Der US-Amerikaner Richard Louv provoziert mit der Diagnose eines Natur-Defizit-Syndroms bei Kindern in seinem Buch »Last Child in the Woods« (sinngemäß: das letzte Kind, das noch im Wald spielt).

In seiner Kindheit streifte Richard Louv frei durch Wälder, Wiesen und Brachlandschaften. Dem entsprechen auch die Wunschvorstellungen von Tausenden von ihm befragten Kindern des 21. Jahrhunderts: Sie wollen am liebsten an einem wilden, ungeordneten Platz spielen, an dem sie ohne elterlichen Einfluss sein können. Unstrukturiert und vielfältig sollte er sein, kein durchgeplanter Park. In seinem Buch erforscht Louv ausgehend von seiner eigenen Biografie, aber auch anhand zahlreicher wissenschaftlicher Studien, wie und wann es so kam, dass Kinder aufhörten, draußen »unstrukturierte« Zeit zu verbringen – denn das ist heute vielerorts auch an sonnigen Nachmittagen ein seltenes Bild geworden.

Eltern, die mit guten Absichten die Freizeit ihres Nachwuchses mit »unterstützenden« Förderprogrammen verplanen und kontrollieren, nehmen diesem die Möglichkeit zu spontanem, selbstmotiviertem Spiel, was zur heute üblichen »Indoor-Krankheit« bzw. »Container-Kindheit« führen kann. Wenn sie nicht vor dem Monitor sitzen, befinden sich heutige Kinder fast permanent auf dem Weg von der Schule zum Fußballtraining oder zwischen Tanzunterricht und Kirche. Diese Kinder erleben eine »virtuelle, passive und elektronische Kindheit«, schreibt Louv. In der Welt der klar strukturierten Nachmittagsaktivitäten gibt es kaum noch Freiräume, die zum Erforschen einladen. Louv spricht von der »Kriminalisierung des Spielens «. Baumhäuser zu bauen, ist heute oft verboten oder zumindest unerwünscht. Und selbst wenn es noch natürliche Abenteuerspielplätze in der Nähe gibt, haben viele Eltern Angst, ihre Kinder draußen spielen zu lassen. Sie fürchten Verletzungen, Kidnapping, Verkehrsunfälle oder Missbrauch.

 

Naturerfahrung als Medizin

Natur Kidner Schon sehr früh stoßen heutige Kinder auf Phänomene der globalen Umweltzerstörung wie Artenschwund und Klimawandel. Wenn sie über die Umwelt vor allem solches Wissen erhalten, aber sonst keine Möglichkeit haben, positive, sinnliche Naturerfahrungen zu machen, wächst in ihnen eine gefühlsmäßige Trennung von der Umwelt heran, die Louv als »Ökophobie« bezeichnet.

Immer mehr Kinder erhalten heute die Diagnose Depression oder AD(H)S oder kommen mit der Schule nicht zurecht, weshalb man ihnen immer größere Mengen Psychopharmaka verabreicht. Louv zeigt auf, dass es eine direkte Verbindung zwischen diesen Symptomen und dem naturentfremdeten Leben unserer Kinder gibt. Wenn ihre Beziehung zu natürlichen Abläufen fehlt, zum Beispiel, wenn sie nicht wissen, wo das eigene Essen herkommt, oder welche Pflanzen essbar sind, fühlen Kinder sich unverbunden und ziellos und werden anfällig für Süchte und Essstörungen – ein Teufelskreis. Kinder, die regelmäßig mit ihren Sinnen in die Natur eintauchen dürfen, sind hingegen gesünder, lebendiger und glücklicher. Hier können sie ihre Neugier und Lebenslust ausleben und lernen sich selbst besser kennen. Für viele Kinder mit der Diagnose AD(H)S – das habe ich selbst kürzlich bei einem Programm in den Schweizer Bergen erlebt – wirkt Natur wie ein Medikament. Mit allen Sinnen können sie in der Natur ihrer natürlichen Lust nach Bewegung und Abenteuer nachgehen. Das freie, gemeinsame Spielen hilft dabei, selber Rollen einzunehmen, Kompromisse einzugehen und Lösungen zu finden.

