© Photographee.eu-stock.adobe.comMontag um zehn – Eine Erfahrung mit Sterbehilfe in Deutschland 26. Oktober 2024 Allgemein Gerade habe ich zugesagt, einen Artikel über meine Erfahrung zum Thema Sterbehilfe zu schreiben, als mein Blick auf den Kalender fällt. Ich stutze. Schaue noch mal. Und tatsächlich. Auf den Tag genau ist es zwei Jahre her, dass mein Wahlvater, der “Vater meines Herzens”, 97 Jahre alt, einst Segler auf den Weltmeeren, der mich die letzten siebzehn Jahre seines Lebens mit seiner pragmatischen und lebensbejahenden Art so oft inspiriert hatte, in seiner Berliner Wohnung durch Sterbehilfe das irdische Sein hinter sich gelassen hatte. von Carola Gehrke An einem lauen Sommerabend im Juli 2022 hatte er mich angerufen. “Kommst du am Montag um zehn?”, hatte er mich mit gepresst klingender Stimme gefragt, “kannst du Zeuge sein?” “Was bitte? Zeuge? Wofür?” “Für mein Ableben.” “Äh, was?”, hatte ich noch erwidert, “wofür?”, innig hoffend, das müsse einer seiner Witze sein und sein Kichern würde mich von der Wahrheit erlösen. Vergeblich. Es ist dieses kurze Gespräch, mit dem ich die Geschichte in meinem Buch beginne. Eine wahre Geschichte ist es, meine und seine, und eine zutiefst ehrliche, authentische. Denn, so fragte ich mich immer wieder in den fünf Tagen, die uns noch blieben – würde ich wirklich Zeugin sein wollen? Natürlich wollte ich ihm seinem letzten Wunsch erfüllen, bei ihm und eine der drei benötigten Zeugen sein. Nur war da noch diese andere Stimme in mir, die rebellierte und die immer wieder mehr oder weniger direkt versuchte, Herrn B., wie ich ihn liebevoll in meinem Buch nenne, umzustimmen. Warum? Was war passiert? Als ungewöhnlich aufrechten Mann, innen wie außen, weißhaarig, hatte ich Herrn B., den Freund meiner Mutter, 2006 kennengelernt. Er hatte sich immer eine Tochter gewünscht, und ich brauchte dringend die Erfahrung, mich als Tochter eines unterstützenden und inspirierenden Vaters zu fühlen. So geschah es, und erst Jahre später sprachen wir darüber. Über die Jahre hatte ich ihn altern sehen und ihn in den letzten zwei Jahren seines Lebens in Alltagsdingen, Hygiene etc. unterstützt. Denn zu der nach vorne gebeugten Haltung hatten sich ein wankender Gang, zitternde Hände und Verdauungsschwierigkeiten gesellt. Sein Geist aber war klar und frisch wie eh und je. Mehr als ein halbes Jahrhundert hatte er täglich autogenes Training praktiziert und es immer wieder vermocht, sich selbst in erstaunlicher Geschwindigkeit zu heilen oder Heilungsprozesse zu unterstützen – selbst nach einem Oberschenkelhalsbruch samt OP im Alter von 94 Jahren. So auch ein halbes Jahr, bevor er sich selber starb, als er wegen zwei Infektionen mit Corona sechs Wochen im Krankenhaus isoliert wurde. Herr B. hatte eine erstaunliche Fähigkeit besessen, immer wieder Kraft aus sich selber zu schöpfen. Als er ein Jahr vor seinem gewählten Tod plötzlich wiederholt sagte, dass er jetzt sterben wolle, und mich und andere um “Gift” bat, war ich schockiert und weigerte mich. Mit Hilfe seiner Familie wurde er Mitglied in einer der deutschen Organisationen für humanes Sterben. Ein Attest seiner Hausärztin unterstützte seinen Antrag auf Sterbehilfe. Meine Zweifel Ich fragte mich, was in Herrn B. auf einmal so drängte zu sterben. Sein Leben in seiner Wohnung war nicht einfach und die täglichen Runden im Park waren nur mit Hilfe möglich. Diese Erfahrung, weniger selbstständig und auf Hilfe angewiesen zu sein, war nicht einfach für ihn, der sein Leben bewusst in Selbstverantwortung geführt hatte. Oft hatten wir darüber gesprochen. So fragte ich mich, ob es wirklich „die Seele“ war, die gehen wollte? Wie abgeschlossen hatte er wirklich mit seinem Leben und seiner Erfahrung von