Gewalt, Wut und Aggression sind ein Gesellschaftsphänomen, das anscheinend immer bedrohlicher wird. Doch nicht nur im Außen erleben wir Achtlosigkeit und emotionale Kälte, sondern auch im Umgang mit uns selbst. Über Wege aus diesem Dilemma sprach SEIN-Redakteurin Cornelia Regler mit der spirituellen Lehrerin Mariananda.

SEIN: Die Gewaltbereitschaft Jugendlicher nimmt dramatisch zu, aber auch immer mehr Rentner landen im Strafvollzug. Erleben wir eine Verrohung der Gesellschaft?

Mariananda: Selbstverständlich erleben wir eine Verrohung der Gesellschaft, und das ist auch relativ einfach zu erklären. Je extrovertierter, das heißt, je mehr die Gesellschaft ausschließlich nach außen, auf materielle Dinge gerichtet ist, desto roher wird sie. Weil es darum geht: Ich will das auch haben, und das will ich auch haben, und das muss ich auch haben. Und wenn ich es nicht bekomme, dann empfinde ich mich entweder als Versager, was mir keine gute Laune macht, mich gegen mich gerichtet aggressiv macht. Oder ich werde auf die anderen, die es haben, sauer, oder ich verwirre mich darüber. Das sind die drei DINGE, von denen der Buddha sagt, dass sie Leid verursachen. Man leidet, weil man etwas von sich weist, oder weil man unbedingt gierig etwas haben will, oder weil man nicht genau weiß, was oder ob man etwas haben will, also sich darüber verwirrt. Insofern kann man auf vielen verschiedenen Ebenen gucken, woher die Aggression kommt. Grundsätzlicher aber gilt, dass viele Menschen keinen oder kaum mehr einen essentiellen, d.h. inneren Hintergrund haben, an dem sie sich orientieren können. Der Werte-Hintergrund ist nur im äußeren, materiellen System selbst begründet und weist nicht über das materielle System hinaus.

SEIN: Das bedeutet ja, dass die Bedeutung der Familie abgenommen hat, denn da sollen ja Werte vermittelt werden, die dieser Konsumhaltung entgegenstehen.

Mariananda: Das ist ja ganz toll. Wo sehen Sie denn bitte noch Familie? Familie ist in über 60 Prozent heutzutage eine Mutter, manchmal ein Vater, und ein Kind. Mehr Kinder gibt es fast nur noch in weniger ausgebildeten sozialen Schichten. Je ungebildeter die soziale Schicht, desto mehr Kinder werden geboren. Ich will nicht sagen, dass alle Leute, die kein Geld oder wenig Bildung haben, keine Werte vermitteln, Ausnahmen bestätigen die Regel, aber in dieser Gesellschaftsschicht gibt es leider die meisten Kinder, die wenig oder nicht genügend gefördert werden. In den großen Städten haben wir zusätzlich das riesige Problem, dass wir Familien haben, die aus anderen Kulturkreisen stammen, wodurch ständig verschiedene Welten aufeinander prallen. So, jetzt knallen die uns unvertrauten Kulturen mit zum Teil sehr archaischen, religiösen Wertvorstellungen aufeinander mit westlichen, überwiegend materiellen Orientierungen, wo der Einzelne oft gar nicht mehr weiß, was er fühlt, was er denkt, wonach er sich richten soll. Und zusätzlich bekommt er ununterbrochen in den Medien vorgeführt, dass es da irgendwo die ganz Tollen gibt, die alle schön sind, die alle reich sind, die sich aber merkwürdigerweise dabei benehmen wie gehirnamputierte, meist ziemlich seelenlose, gewissenlose, herzlose Zombies. Sie lügen, betrügen, ballern um sich, schlagen tot und erschießen und gehen in den Knast wie jemand anderes nachmittags zum Kaffeetrinken. Es gibt nicht mehr dieses Entsetzen, O Gott, das mache ich lieber nicht. Da gibt es keinen wirklichen Halt, keine Transzendenz, kein anerkanntes und erkennbares, Innen und Außen verbindendes, vermittelndes Bezugssystem.

SEIN: Viele Kinder wachsen in halben Familien auf, in denen der Vater als jemand, der Grenzen setzt, fehlt. Ist vor diesem Hintergrund die Gewaltbereitschaft von Kindern und Jugendlichen als ein Schrei nach Grenzsetzung zu verstehen?

