen Liebe erretten muss.
    „ch muss dann nicht mehr irgendwelche zukünftigen Situationen vorher im Kopf durchspielen, sondern entscheide aus dem Gefühl heraus, das im jeweiligen Moment da ist. Diese Entscheidung entsteht unabhängig von irgendwelchen Konzepten – vor allem muss sie nicht in irgendeiner Weise richtig sein. Ich darf Fehler machen und bin trotzdem nicht verdammenswert. Welche Erleichterung, welche Entspannung.“ Ganz genau …

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  2. The loved

    Wer liebe geben will wird liebe auch bekommen.
    Danke für diesen Beitrag. Ich war immer gewollte von anderen gemocht und geliebt zu werden und hab gar nicht gefragt ob ich diesen Menschen der ich bin überhaupt liebe.
    Nein tue ich nicht. Oder „tat“ ich nicht.
    Ich habe den Großteil meines Lebensmittel mit kiffen verbracht und gar nicht gemerkt das ich ein anderer Mensch geworden bin.
    Jetzt ( 6 Monate clean ) liebe ich mich jeden Tag etwas mehr und es ein tolles Gefühl welches ich mir selbst gegeben hab.

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  3. Sabine Heitmann
    Warum haben Frauen so große Probleme mit einem NEIN?

    Vielen Dank für den wunderbaren Artikel!
    Von berufswegen muss ich oft Dinge ablehnen und stelle dabei immer wieder fest, dass Frauen ein Nein von einer Frau in den meisten Fällen nicht hinnehmen wollen und mich dann persönlich beleidigen. Und obwohl es dabei noch nicht mal um etwas Wichtiges geht, bin ich doch teilweise geschockt, wie weit manche gehen.
    Privat ist es ähnlich, auch wenn ich mir dabei mehr Mühe gebe, mein NEIN annehmbarer zu verpacken. Leider fühle ich mich oft schlecht, wenn mich dann die Aggressionen von nahestehenden Frauen treffen.
    Ich selbst nehme ein NEIN eigentlich als Abgrenzung war, nicht als persönlichen Angriff.
    Warum haben Frauen damit so große Probleme?
    Über Antworten würde ich mich sehr freuen, lieben Dank!

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  4. Klaus Hafner

    Hallo, Herr Engelsing!

    Ist der Nachname echt??
    Ist keine Selbstverherrlichung, oder? 😉

    Der Bericht ist echt aufschlußreich.
    Es werden unbekannte Zusammenhänge verständlich offengelegt.
    Das hilft weiter. 🙂
    Er ist zwar etwas trocken und auch leicht sarkastisch meiner Meinung nach.
    Doch muß man ja nicht immer zu 100% verkörpern, was man predigt.
    Ein Zuviel an Selbstgerechtigkeit ist unbrauchbar. 😉
    Auf alle Fälle werde ich mir die Seite aufgrund des Berichtes genauer anschauen und denke auch über eine Spende nach.

    Mit freundlichem Gruß, Klaus Hafner.

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  5. Mariana
    Grenzgenial, DANKE

    Analyse passt wie ein Handschuh – Vielen Dank. Tut wirklich gut, sich darin zu erkennen.

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  6. Michael König
    Vielen Dank für diese Klärung des positiven NEIN!

    Ich lese hier öfter mal aus alter Verbundenheit und finde die Logik des Artikels sehr treffend.
    Ich glaube dass das Nein uns leider abhanden gekommen ist und es fehlt in der Komunikation einfach eine ganze Seite.
    Vielleicht kann man auch sagen dass und die Ehrlichkeit zu uns selbst und zu anderen fehlt.
    Zum Schluss mache ich jetzt doch noch etwas Werbung und hoffe damit niemandem zu schaden:
    www.nein-idee.de
    Liebe Grüße
    Michael

    Antworten
  7. Bernd

    Sicher ist es in spiritueller Hinsicht schön, zu allem „Ja“ sagen zu können, alles anzunehmen, so wie es ist. Mein Körper und mein verletztes Herz brauchen aber die Erfahrung, „Nein“ sagen zu dürfen und damit angenommen zu werden. Das „Ja“ zu allem beinhaltet eben auch das „Ja“ zu meinem „Nein“ 😉

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  8. daniela

    affenstark! stehe mitten im prozess meine fundamente sind am bibbern und wackeln aber es ist explosiv und befreiend!

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  9. AN

    Was für ein wundervoller Artikel, er spricht mir aus dem Herzen und aus der Seele – danke dafür!!!
    Und alle, die diesen Weg „raus aus den Konzepten“ und „rein ins Leben“ beschritten haben, werden die Wahrheit und Weisheit dieser Worte im Innersten fühlen können.
    Welch eine Befreiung, wieviel Heilung,Lebendigkeit und Authentizität kommt damit plötzlich ins Leben. Es ist (leider!) unbeschreiblich, aber (zum Glück!) er-leb-bar!

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  10. RS

    Wahre Liebe, Klarheit, Sein kennt nur „JA“, denn die Antwort auf alles ist wahre Liebe, Klarheit, Sein.

    Ich kann auch im Strategie-Spiel von
    Ja-sagen und Nein-sagen bleiben, indem ich über das Nein-sagen versuche aus der Opferrolle zu kommen. Das funktioniert jedoch nicht wirlich, sondern ist nur mit der bewussten Verbindnung zur Klarheit und Stille möglich und dann ist es egal ob ich „nein“ oder „ja“ sage.

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  11. Barbara

    So hat es auch bei mir angefangen 🙂 und ich übe mich noch im Nein sagen – und es tut so gut! 🙂 Es ist einfach Liebe zu mir selbst! Es freut mich, dies hier zu lesen! Danke 🙂

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  12. Gerhard

    Hallo vielen Dank für diesen schönen Artikel.
    Er ist so schön und befreiend, da spür e ich wärme im Herzen.
    Ein tolles Gefühl.
    lg
    Gerhard

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  13. Daniela

    In früheren Beziehungen habe ich mich auch dauernd angepasst,
    alles wurde möglichst unter den Tisch gekehrt,und wenn mal was raus
    musste,flüchteten die Männer.
    Mein neuer Partner hat von Anfang an klar gemacht,
    dass er für Offenheit ist.
    Wer uns manchmal sehen könnte,würde denken,wir „hassten“ uns,
    da wir irgendwie „anders“ sind als das gros der Paare.
    Auch meinen Kindern habe ich beigebracht,NEIN zu sagen,
    insbesondere zu mir und
    wir sind alle sehr glücklich damit.

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  14. Cube of Metatron

    Sehr interessanter Artikel! Das, was hier in Worte ‚gegossen‘ wurde, kann für viele, die dafür ‚offen‘ sind, wie ein Schlüssel wirken. Herzlichen Dank dafür! 🙂

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