Schule und Bildung: Warum nur ein Konzept der Liebe unsere Zukunft sichern kann

Von Uschi Rapp

 

98% aller Kinder kommen hochbegabt zur Welt. Am Ende der Schullaufbahn sind es nur noch 2%. Dieser ernüchternden These folgt der neue Film von Erwin Wagenhofer. 

Nach „We Feed the World“ und „Let’s Make Money“ beschäftigt sich der österreichische Filmemacher mit dem, was er für die Ursache der gravierendsten Probleme unserer Zeit hält: unserem Bildungssystem.

Schulen in China: Unsere Kinder gewinnen am Start und verlieren im Ziel 

Erwin Wagenhofers neuer Film ist kein einfacher Film. Lange Passagen spielen in China und zeigen uns Bilder aus einem Land und aus einem Schulsystem, das in der dargestellten Radikalität fremd erscheint. Hinterlegt werden diese Abschnitte unter anderem mit Erklärungen der Bildungswissenschaftler Sir Ken Robinson und Yang Dongping in englischer und chinesischer Sprache. Es sind viele Untertitel, die der Zuschauer lesen muss, um dem Inhalt zu folgen. „Alphabet“ ist kein Film für Analphabeten.

Eine Berührung des Zuschauers findet dennoch statt. Zum Beispiel, wenn die Kamera einen chinesischen Schüler durch die Vorbereitungen zur jährlichen Mathematik-Olympiade begleitet. Selten hat man ein Kind mit so wenig Ausdruck und so wenig Begeisterung für seine Leistungen gesehen. Die Szene, wenn die Mutter stapelweise die Gewinner-Urkunden ihres Sohns zeigt und vorliest, während das Musterkind ausdruckslos und müde auf den Fernseher starrt, macht betroffen. Man möchte diesen Schüler aus seiner Tretmühle befreien. Weg von dieser Mutter, weg aus dieser Schule, heraus aus diesem Land.

 Wir erfahren, dass Schüler in China weltweit die kürzeste Schlafzeit, die längste Lernzeit, den größten Prüfungsdruck und das geringste Glücksgefühl haben. Dass sie ihre Eltern um das freie Wochenende beneiden und um die Möglichkeit, abends fernzusehen. Dass sie weltweit an Platz eins der PISA-Studie stehen und dass sich immer mehr umbringen. „Unsere Kinder gewinnen am Start und verlieren im Ziel“, so der bittere Kommentar von Yang Dongping.

Diese Zustände sind erschreckend, aber auch bei uns sieht es nicht gut aus. Auch wir haben ein Bildungssystem mit überhöhten Anforderungen, Konkurrenzverhalten und enormen Leistungsdruck. Der deutsche Hirnforscher Gerald Hüther erklärt dessen Ursprünge mit der Weitergabe von negativer Erfahrung. Generationen mit Erlebnissen von Krieg, Elend und Vertreibung haben ihre Ängste an ihre Kinder weitergegeben. Diese Angst, dass aus uns oder aus unseren Kindern nichts wird, ist uns laut Hüther ins Wesen geschrieben. 

„Jeder weiß, dass die Schule nicht das Leben ist. Mein Leben aber ist die Schule, was heißt, dass da etwas falsch gelaufen sein muss.“ Immer wieder hören wir die Stimme von Yakamoz Karakurt, die aus ihrem offenen Beschwerdebrief vorliest, den sie mit 15 Jahren verfasste und der 2011 in der Zeit veröffentlicht wurde. Yakamoz ist eine Musterschülerin und hat inzwischen ihr Abitur gemacht.

Aber der Film zeigt auch das Beispiel eines Menschen, der durch die Maschen des Systems fällt und so begleiten wir den Hauptschulabsolventen Patrick durch eine Nachtschicht im Sicherheitsdienst. Resigniert schildert er seine frustrierende und demütigende Situation als 1-Euro Jobber. In einer anderen Sequenz dürfen wir diejenigen beobachten, die scheinbar genau für dieses System gemacht sind: Bei den Finalisten des 2-jährigen Wettbewerbs „CEO of the Future“ handelt es sich um Hochschulabgänger, die sich mit viel Ehrgeiz auf ihre Karriere in der Management- oder Leitungsebene vorbereiten und sich dabei mit der größten Selbstverständlichkeit einer Sprache bedienen, die aus Kriegszeiten zu stammen scheint. Erfolgsorientiert und zynisch versuchen sie, sich in einem Programm zu behaupten, was nur auf persönliche Profitmaximierung ausgelegt ist. 

