Neue Formen des Protests gegen soziale Ungerechtigkeit und Kapitalismus bilden sich von Frankreich ausgehend auch in Deutschland, Spanien, Holland und Belgien. Die Nuit debout (die Aufrechten der Nacht) treffen sich weitgehend friedlich, diskutieren auf öffentlichen Plätzen über ihr Unwohlsein mit den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen und  entscheiden basisdemokratisch.

Seit dem 31. März 2016 sitzen jeden Abend mehrere hundert Leute auf dem Place de la Republique in Paris und diskutieren über eine bessere Welt ohne Kriege, ohne Parteien und ohne Konzerne. Sie nennen sich Nuit debout, was soviel heißt wie „Die Aufrechten der Nacht“. Sie halten fast die ganze Nacht aus und sprechen in einer Generalversammlung, vor die jeder treten kann. Den meist jungen Leuten, unter ihnen viele Studenten, geht es dabei nicht um konkrete Forderungen, sondern um den Ausdruck ihres Unwohlseins in der Gesellschaft. „Es gibt so viele Kämpfe im Alltag – ich glaube, wenn wir uns alle zusammentun, können wir etwas ändern“, bringt es eine Teilnehmerin auf den Punkt, was die spontan entstandene Bewegung bewegt.

Yves Sintomer, ein Pariser Politologe, analysierte den Protest von Nuit debout in der Tageszeitung „Le Monde“ wie folgt: „Zuerst die Wut, Empörung, die Nase voll von einem blockierten System, von einer sich verschlechternden sozialen und wirtschaftlichen Lage, von Politikern, die nicht zuhören, von einer ungerechten Welt. Dann dem entgegen die Freude und der Wille zum Leben, etwas zu tun und sich zu engagieren – auch um der geläufigen Vorstellung eines wachsenden Individualismus und des Desinteresses der Jugend an der Politik entgegenzutreten.“

Die basisdemokratische Bewegung Nuit debout war aus Protesten gegen eine Arbeitsmarktreform der Regierung entstanden, beschränkt sich aber nicht auf dieses Thema. Viele Redner kritisieren die seit langem andauernde hohe Jugendarbeitslosigkeit in Frankreich (etwa 25 Prozent der Jugendlichen in Frankreich sind arbeitslos) und eine soziale Schieflage der französischen Gesellschaft zulasten junger Menschen. Seit dem Amtsantritt des französischen Präsidenten François Hollande 2012 ist die Zahl der Arbeitslosen um fast 650.000 gestiegen und hat den historischen Höchstwert von knapp 3,6 Millionen erreicht, das ist eine Quote von 10,8 Prozent. Der Sozialist ist angesichts von schwachem Wirtschaftswachstum und Rekordarbeitslosigkeit so unbeliebt wie kein anderer Präsident vor ihm in Frankreichs jüngerer Geschichte. Er verharrt rund ein Jahr vor der Präsidentenwahl in einem beispiellosen Umfragetief.

Erstmals kam es auch zu gewaltsamen Ausschreitungen: Nachdem Hollande im Fernsehen seine umstrittenen Arbeitsmarktreformen verteidigt hatte, zogen nach Polizeiangaben rund 300 Jugendliche während einer Versammlung von Nuit debout vom Place de la Republique randalierend durch die französische Hauptstadt, zertrümmerten Schaufenster und beschädigten Autos. Rund 20 Menschen wurden festgenommen.

Nuit debout auch in Deutschland

Französische Medien ziehen Parallelen zu den Protestbewegungen „Occupy Wall Street“ in New York und den „Indignados“ in Madrid, die als Reaktion auf soziale Ungleichheit, Bankenspekulationen oder den Sparkurs der spanischen Regierung entstanden waren.  Junge Exilfranzösinnen und -franzosen organisieren bereits einen ersten deutschen Ableger der Nuit debout-Proteste in Berlin Kreuzberg. Rund 100 Menschen nahmen an einem ersten Treffen auf dem Mariannenplatz in Berlin-Kreuzberg teil. Unter sich bleiben wollen die Franzosen aber nicht, und haben als einen ersten Schritt ihre Facebookseite auch ins Deutsche und Englische übersetzt. Auch in Spanien, Holland und Belgien beginnen sich Ableger zu bilden.

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Eine Antwort

  1. Dreamriot
    Bonne nuit France et reposer en paix!

    Frankreich besitzt eine Staatsquote von etwa 58%. Wenn immer mehr Bürger vom Staat leben, aber immer weniger einzahlen, dann ist das Ende vom Lied absehbar.

    Mal so ein Gedanke:

    Politik jedweder (A)MORAL ist doch IMMER der Versuch das Gewaltmonopol des Staates zu nutzen, jemand anderen zu zwingen, sich so zu verhalten, wie man es gerne hätte.

    Das Gegenteil von Freiheit, Liebe und Spiritualität.

    Antworten

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