Die meisten Menschen verbinden Yoga mit verschiedenen mehr oder weniger komplizierten Körperhaltungen. Doch auch viele Yogaübende sind immer wieder überrascht, wenn sie das erste Mal von Mudras hören: auf den ersten Blick simpel wirkenden Handgesten mit großer Wirkung. Erstaunlicherweise führen diese kleinen, kraftvollen Übungen ein Nischendasein. Dabei kann man sie fast immer und überall ausführen: in der Bahn, im Büro, auf dem Spielplatz, im Wartezimmer – oder sogar auf dem stillen Örtchen…

von Andrea Christiansen

Was sind Mudras und wo kommen sie her?

Der aus dem Sanskrit, einer Form des Alt-Indischen, stammende Begriff Mudra ist ein Wort mit vielen Bedeutungen. In der Regel wird es als „Siegel“ oder „Symbol“ interpretiert. Heute verstehen wir unter einer Mudra eine mystische Stellung der Hände. Diese Fingerhaltungen dienen im formalen indischen Tempeltanz dazu, bestimmte Bewusstseinszustände darzustellen. Im Hatha-Yoga finden Mudras Anwendung, um in einen bestimmten Bewusstseinszustand zu gelangen. Der Geist folgt hier der Ausdruckskraft des Körpers. Eine Geste, die Freude ausdrückt, hat einen positiven Einfluss auf die Psyche. In der Gherand Samhita, dem ältesten Text des Hatha-Yoga, werden insgesamt 25 Mudras beschrieben, von denen jedoch viele nur unter Anleitung eines erfahrenen Meisters geübt werden sollen.

Die dort beschriebenen Mudras werden nicht allein durch die Hände ausgeführt. Sie sind komplizierte Bestandteile von Übungen mit dem ganzen Körper.

Universelle Handgesten

Und so scheinen die Mudras ihren Ursprung im Yoga und dem indischen Tempeltanz zu haben, doch es hat sich gezeigt, dass ähnliche Handgesten in allen Kulturen der Welt vorzufinden sind. Archäologische Funde dazu gehen über tausende von Jahren zurück, und manche Handhaltungen scheinen universell auf unserem Planeten zu sein. Auch in Westeuropa sind Mudras aus rituellen Handlungen bekannt: Die Gebetshaltung aus dem Christentum, bei welcher die Handflächen aneinandergelegt und die Hände vor die Brust gehalten werden, während die Fingerspitzen nach oben zeigen, hat beispielsweise auch eine indische Entsprechnung. Hier wird es als Atmanjali- oder Namaste-Mudra bezeichnet. (Sanskrit, Atmanjali: Gruß an das Selbst) Oder die sogenannte „Merkel-Raute“ – wer kennt diese Geste nicht? Sie findet ihre Entsprechung in der Hakini-Mudra (Hakini ist der Name einer Göttin, welcher spezielle Energien rund um Erkenntnis und Bewusstsein zugeordnet werden). Bundeskanzlerin Merkel wird oft in genau dieser Haltung fotografiert: Alle Fingerspitzen treffen sich mit den Fingerspitzen der anderen Hand. Auf diese Weise wird der Atemimpuls vertieft.

Hakini ist energetisch dem Stirnchakra zugeordnet. Sie aktiviert außerdem die rechte Gehirnhälfte, in der die Gedächtnisbereiche liegen sollen. Durch die vertiefte Atmung wird das Gehirn mit mehr Sauerstoff versorgt. Kein Wunder, dass Frau Merkel diese Mudra intuitiv ausführt. Sie verhilft zu besserer Konzentration.

Wie funktioniert’s?

Warum Mudras wirken, ist wissenschaftlich nicht geklärt. Da der Mensch ein vielschichtiges energetisches Wesen ist, wird die Wirkung der Mudras auf die Veränderung der Energieflüsse zurückgeführt, ausgelöst durch spezifische Berührungen der Finger, aber auch Spannung und Entspannung der Hände.

Mudras im Alltag

Die Mudras, mit denen wir uns im Alltag befassen, werden fast ausschließlich mit den Händen ausgeführt. Vielleicht ist es Ihnen ja auch schon einmal aufgefallen, dass Sie in ganz bestimmten Situationen einen oder zwei Finger umfassen oder Fingerspitzen unbewusst zueinander führen. Auch kleine Kinder kann man dabei beobachten, wie sie ihre Finger kneten oder halten. Die Erkenntnisse über die Wirkungsweise der verschiedenen Energien, die unsere Finger durchströmen, sind nicht nur im Yoga zu finden. Auch im japanischen Jin shin jyutsu, einer Lehre zur Harmonisierung der Lebensenergie im Körper, werden Mudras eingesetzt. So sagt man dort, der Daumen reguliert die Sorgen, der Zeigefinger mindert die Angst, der Mittelfinger lässt die Wut verrauchen, der Ringfinger tröstet die Trauer und der kleine Finger bremst den überzogenen Eifer.

Die mit Yoga eng verflochtene traditionelle indische Heilkunst des Ayurveda gibt den Fingern eine Zuordnung zu den Elementen. So gehört das Feuer zum Daumen, die Luft zum Zeigefinger, der Himmel zum Mittelfinger, die Erde zum Ringfinger und das Wasser zum kleinen Finger. Mit diesen Kenntnissen ist es möglich, auf ganz einfache Art und Weise die Kräfte unserer Finger zu nutzen, selbst wenn man noch keine Erfahrungen mit Mudras hat. Denn: Wenn einen der hektische Alltag wieder einmal einholt, können Mudras schnell und einfach gute Dienste leisten. Das regelmäßige Üben von Mudras kann ein Weg sein, sich aus dieser Stressfalle zu befreien.