Mariananda: Nun, Religion setzt Grenzen, positive oder negative. Ich will nicht sagen, dass die Religion im traditionellen Sinne wieder eingeführt werden sollte, alle Leute die zehn Gebote auswendig lernen und wieder fürchterliche Angst haben sollen, sondern dass das, was dahinter steht, die Spiritualität – dass ich mich in einem Großen und Ganzen geborgen fühle – mehr Raum bekommt. Die kleinste Einheit vom Großen und Ganzen ist die Familie. Ich kann das an einem großen Teil meiner Patienten sehen. Wenn ich die frage, wann ist deine Oma geboren? Heißt es: „Weiß ich nicht.“ Ja, wann hast du denn deine Oma das letzte Mal gesehen? „Vor zwei Jahren. Wir haben nicht so einen Kontakt zu ihr.“ Ja, wo, wenn nicht in der Familie lernt man, dass das meinetwegen meine Tante ist, und zu der sage ich nicht, wenn ich ihr begegne: „Hey, schräge Tussi, was willst`n du von mir? Hab` ich um deinen Rat gefragt?“ Mich entsetzt heutzutage, dass in ganz normalen Vorabendserien, die 90 Prozent der Kinder sehen, so miteinander gesprochen wird. Die wollen sich etwas ganz Alltägliches sagen wie „Nein danke, ich möchte keinen Tee.“ Heraus kommt: „Mann, musst du mir den Tee aufdrängen?“ Dieses Netz Familie fehlt, wo gesagt wird, „Kannst du das mal etwas netter sagen? Oder: „Mach doch deine Tante nicht so an.“ Das gibt es einfach nicht mehr. Wir müssen uns nach anderen Bezugssystemen umsehen. Spiritualität – im Gegensatz zu Religionen – bietet so ein neues Bezugssystem. Spiritualität ist sowohl gesellschafts- als auch kultur- und religionsübergreifend. Spiritualität umfasst und bietet Raum für jeden. Dort gibt es eine gemeinsame Sprache für alle.

SEIN: Das liegt ja auch daran, dass Eltern mit ihren Kindern immer weniger sprechen und die Kinder Sprache aus dem Fernsehen lernen.

Mariananda: Genau, das meinte ich damit.

SEIN: Was kann man tun?

Mariananda: Wie früher, Märchen vorlesen, bei denen sich die Eltern langweilen und die Kinder sagen: „Man sieht ja gar nichts.“ Oder es gibt so abgeklärte Eltern, die sagen: „Oh, oh, ein Mord im Märchen, wie schlimm“ und überhaupt nicht kapieren, dass ihre Kinder heimlich vor dem Fernseher sitzen, wenn nicht zuhause, dann bei Freunden. Nein, ich glaube, dass es so herum nicht geht. Das ist alles Flickschusterei. Es sind seit über 30 Jahren dieselben Fragen: Warum werden die Kinder immer aggressiver? Nebenbei sind es nicht nur die Kinder!! Die Gründe liegen darin, dass unser System – welches System das auch immer sei – nicht von einem inneren spirituellen Kern gehalten wird, nicht darauf bezogen ist, was im Innersten allen Religionen gleich ist, nämlich Liebe und Mitgefühl. Oder anders ausgedrückt: wir vertiefen nicht mehr einen inneren Ehrenkodex, man kann es auch „Gewissen“ nennen, das jeder hat. Wenn man etwas tiefer buddelt, weiß jeder, das ist gut und das ist schlecht. Das ist uns angeboren. Ich war vor vier Wochen in München bei Amma, Amma der großen indischen Heiligen. Da waren an jedem Abend ungefähr 8000 Leute. Sämtliche Schichten, vom Nadelstreifenanzug bis zum Rastalook, die alle mit derselben Geduld, mit derselben Sehnsucht gewartet haben, dass irgend jemand da ist, der sagt: komm her, ich gebe dir etwas, das mehr ist als die Tatsache, ob du einen Mercedes hast oder nicht. Das hat mich unglaublich berührt, weil ich gemerkt habe, das Bedürfnis nach Spiritualität liegt nur knapp unter der materiellen Oberfläche verborgen. Ganz viele Menschen wagen wieder zu sagen, ich glaube an Gott, die zehn Gebote sind mir wichtig. Mich hat es sehr positiv erstaunt, dass unser Innenminister Herr Schily gesagt hat, dass er mit seiner Tochter abends betet und dass er tatsächlich an Schutzengel glaubt. Das hat mich erfreut. Ich denke, wir sind noch nicht ganz tief unten im Tal angekommen, aber es bewegt sich bereits wieder etwas nach oben, weil die Menschen unglücklich sind. Niemand ist wirklich glücklich dabei, wenn er seinen Nächsten umlegt und nur gierig nach Materie durch die Welt rennt.

SEIN: Wie ist es zu erklären, dass immer mehr Menschen nach einem tieferen Sinn in ihrem Leben suchen?
Mariananda: Weil das in uns liegt. Weil wir zwei Möglichkeiten haben: entweder wie die Wahnsinnigen dem Äußeren, dem Materiellen hinterherzujagen, was ja, wenn auch für sehr wenige Menschen, eine Weile sehr gut funktioniert hat. Dann aber merken die Menschen langsam, dass sie das, was sie meinten, damit zu bekommen, nicht bekommen haben. Sie sind nicht glücklicher, zufriedener, anteilnehmender geworden. Selbst multiple Orgasmen erschöpfen sich nach einer Weile und fangen an, einen zu langweilen. Man kann auch nicht mit fünf Hintern in fünf Mercedessen gleichzeitig sitzen. Ich spreche jetzt nicht davon, ob Leute so etwas haben, sondern ob sie es begehren. Sie merken, dass das gar nicht so glücklich macht wie sie erhofft hatten. Sie sind sogar unzufrieden. Kinder sind da einfach noch offener, sie merken noch schneller, was keine wirkliche Erfüllung bringt. Deshalb ist die Aggressivität dort am unverhohlensten zu erkennen. Und das schlägt dann irgendwann um und die Menschen beginnen nach inneren, nicht-materiellen Werten zu suchen.