Auch in deutschsprachigen Ländern wächst die Bewegung, die sich für mehr Naturerfahrung einsetzt. Wenn wir es schaffen, eine Kultur zu entwickeln, in der das Sein in der Natur und auch das Gärtnern und Sammeln wieder wichtig werden, helfen wir unseren Kindern, gesund und glücklich zu werden. Dieses Bewusstsein lässt sich nicht verordnen. Aber wir können Erwachsene dazu inspirieren, selber in den Wald zu gehen und zu spielen, damit sie es am eigenen Leib erfahren. Das Kind in ihnen wird sofort wissen, wie gut und wichtig das ist. Das Beruhigende: Spielen in der Natur und die Neugier für die natürliche Umgebung ist nichts, was wir erst lernen müssen. Es ist bereits in uns, und alles, was wir tun müssen, ist jene Dinge zu verlernen, die uns davon abhalten.

 

Dieser Artikel wurde für die Zeitschrift OYA verfasst. Wer die OYA noch nicht kennt, kann hier ein kostenloses Probeheft bestellen.

 

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Buch

Last Child in the Woods: Saving Our Children From Nature-Deficit Disorder

Richard Louv

 

Algonquin Books; Updated and Expanded edition
(April 10, 2008)

 

 

 

 

 

 

Über den Autor

Avatar of Bastian Barucker

ist als Natur- und Wildnispädagoge tätig. „Unsere Kinder sind unsere Zukunft und wir sind dafür verantwortlich ihnen zu erlauben und ihnen dabei zu helfen, herauszufinden wer sie sind und was ihre ganz eigenen Geschenke und Talente sind. Die Natur ist ein hervorragendes Klassenzimmer um das und anderes herauszufinden.“

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7 Responses

  1. Franz Josef Neffe

    Ja, Nina, das ist ganz wichtig, was Du da schreibst.
    Manche Leute sind dafür oft ziemlich blind,
    dass sie länger schon als Kinder Kinder sind!
    Wenn wir uns endlich die ERWACHSENEN anschauen und ihr Defizit an Gefühlen, Empfindungen, Wahrnehmungen,……. und Leben, dann wird deutlich, wie dringend die a) das Vorbild der Kinder brauchen, um wieder lebendig (und gesund) zu werden und b) jemand, der ihnen das deutlich sagt.
    Ich bin Lehrer und mein Berufsstand steht in der Krankheitsstatistik ganz an der Spitze. Wie aber sollen unsere Kinder von lauter kranken Erwachsenen Gesundheit lernen??? Sie lernen doch – wie man gut sehen kann – nur, was diese bisher tun: Wasser predigen und Wein trinken, also Inkonsequenz. Dabei kommt es nicht auf Wasser und Wein an sondern auf PREDIGEN und TUN. Wir Erwachsenen geben in allem das denkbar schlechteste Beispiel. Und das wird gelernt von uns. Die „Maschinerie, in der Einheitsbrei hergestellt werden soll“ ist eine Maschinerie der Quatschköpfe. Wer sich da auf bewusst auf seine Vorbildwirkung besinnt, der erreicht mit weniger Aufwand mehr. Echte Problemlösung ist immer eine feine geistige Präzisionsarbeit. Wer sensibel und achtsam mit den entscheidenden Kräften des Lebens umgeht, hat wachsende Chancen. Das freut mich. Ich grüße herzlich.
    Franz Josef Neffe

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  2. Nina

    Ich glaube, es geht nicht nur darum, den Kindern wieder Raum in der Natur zu geben, es fängt ja bei uns Erwachsenen an. Wer geht denn noch bei jedem Wetter raus in die Natur und wagt es, seine Finger schmutzig zu machen, indem er in der Erde wühlt? Viele von uns haben die Verbindung zur Natur doch irgendwann verloren – und damit auch zu ihrem eigenen Ursprung. Wir sind so in der Tretmühle des Alltags, der Vorgaben von anderen, das wir uns kaum noch Zeit nehmen still zu stehen, Regen auf der Haut zu spüren, Wald zu riechen. Es wäre schön, wenn es mehr Elternrunden gäbe, wo auch die Eltern die Möglichkeit hätten wieder neu zu entdecken, zu spüren und zu lernen. Wir können schließlich nur an unsere Kinder weitergeben, was wir selbst auch gelernt haben zu leben. Und wenn uns der Kontakt zu unserem eigenen Gefühl fehlt führt es zu Ergebnissen wie den Sätzen im Zeugnis von Willi. Da geht es ja auch nicht mehr um den Einzelnen und die Seele, die da vor einem steht, es ist ja mehr eine Maschinerie, in der Einheitsbrei hergestellt werden soll. Zum Glück gibt es immer mehr Menschen, denen es auffällt und die es nicht mehr mitmachen.