Natürliche Bildung entsteht nur, wenn ein Kind das machen darf, was es kann.

Doch es geht auch anders, nämlich wenn das Konzept der Ausbildung nicht Angst, sondern Liebe ist. Dies erzählt Pablo Penito, ein spanischer Lehrer mit Downsyndrom. Die Sturheit seiner Eltern sowie die frühe Förderung des Pädagogikprofessors Miguel-López Melero ermöglichten ihm eine Ausbildung jenseits des üblichen Konkurrenzdenkens sowie den ersten Hochschulabschluss eines Europäers mit Trisomie 21.

Liebe ist auch die treibende Kraft im Schaffen des Pädagogen und Forscher Arno Stern, der in den 60ern das „Malspiel“ entwickelte. Die Kamera begleitet Stern nach Closlieu, in seinen „Malort“, in dem Kinder spielerisch malen und Erwachsene das Spielen im Malen wieder erlernen. Dieses Malen geschieht ohne Auftrag. Die Bilder bleiben am Ort und werden von Arno Stern archiviert. Das Schaffen konzentriert sich also ganz und gar auf den Prozess und nicht auf das Ergebnis. Kein Vergleichen, kein Präsentieren, keine Konkurrenz. Es zählt der spielerische Ansatz.

Im Film blättert Stern durch die von ihm gesammelten Werke von Kindern aus mehreren Jahrzehnten. Und wir sehen: Mit Beginn der 80er verändert sich etwas. Immer mehr wird auf den Bildern etwas dargestellt und immer weniger wird etwas ausgedrückt. Chaotische, fließende Farben, Linien und fantasievolle Elemente weichen starren Formen und Konzepten. „Es wird nicht mehr gespielt, sie führen nur noch Aufgaben aus, um die Anforderungen der Erwachsenen zu erfüllen“, erklärt Arno Stern.

 

Seiner Ansicht nach muss ein Kind das machen dürfen, was es kann. Nur dann entsteht natürliche Bildung und die kann nur ein Kind erleben, dem man die Freiheit dazu gewährt. Und er fügt hinzu: „Das ist das Übelste, was man einem Kind beibringen kann: Dass sie glauben, sie könnten es nicht selbst, sie müssten immer einen Auftrag ausführen.“

 Spielend lernen

Arno Stern hat seine Überzeugung auch im Erziehungskonzept seiner eigenen Kinder zum Ausdruck gebracht. Bekanntestes Beispiel ist sein multitalentierter Sohn André Stern, der mehrere Sprachen spricht, Musik komponiert, Gitarren baut und über seinen ungewöhnlichen Lebensweg ein Buch geschrieben hat: „…und ich war nie in der Schule – Geschichte eines glücklichen Kindes“. André Stern ist ein Vorzeige-Exemplar für die Verfechter der freien Bildung. Die Kinder gehen auf keine Schule und erhalten auch keinen Hausunterricht. Das Kind und sein Gehirn organisieren sich selbst.

Doch was ist mit den Bemühungen der Reformpädagogen? Nicht jeder lebt in Frankreich oder in einem anderen Land ohne Schulpflicht. Nicht jedes Elternpaar hat den pädagogischen Hintergrund der Sterns, und nicht alle haben die Möglichkeit, ihre Kinder an einem idealen Ort mit maximaler, liebevoller Förderung aufwachsen zu lassen.

Zwischen staatlicher Leistungsmühle und freier Bildung scheint es keine Alternative zu geben. In dieser Beziehung bleibt Wagenhofers Film seltsam stumm. Ein kurzer Ausschnitt mit im Wald spielenden Kindern deutet ein alternatives Konzept an, ohne jedoch weiter drauf einzugehen. Erst im Abspann kann man lesen, dass es sich um die „Kindergruppe Waldfexxx“ gehandelt hat. Dass Waldfexxx einen  reformpädagogischen Ansatz vertritt, steht aber auch dort nicht.

Wir kennen nicht den einen richtigen Weg- also lasst uns experimentieren! 