Hilflosigkeit? Warum war das so wichtig für mich? In systemischen Aufstellungen hatte ich häufig erlebt, dass aufgestellte Ahnen nicht wussten, dass sie nicht mehr leben. Wenn dann etwas, das sie noch an eine Person, einen Konflikt oder eine unvollendete Erfahrung band, angeschaut, ausgesprochen und gelöst worden war, stellte sich von selbst der Wunsch ein, jetzt wirklich zu gehen. Daher fragte ich mich, was es für den Prozess des Gehens der Energie und für zukünftige Inkarnationen bedeuten könne, wenn Energien über den Tod hinaus an irdisches Sein gebunden bleiben. Eine Aufstellung brachte Klarheit. Tatsächlich! Herr B. war bereit zu gehen. Nur war ich noch nicht bereit, ihn loszulassen! Habe ich ihn beim Sterben zu einem früheren Zeitpunkt gestört? Warum sterben viele Menschen nachts oder in den frühen Morgenstunden? Ist es, weil der Schleier zwischen den Welten in dieser Zeit am durchlässigsten ist? Welche Rolle spielt es, wenn niemand anwesend ist zum Festhalten oder Festgehalten-Werden? Wie in der Nacht. Allein. Spätestens als die Aufstellung mir zeigte, dass ich selber noch gar nicht bereit war, Herrn B. gehen zu lassen, fragte ich mich, ob ich ihn in den Monaten zuvor beim Sterben gestört haben könnte. Denn nur wenige Monate zuvor hatte Herr B. die Familie am frühen Abend zusammengerufen, als er spürte, dass sein Sterben nahte. Einer nach dem anderen hatte sich verabschiedet. Am Ende blieb nur ich und fragte ihn, ob er allein sein wolle. “Nein”, war seine klare Antwort, “ich will, dass du bei mir bist” und – wie in einem beiläufigen Nebensatz – “Ich gehe um sechs.” Gegen sechs war ich auf der Matratze neben seinem Bett davon wach geworden, dass ich nicht nur EINE Energie emporsteigen fühlte, sondern zwei. Nämlich auch meine. Weit in der Höhe „standen“ unsere Energien sich gegenüber und flossen plötzlich ineinander wie zu einer Abschiedsumarmung. Bis heute habe ich keine Erklärung, warum der Wecker, den niemand gestellt hatte, in diesem Augenblick klingelte und ich mich plötzlich auf meiner Matratze wiederfand. Herr B. war aufgewacht und wollte, körperlich schwach, wie er zu diesem Zeitpunkt noch war, mit unerklärlich neuer Lebensenergie sofort aufstehen, sich die Zähne putzen und seinen Tag gestalten. Ab dann ging es rapide wieder aufwärts. Wir hatten noch fünf Tage Als wir plötzlich nur noch fünf Tage hatten, fragte ich mich, was wir mit dieser geizig bemessenen Zeit anfangen würden. Was war jetzt wirklich wichtig? Was musste noch besprochen und gesagt werden? Was gefragt, was wertgeschätzt, gar verantwortet werden? Was mich am meistens erstaunte, war, wie Banales und Alltägliches, mit Kuriositäten gespickt, in dieser Zeit einfach weiterging. Wie Herr B. sich weiter jeden Morgen ausgiebig seinem autogenen Training hingab, um gut durch den Tag zu kommen. Oder wie er am Nachmittag vor seinem Sterbetag emsig nach dem seit Wochen vermissten Eierkocher gesucht hatte und wir, als er plötzlich einsah, sehr bald keinen Eierkocher mehr zu brauchen, aus dem Lachen gar nicht mehr rauskamen. Was hat mich zum Schreiben des Buches bewegt? Meine Erfahrungen, so einzigartig sie sind, haben zugleich etwas Allgemeingültiges. Denn die Frage, wie abgeschlossen der Sterbewillige mit dem Leben und gegenwärtig empfundenen Leiden wirklich ist, stellt sich immer – unabhängig von Alter und akuter Lebenssituation. Darum begann ich zwei Monate, nachdem Herr B. gegangen war, diese Geschichte zu erzählen. Dabei war es mir wichtig, wertfrei zu schreiben – frei von Moral, Urteil, Politisieren. Zugleich war es mir ein Anliegen, nah am Geschehen zu erzählen, um dem Lesenden eine direkte Stellvertretererfahrung mit Raum für eigenes Erleben und Fragen zu ermöglichen. Geholfen hat mir dabei