SEIN: Ist die Sinnsuche eine Folge der gesellschaftlichen Verhältnisse wie Arbeitslosigkeit, Existenzbedrohung, Zerfall sozialer Bindungen?

Mariananda: Nein, das sehe ich genau umgekehrt. Das sind ja nur die Symptome, die Folgen dessen. Die Sinnentleerung entstand durch Gier, Gier, Gier, haben, haben, haben, alles, alles, alles, ich, ich, ich. So einfach, im Grunde.

SEIN: Stellt sich jeder Mensch in einem gewissen Alter einmal die Frage nach dem Sinn des Lebens, oder bedarf es besonderer äußerer Umstände?

Mariananda: Wir können hoffen, dass jeder Mensch irgendwann an einen Punkt kommt, wo innere Dinge wichtig werden. Das ist aber eine Fragestellung einer schon erwachsenen Seele. Eine reife Seele würde so etwas gar nicht fragen, weil das für sie selbstverständlich ist. Aber es gibt sehr viele junge Seelen und es gibt Babyseelen und es gibt unentwickelte Seelen, die gerade zum ersten Mal hier sind und natürlich gierig, gierig alles haben wollen. Aber es gibt auch abgeklärte Seelen. Man kann das bei Kindern mit drei, vier Jahren sehen. Es gibt unglaublich vernünftige, erwachsene, höfliche, auf den anderen achtende Kinder. Dann gibt es Kinder, die hauen in die Fresse, wo sie es kriegen können. Das ist nicht mit den Eltern, nicht mit der Herkunft und nicht mit dem Kulturkreis zu erklären. Es gibt immer reife Seelen und es gibt sogar alte Seelen, die meistens sehr zurückgezogen leben. Reife Seelen sind auch dazu da, junge Seelen zu unterrichten. Ich habe das Gefühl, dass im Moment etliche alte Seelen auf einen Haufen pubertierender Jugendlicher stoßen, die überhaupt noch nicht kapieren, wo es lang geht. Das ist eine große Aufgabe.

SEIN: Das Thema unserer Ausgabe ist ja Gewalt und Aggression. Ist Aggression nicht auch eine positive Kraft?
Mariananda: Nein, garantiert nicht. Das Wort Aggression kommt vom lateinischen ad-gredi, d.h. auf eine Sache zugehen, sich einer Sache bemächtigen. Man muss etwas begehren, um sich zu bewegen. So weit, so gut. In dem Moment, wo zum Beispiel ein kleines Kind permanent daran gehindert wird, sich in Bewegung zu setzen, um einen Bauklotz zu greifen, wandelt sich das natürliche „Nach-etwas-greifen-wollen“ um in ein verzweifeltes, aggressives, brüllendes, um-sich-schlagendes, sich gegen den verhinderten Bewegungsablauf wehrendes Etwas. Das Kind beginnt sich zu wehren, aber nur, weil der Bewegungsablauf gebremst wird. Wenn dieser normale Bewegungsdrang behindert bzw. auf falsche Ziele gelenkt wird, ist die Aggression vorprogrammiert. Das können Sie nun übertragen auf falsch vermittelte Werte. Wenn sie dem Menschen immer wieder nur vermitteln, dass seine Bewegung, sein Begehren, sein ad-gredi sich auf materielle Dinge hin ausrichtet, muss der Einzelne früher oder später aggressiv oder depressiv (die implodierte Form der Aggressivität) werden, weil materielle Dinge niemals wirkliche Erfüllung dieses menschlichen Begehrens sein können. Der Mensch will sich immer der Inhalte seiner Seele, seines Herzens, seines innersten Seins bemächtigen. Es ist sein Daseinszweck, das zu erkennen und zu erreichen. Insofern ist die zunehmende Aggressivität in ihrer nicht-pervertierten Form, dem ad-gredi, eine Hilfe.

SEIN: Welche Grundwerte sollten Eltern ihren Kindern vermitteln?
Mariananda: Erst einmal Liebe, LIEBE drei Meter groß geschrieben, und zwar eine Liebe, die vermittelt, dass Liebe nicht alles erlaubt, dass Liebe nicht heißt, dass das Kind alles bekommt und alles darf, sondern dass Liebe Mitgefühl heißt, den Anderen sehen, achtsames Miteinander. Dass Liebe überwiegend Geben heißt. Denn die Liebe, die wir geben, kehrt ins eigene Herz zurück. Und nach wie vor mein Lieblingsbeispiel: die zehn Gebote. Ganz einfach.

Über den Autor

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arbeitete Jahrzehnte als Malerin und Bildhauerin, als Jungianische Psychoanalytikerin, als Enneagrammforscherin und -lehrerin und als Buchautorin. Sie lehrt die Meditation der Achtsamkeit im Alltag, gibt Satsangs und führt seit Jahrzehnten Workshops und Stille-Retreats mit Gruppen durch.

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