Trotz dieser offenen Fragen und trotz seines schwierigen Zugangs ist „Alphabet“ ein wichtiger Film, denn die Inhalte und Ziele der Ausbildung unserer Kinder werden immer noch zu wenig hinterfragt. Wir alle wuchsen in einem System auf und haben gelernt, dass sich eine erfolgreiche Kindheit am Schulabschluss ablesen lässt. Dass es wesentlich ist, welche Universität besucht wird und wie gekonnt sich der Hochschulabsolvent anschließend in die Arbeitswelt integriert. Kritische Stimmen kommen bisher größtenteils aus dem pädagogischen oder psychologischen Umfeld und stellen Fragen wie: „Ist es gut für das Kind, so früh bereits auf Leistung und Erfolg getrimmt zu werden?“

Wagenhofers Ansatz geht darüber hinaus und erhält Unterstützung aus einer unerwarteten Richtung: Der ehemalige Personalvorstand und Arbeitsdirektor der Deutschen Telekom, Thomas Sattelberger erklärt: „Die klassische Schule hat versagt. Wir kennen nicht den einen richtigen Weg, wir wissen nur, dass es so nicht geht. Also lasst uns experimentieren!“

„Alphabet“ zeigt: Unser Bildungssystem zerstört unsere Zukunft. Die Entwicklungen in den Bereichen Kultur, Politik und Wirtschaft beweisen, dass das Schwinden von Kreativität und menschlichem Genius tiefgreifende Konsequenzen auf unsere Zukunft hat. Einen Teil dieser Konsequenzen hat Wagenhofer in „We Feed the World“ und „Let’s Make Money“ bereits beschrieben. Es sind komplexe Probleme und diese verlangen nach komplexen und vielseitigen Antworten, die diskutiert und erforscht werden müssen. 

Unsere Schulen und Universitäten bilden Menschen dazu aus, dass sie auf eine Frage immer ähnliche, nämlich gelernte Antworten geben. So ist das System. Lösungen erhalten wir aber nur mit neuen und kreativen Ideen, entwickelt von Menschen, die über ihre angeborene Hochbegabung verfügen. Dazu benötigen wir mehr als nur 2% unseres natürlichen Genius. Erst wenn unsere Bildungssysteme diesen Genius fördern und nicht mehr durch Normierung, Konkurrenzdenken und Leistungsdruck systematisch zerstören, ist Rettung in Sicht.


Weiterführende Links

Alphabet – Der Film

„Mein Kopf ist voll!“ Offener Brief der Schülerin Yakamoz Karakurt in der Zeit

Webseite von Andé Stern

Animationsfilm: Sir Ken Robinson -Bildung völlig neu denken

 

Alle Bilder: Pandora Film

5 Responses

  1. Irina
    positive Gegenbewegung

    Ich finde man bräuchte immer mehr gute Beispiele wie Schule gut funktioniert. Und von diesen Beispielen/Vorbildern könnte man lernen und ins System integrieren. Aber es müssten auch einige dazu aufwachen um die Notwendigkeit, das sich etwas verändern sollte, zu erkennen. Wir bräuchten eine positive Gegenbewegung zu dem heutigen Schulsystem. Auch ist es wichtig das niemand zur Schule gezwungen werden sollte, denn das sind schlechte Methoden oder Mittel um etwas beitzubringen.

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  2. Kristina
    freiwillig lernen

    Dieser Artikel und Film sind sehr wertvoll und sachlich.

    Ich persönlich bin nicht gegen die Schule, sondern gegen den Schul-Zwang.
    Es wäre sinnvoll und demokratisch, den Schulzwang samt willkürliche Pädagogenmacht abzuschaffen und allen Kindern nur freiwilligen Schulunterricht – wie beim Studium – anzubieten.
    Denn trotz Kinderrechten haben Kinder gar kein Widerspruchsrecht und müssen jede pädagogische Entscheidung und sogar Frühsexualisierung über sich ergehen lassen, da ansonsten ihren Eltern eine Geldstrafe und Gefängnisstrafe droht.
    Und obwohl viele Menschen schulgeschädigt und schul-traumatisiert sind, wird die Zwangs-Beschulung wenig hinterfragt, sondern gewaltsam umgesetzt.
    Die Schulverweigerung wird oft kriminalisiert und strafrechtlich verfolgt, als ob es ein Verbrechen wäre.