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  3. Franz Josef Neffe

    Ja, wir konstruieren das Leben 9 + 3 Jahre in der Schule – und von der lernen alle, es auch sonst überall zu tun – zu Tode. Jeden Morgen geht es nur darum, sich in die vorbereiteten SCHABLONEN einzufügen, sich zu unterwerfen und willig mitzumachen. Die – unausgesprochene – Kernfrage des Lehrers ist die plündernder Horden an die Frauen, die ihnen in die Hände gerieten: „Willst Du mir zu Willen sein!“
    Als Student habe ich einmal in der psychiatrischen Jugendklinik Zeugnisse untersucht. Die ersten Sätze in Willis Zeugnis fingen so an: „Willi hat sich noch nicht richtig eingelebt.“ Nächstes Zeugnis: „Willi hat sich immer noch nicht richtig eingelebt.“ Nächstes Zeugnis: „Willi hat sich noch nicht richtig eingefügt.“ Nächstes Zeugnis: „Willi hat sich immer noch nicht richtig eiongefügt.“ Im 9.Schulbesuchsjahr in der 6.Klasse Sonderschule lautete der erste Satz: „Willi ist zu gar nichts zu bewegen.“ Das ist durchgehend Kindesmisshandlung. Und die wird teuer als „Förderung“ zurechtinterpretiert.
    Wir lassen die Kinder ums Verrecken nicht ins Leben hinein und lügen uns und allen aber ständig vor, das sei die berüchtigte „Vorbereitung auf´s Leben“. Das ist noch nicht einmal Vorbereitung aufs Sterben sondern weiter nichts als Missbrauch.
    Wenn ich mit Willi sprach, verstand er die Pointen – seine „Förderer“ verstanden sie nicht. GEIST in unserer „Pädagogik“ ein nicht mehr vorkommendes Fremdwort.
    Wir verlebensuntüchtigen die Kinder mit Hilfe einer sterilen, toten „Pädagogik“ und bringen sie damit auf unser totes Niveau herunter und noch darunter. Und das machen wir als uns erschöpfende Fleißaufgaben, damit wir nicht die Augen aufmachen und erkennen müssen, was wir tun.
    Meine Schule ist die neue Ich-kann-Schule. Diese ist eine WIRKliche Schule, die Geist und Seele achtet und den entscheidenden FEINEN Kräften im Menschen in Respekt begegnet.
    Hier gilt das Ursprungsprinzip: LEHREN + LERNEN kommt von germ. LAISTI = FÄHRTE. Man lernt, indem man Fährten des Lebens verfolgt und eigene Erfahrungen macht. Und wenn einen das so fasziniert, dass andere einem VON SICH AUS FOLGEN wollen, erst dann und erst dadurch ist man LEHRER. Der Lehrer geht im Lernen mit mitreißendem Beispiel voraus; das gilt in der Ich-kann-Schule. Und da ist es doch wohl logisch, dass es AUF ALLEN FÄHRTEN ins Leben hinaus auch ins Leben hinein geht.
    Ich grüße freundlich.
    Franz Josef Neffe

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  4. Tolskij

    Ich stimme sowohl dem Artikel als auch Tina vollkommen zu. Ich wünsche mir auch für mein Kind freies Spielen im Wald, aber ich gehöre auch zu den Stadtkindern, die wirklich NIE im Wald gespielt haben (Wandertage mit der Klasse durch das Wäldchen zähle ich nicht zum Spielen im Wald & Kennenlernen des Waldes dazu). Ich bin also wirklich unsicher, was schafft mein Kind schon alleine, wie hoch kann sie den Baum alllein rauf und wieder runter klettern, ganz zu schweigen von all den Namen der Käfer, Blumen, Bäume …. Einerseits ist es für mich Ansporn mich mit der Natur mehr auseinanderzusetzten, mit Hilfe von Benennungsbüchern usw, aber es ist einfach nicht das gleiche.
    Ein ganz anderer wichtiger Aspekt ist, dass der nächste richtige Wald mindestens eine halbe Stunde Fahrt entfernt ist, dh. mal spontan in der Woche in den Wald fahren ist nicht möglich, was ich auch wirklich bedauere.
    Zum Glück kennt sich mein Mann etwas besser aus, vor allem bei den Pilzen, sodass wir schon öfter mit unser 3jährigen Tochter im Wald waren und damit meine ich wirklich im Wald, fernab von den Waldwegen. Aber ich kann mir noch nicht so richtig vorstellen, dass oder wie sie eines Tages alleine durch den Wald zieht. Wirklich schade.