Wie werden Mudras geübt?

Am wirkungsvollsten sind Mudras natürlich, wenn sie in Ruhe geübt werden. Ruhe gibt einem die Möglichkeit, wieder zu sich selbst zu finden. Generell können Mudras aber in fast jeder Situation geübt werden, auch morgens im Bus oder in der Bahn auf dem Weg zur Arbeit – oder auf dem Heimweg. Wichtig ist nur der Moment der Besinnung, der Moment der Selbstwahrnehmung und der inneren Verbindung zu der ausgewählten Handgeste. Menschen mit wenig Zeit können natürlich auch am Arbeitsplatz üben. Gerade stressgeplagten, angespannten Patienten sage ich immer: „In jedem Unternehmen gibt es einen Ort der Ruhe, den wir für uns nutzen können: die Toilette!“. Gönnen Sie sich also fünf Minuten auf dem stillen Örtchen für eine Mudra, die Ihnen die Möglichkeit gibt, wieder herunterzufahren.

Übungsdauer und Mudra-Zeit

Die Zeitdauer, die eine Mudra gehalten werden sollte, ist recht variabel. Eine allgemeine Regel lautet, mehrmals täglich 10-15 Minuten mit beiden Händen. Dabei werden beide Hände in die gleiche Haltung gebracht, es sei denn, die Mudra besteht aus zwei unterschiedlichen Haltungen für jeweils die rechte und die linke Hand. Erfahrungsgemäß tritt die Wirkung einer Mudra bei jedem Menschen allerdings sehr unterschiedlich ein. Menschen, die in Selbstwahrnehmung und Selbstreflexion geübt sind, haben es oft leichter, die Wirkung einer Mudra festzustellen. Darum ist es wichtig, dass jeder für sich selbst Erfahrungen sammelt, denn bei einigen kann sich die Wirkung recht schnell zeigen, bei anderen kann es sogar Wochen dauern, bevor die ersten Veränderungen spürbar werden – was ein sicherer Hinweis darauf ist, dass genau diese Mudras die wichtigen für einen sind. Aber unabhängig davon, wie viel Zeit man findet: Mudras sollten regelmäßig ausgeführt werden. Dazu sollte man sich zwei oder drei Mudras auszusuchen und diese möglichst immer zur gleichen Zeit durchführen. Der Körper speichert diese Zeit als „Mudra-Zeit“.

Schnelle Hilfe – 2 Mudras für unterwegs Apan-Vayu – gegen Beklemmung

Mudras können auch schnelle Hilfe in besonderen Stressmomenten bieten – bei der Arbeit oder in der Freizeit. In Situationen, in denen man sich durch eine plötzlich veränderte Atmosphäre (und nicht durch medizinische Ursachen) unwohl und unruhig fühlt und den Eindruck hat, das Herz würde eng, käme aus dem Takt und die Luft bliebe einem weg, kann die Mudra Apan-Vayu hilfreich sein. Apan Vayu bedeutet „nach unten gehender Wind“ und bezeichnet eine Kraftrichtung des Lebensatems Prana. Die Mudra stellt das Gleichgewicht des Prana wieder her und bringt Sie wieder in Balance und zur Ruhe. Die Mudra wird mit beiden Händen geübt: Beugen Sie den Zeigefinger, so dass er den Daumenballen berührt. Die Spitzen von Mittel-und Ringfinger berühren die Daumenspitze. Der kleine Finger wird locker gestreckt.

Mushti-Mudra – gegen innere Anspannung

Wenn der Morgen schon wieder hektisch begann und man spürt, wie der Stresspegel steigt, kann die Mushti-Mudra (das Wort bedeutet so viel wie Faust oder Griff) helfen, sich wieder zu entspannen. Diese Mudra wirkt ganz besonders auf die Leber. Eine angespannte Leber führt auch zu Anspannungen im Schulter Nackenbereich. Mushti lockert also nicht nur Ihre Stimmung, sondern auch den ganzen Körper. Diese Mudra ist auch hilfreich am Abend: Ist die Leber entspannt, findet man leichter in den Schlaf.

Auch für Menschen, die beruflich viel Denkarbeit leisten müssen, keine Ich-Zeit mehr finden und unter Druckgefühlen und Kopfschmerzen leiden, kann das regelmäßige Ausüben dieser Mudra den Kopf wieder frei machen und harmonisierend auf die Energien wirken. Ballen Sie beide Hände zu Fäusten. Legen Sie den Daumen über den Ringfinger. Schon das lockere Halten dieser Geste ist sehr wirksam. Bei sehr starken Aggressionen können Sie eine zweite Variante üben, die die lösende Wirkung noch verstärkt: Atmen Sie ein, indem Sie die Faust locker halten. Atmen Sie laut auf Fffff aus und spannen Sie die Faust an. Wiederholen Sie dies mindestens 10-mal. Danach schütteln Sie beide Hände locker aus. Üben Sie bei Bedarf dreimal täglich 15 Minuten.

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