die beiderseitige Ehrlichkeit miteinander während unserer letzen fünf Tage. Denn keiner von uns war „für den anderen stark“. Das war nicht immer einfach, aber es ermöglichte authentische Prozesse, in denen er und ich einander dabei unterstützten, sich dem bevorstehenden Abschied und Sterben bewusst zu stellen. So kamen wir einander noch einmal ganz neu nah – und die Liebe floss und floss und floss. Praktische Fragen rund um die Sterbehilfe Bei Lesungen und Gesprächen erlebe ich am häufigsten Erstaunen, dass es überhaupt Sterbehilfe in Deutschland gibt. In der Tat, denn nachdem das Bundesverfassungsgericht im Februar 2020 das Verbot zur Suizidhilfe aufgehoben hatte, waren im Juli 2023 zwei Gesetzentwürfe von fraktionsübergreifenden Gruppen über eine Neuregelung der Sterbehilfe mehrheitlich zurückgewiesen worden. Andere Fragen drehen sich um Praktisches. Die Frage, an wen man sich wenden kann, lässt sich durch eine Suche nach Sterbehilfe-Organisationen im Internet eigenständig beantworten. Doch drei Dinge möchte ich hier erwähnen, die den Sterbetag angehen. Mein Erlebnis des genauen Ablaufs ist in meinem Buch nachlesbar. • Am jenem Montag um zehn kamen ein Arzt und eine Juristin, beide wohltuend warmherzig, in Herr B.s Wohnung. Er musste drei Dokumente unterschreiben. Darunter eines, das uns, die Zeugen, von der Verantwortung, lebensrettende Massnahmen einzuleiten, befreite. • Herr B. drückte in eigener Verantwortung auf die Klammer, die den Schlauch öffnete, durch den das tödliche Herzmedikament in ihn floss. • Kaum eine Stunde nach dem ärztlich festgestellten Herztod kam die Kripo, um den vermeintlichen Tatort zu untersuchen und Gegenstände zu konfiszieren. Darunter auch den leblosen Körper. Was macht das mit der gehenden Energie, wenn die Zellen im Körper nicht in Ruhe „ausschwingen“ können? Was kommt nach dem Tod? In zahlreichen Gesprächen hatten Herr B. und ich uns dieser Frage gewidmet. Viel gereist und belesen, wie er in den verschiedensten östlichen und westlichen Religionen einschließlich dem Schamanismus war, hat ihn das Thema bis zum Schluss beschäftigt. Vertraut mit dem Tod war er wie selten jemand, hatte er doch als Bestatter mit eigenem Institut drei Jahrzehnte lang Hinterbliebene betreut und es sich nicht nehmen lassen, die meisten Grabreden selbst zu halten. Wie bewusst Herr B. gestorben ist, zeigt die letzte Konversation in den Minuten, bevor er selbst die Klammer drückte: “Tja”, sagt Herr B. mit Blick auf die Uhr nachdenklich in die Runde, “wir wissen nicht, wie es ist. Ob noch etwas nach dem Tod kommt. Oder nicht. Oder was da kommt. Wir wissen es einfach nicht.” “Ja… “, sagt der Neffe andächtig, “aber DU, du wirst es bald wissen! Und das wird dein Geheimnis bleiben.” Herr B. lächelt verschmitzt. Auf welch überraschende Weise er es mir eine knappe Stunde nach seinem Ableben schließlich doch verriet, erzähle ich in meinem Buch. Carola Gehrke, geboren 1965 in Berlin, ist promovierte Biologin, Germanistin, Lyrikerin. Seit 2013 freischaffende Autorin in Berlin. Fokus ihres Schreibens: Tabu-Themen (u.a. Suizid), um Verborgenes sichtbar, fühlbar, erlebbar und damit lösbar zu machen. kontakt: montagum10@gmail.com Buch: Carola Gehrke: „Willst Du wirklich sterben, Vater meines Herzens? – Eine wahre Geschichte“, BoD 2023 Hinterlasse einen öffentlichen Kommentar Antwort abbrechenDeine Email Adresse wird nicht veröffentlicht.KommentarName* E-Mail* Meinen Namen, meine E-Mail-Adresse und meine Website in diesem Browser für die nächste Kommentierung speichern. Überschrift E-Mail-Benachrichtigung bei weiteren Kommentaren.Auch möglich: Abo ohne Kommentar. Durch Deinen Klick auf "SENDEN" bestätigst Du Dein Einverständnis mit unseren aktuellen Kommentarregeln.