    Im Jahr 2014 wurde das Schulsystem mit 120,6 Milliarden Euro aus öffentlichem Geld finanziert (siehe Statistik).
    http://de.statista.com/statistik/daten/studie/2526/umfrage/entwicklung-der-oeffentlichen-bildungsausgaben/

    Die Schulfinanzierung wird absurderweise ständig erhöht, obwohl das Schulsystem versagt und nicht einmal allen Kindern (trotz 15 Jahre Schulzwang) das einfache Lesen und Schreiben beibringt, sondern 7,5% Analphabeten entlässt (siehe Presse).
    „Analphabetismus in Deutschland: 7,5 Millionen können nicht lesen“
    https://www.taz.de/!66634/

    Auch ist es paradox, dass ausgerechnet viele Politiker (und ihre Kinder) ihr eigenes Schulsystem umgehen und extra für Privatschulen zahlen z.B. Waldorfschule.
    Sogar die ehemalige Bildungs-Ministerin Monika Hohlmeier (CSU, Tochter des Bayr. Ministerpäsidenten F.J. Strauß) schickte ihre 3 Kinder nicht in das eigene Schulsystem, sondern in die Waldorfschule.
    Viele Spitzenpolitiker und/oder ihre Kinder haben die Waldorfschule besucht z.B.:
    Katrin Göring-Eckardt (GRÜNE), Wolfgang Clement (SPD), Eberhard Diepgen (CDU), Hans-Dietrich Genscher (FDP), Helmut Kohl (CDU), Klaus von Dohnanyi (SPD),
    Gerhard Schröder (SPD).
    https://ratgebernewsblog2.wordpress.com/2013/11/30/die-lobby-der-waldorfpadagogik/

    Ich empfehle auch alle Vorträge der bekannten Mutter und Biologin Dagmar Neubronner, die ihre Kinder bei der Schulverweigerung konsequent unterstützte, so dass sie keine Schule besuchten, ins Ausland gehen mussten und trotzdem ihre deutschen Prüfungen erfolgreich bestanden haben.
    „Erfolgreich Lernen ohne Schule – Dagmar Neubronner mit Sohn Moritz im Interview“
    https://www.youtube.com/watch?v=EZeexF7ub8s

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  3. shumil
    Das System hat System und ist kein Zufall!

    „Unser Bildungssystem zerstört unsere Zukunft. Die Entwicklungen in den Bereichen Kultur, Politik und Wirtschaft beweisen, dass das Schwinden von Kreativität und menschlichem Genius tiefgreifende Konsequenzen auf unsere Zukunft hat. […] So ist das System […] durch Normierung, Konkurrenzdenken und Leistungsdruck systematisch zerstören …“

    Die wenigen Mächtigen auf dieser Welt, die seit ca. 5000 Jahren die Menschen dumm und klein halten, haben doch gar kein Interesse daran, selbstbewusste, aufgeweckte und kritische Menschen aufwachsen zu lassen – das Gegenteil ist der Fall: es wird eine ‚dumme Masse‘ (sorry für den Ausdruck) gebraucht, die die Arbeit macht und sich willig melken lässt, ohne auf zu mucken.

    Was hilft sind aufgeweckte Eltern, die ihren Kindern immer und immer wieder liebevoll die Welt erklären, wie sie wirklich funktioniert (auch wenn diese in eine normale Schule gehen) – nur so kann man dem ‚Bildungssystem‘ entgegenwirken und die neuen Menschen so bilden-formen, so dass sie nicht systemkonform werden.

    Das klappt, ich spreche aus eigener Erfahrung! ‚Man‘ muss sich nur die Zeit DAFÜR nehmen, anstatt so wie der Bundesdurchschnitt 4,5 Stunden pro Tag vor der Gehirnwaschmaschine TV abzuhängen!

    (Z. B. fällt mir grad ein, dass ich meinen Kleinen mal ein Video von Paul Watson gezeigt habe und ihnen erklärt habe, dass das für mich ein Held ist, und dass jeder von uns eine Heldin sein kann …)

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  4. Tom de Toys

    natürlich ist der film „anstrengend“ und keine leichte unterhaltung. am (fehlenden) aufnahme-/durchhaltevermögen erkennt der zuschauer seine eigenen defizite. gut daß man eine dvd stoppen, zurückspulen und immer wieder und wieder anschauen kann, so lässt sich all die komprimierte informationsflut schubweise aufnehmen 🙂 aber wahrscheinlich wird sich die botschaft erst wieder in vielen jahren über tausend umwege auf das system auswirken, denn der mensch ist als masse (vorallem an den zuständigen stellen) träge, und das system ein gewohnheitstier. die kritik ist ja nicht neu, aber wie heißt es leider richtig: „es muß erst was passieren, bevor was passiert“. tja, kurz vor schluß gibts eben immer das böse erwachen und dann ist die panik groß. so wird politik gemacht: nicht im fluss des lebens, sondern im vertrockneten flußbett…

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