Die Linde gilt seit alters her als eine der wichtigsten Baumarten in der europäischen Kulturgeschichte. Auf einer Wanderung über den lindengesäumten Luisenweg von Berlin nach Mecklenburg kann man sich jetzt die kulturelle und mythologische Tiefe dieses Baumes und der Landschaft nordöstlich von Berlin erschließen.

 

Erdgeschichtlich erscheint die Linde, wie alle Laubbaumarten, in der Kreidezeit vor 130 Millionen Jahren und überdauert daher die Menschheitsgeschichte um Äonen.

In vielen Ortschaften ist sie auf dem Dorfplatz zu finden. Gern setzt man sich hier nieder.
Als Urbaum unserer Kultur steht die Linde mit der Venus in Verbindung. Und Venus ist Aphrodite. Die indogermanische Sprachwurzel “lentos” betont – im Gegensatz zur standhaften Eiche mit ihrer gewaltigen Pfahlwurzel – ihre besondere Biegsamkeit und Elastizität, ihre weibliche Grazie. Linden verfügen über eine sogenannte Herzwurzel, die sich über mehrere Hauptwurzeln behutsam im Erdreich einbettet. Eine starke Erdenergie geht von der Linde aus, und es kommt nicht von ungefähr, dass die Kraft des Drachens in der Bezeichnung Lindwurm ihren bildlichen Ausdruck gefunden hat. Mit seiner urwüchsigen Drachenkraft hütet er am Fuß der Linde Mutter Erde.

 

Freya, Göttin der Liebe und Fruchtbarkeit

In der germanischen Mythologie ist die Linde mit der Göttin Freya verbunden, Sinnbild der Liebe und der Fruchtbarkeit. Ein lebendiger Eindruck von der betörenden Wirkung stellt sich während der Lindenblütenzeit im Juni ein, wenn Heerscharen von summenden Insekten die Lindenbäume bevölkern und einen kosmischen Klangkörper bilden.
In früheren Zeiten wurde unter den Linden Gericht gehalten. Die Streithähne sollten – vom Lindenblütenduft betört – sich wieder die Hand reichen und sich beim anschließenden Dorffest versöhnen. In manchen Ortschaften sind noch solche Gericht- und Tanzlinden zu finden. Ein ganz besonders schönes Beispiel ist die Luisentanzlinde von Galenbeck in Mecklenburg, die zum 100. Todestag der Königin im Jahre 1910 gestiftet wurde.

Linden können überdies durch eine besondere Fähigkeit mehr als tausend Jahre alt werden: Sie werden zwar frühzeitig kernfaul und höhlen innen aus, doch sie bilden Innenwurzeln aus, die sich von den baumeigenen Zersetzungsprodukten ernähren. Diese Innenwurzeln können so mächtig werden, dass sie den durch Fäule entstandenen Hohlraum wiederum mit Holzmasse und einer neuen Borke ausfüllen. So verjüngt sich eine alternde Linde immer wieder aufs Neue.

 

 

Vom Nutzen der Linde

Lindenholz eignet sich auf Grund seiner Weichheit und Elastizität besonders gut zum Schnitzen und wird seit alters her für Heiligenbilder und Altäre verwendet. So hat sich die Bezeichnung Lignum sanctum, heiliges Holz, überliefert. Lindenrinde kann für Räucherzeremonien verwendet werden und liefert auch Bast zum Binden.

Lindenblütentee und Honigprodukte sowie Duftessenzen und Kosmetika werden aus diesem Kulturbaum gewonnen. Junge Lindenblätter sind nahr- und schmackhaft und können in Salaten verwendet werden.

Von allen einheimischen Baumarten hilft uns die Linde auf Grund ihrer tiefen Symbolik im kollektiven Gedächtnis der Menschen, die schlummernde Natur in uns zu erwecken – und einen Weg der Heilung einzuschlagen. Nicht umsonst hat sich in unserem Sprachschatz das Wortbild der “Linderung” verankert. In Zeiten des ungehemmten Raubbaus an der Natur bietet sie uns Trost und Schutz unter ihrem summenden Blätterdach: “Wo wir uns finden, wohl unter Linden zur Abendzeit.”

 

 

Der Luisenweg unter den Linden

Alle Welt redet vom Jakobsweg. Wir haben den Luisenweg unter den Linden. Zehntausende von Linden säumen den Weg von Berlins Mitte nach Mecklenburg.

Königin Luise von Preußen ist eine der schillerndsten Frauenfiguren der deutschen Geschichte. Sie verkörpert das weibliche Prinzip in einer vom männlichen Prinzip dominierten Kulturgeschichte – ein lebendiges Sinnbild der Mutter Natur in Gestalt der Luisenlinden und der germanischen Fruchtbarkeitsgöttin Freya.

Das einwöchige geführte Wandercoaching im aktuellen Luisenjahr von Berlin bis zum Tollense-Lebenspark in Mecklenburg orientiert sich an der Wegstrecke, auf der der Sarg der jung verstorbenen Königin vor 200 Jahren nach Berlin gebracht wurde. Die erwachende Natur und ein vielseitiges ganzheitliches Erlebnisprogramm laden uns zu einer tiefgehenden Seelenreise in den Urgrund unserer Kulturgeschichte ein. Wer den Luisenweg erwandert, kehrt heim.

 


Abb.: © emer – Fotolia.com

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ist Naturphilosoph und Naturpädagoge

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