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  5. venja

    Hallo und guten Morgen an alle Leserinnen und Leser;-)

    Die Natur ist ja ein Teil von uns, in uns! Es geht nicht darum, einem Kind zu sagen: DU DARFST nicht! Die Mutter sagt: ICH darf aber (Spinne zertreten) und vor allem bestimme ich hier, wer was darf!

    Es geht ja um Gefühle. Zertrete ich einen Käfer, spüre ich das in MIR? Wie fühlt sich das an?
    Was bedeutet es, wenn alles auf energetisch-kommunikativer Ebene miteinander verbunden ist?
    Was bedeutet es für MICH, wenn ich auf eine bestimmte Art mit meiner Umwelt kommuniziere? Auch scheinbar NICHT kommuniziere, aggressiv, destruktiv, zerstörerisch kommuniziere? Was passiert dann mit mir und meinem Umfeld? Will ich das? WAS will ich und wie geht das dann?
    Du DARFST alles, aber bedenke die Folgen. Wenn Du nicht denkst, wirst Du irgendwann sehr deutlich spüren, was Du in die Welt gesetzt hast und das fängt bei einem Käfer an, denn dahinter ist das gleiche Prinzip, wie im Großen!

    Das Weltbild auf der Verbundenheitserfahrung und Weltsicht aufbauen und entdecken, löst nachhaltig alle Probleme.

    Teile und herrsche war gestern;-)

    Letztlich: Die meisten dieser Kultur zerstören unbewusst. Von außen implementierte Glaubenssysteme, die sie ihre Einstellungen nennen. Zerstörerisch, destruktiv ist – auf einer gewissene Ebene – nichts Verbotenes, Schlimmes, Abzuschaffendes, sondern eine Möglichkeit, Einfluß zu nehmen und Selbst-ermächtigung zu gewinnen, wenn man BEWUSST zerstört, BEWUSST erschafft. Das ist der Unterschied.

    Werden wir vom unbewussten Zerstörer, zum bewussten Erschaffer unserer Welt, unserer Möglichkeiten, Kreativität und unseres Potenzials!

    Wie, das klingt zu abgehoben?
    Man kann ganz klein anfangen;-)

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  6. tina brunner

    Alles recht schön und absolut zu unterschreiben, mit meinen Kindern geht das auch- NUR:
    die vielen, vielen „tollen“ Eltern, die für ihre Kinder ja nur das Beste wollen und nach dem letzt gültigen Ratgeber agieren, sind ja selbst überfordert in der Natur.
    Da hat keiner eine Ahnung WIE den die Blume heißt, ob man die Wurzel essen kann, was man mit dem Schwammerl macht… kurz und gut- DEREN Kinder kann man nicht einfach so den Wald schicken…. da kommt nur mehr die Hälfte zurück… und da rede ich gar nicht von den kleinen Schrammen, mit denen genau diese Eltern dann gleich wieder ins Spittal kurven.
    Wenn schon die Eltern nicht mehr in der Natur aufgewachsen sind, wie wollen sie ihren Kindern das beibringen, sie dermaßen vorzubereiten, dass man sie ohne gröbere Komplikationen allein in der Natur lassen kann, ohne das ein Ameisenhaufen dann vernichtet ist, eine seltene Pflanze ausgerissen, eine Baumrinde eingeritzt, ein Busch umgebogen….
    Es ist nicht einfach und vor allem zeitaufwendig,Kindern das Gefühl für die Natur zu geben, den sensiblen Kreislauf des Lebens, die Wertigkeiten „richtig“ zu setzen…
    Die Frage :“ Warum darf ich NICHT auf den Käfer treten und du schon auf die Spinne in unserem Wohnzimmer?“ ist da erst der Anfang und von allein kommt da nichts!

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