Der deutsche Philosoph Markus Gabriel hängt dem neuen Realismus an und behauptet, dass es alles gibt, nur nicht die Welt.

von Oliver Bartsch

Der einst jüngste deutsche Philosophie-Professor Markus Gabriel (heute 42 Jahre alt) vertritt in der Lehre vom Sein die These, dass es die Welt nicht gibt. Es gibt für ihn die Welt nicht, weil die Welt in keinem Sinnfeld erscheint. Sinnfelder sind für den Philosophen die Orte, an denen etwas erscheint. Der Umstand, dass etwas in einem Sinnfeld erscheint, ist für ihn die Existenz.

Die Welt als Mega-Gegenstand, als Bereich aller Bereiche, existiert für Gabriel nicht, weil sie sich durch nichts von allem anderen unterscheidet und nur mit sich selbst identisch ist. Sie sticht sozusagen durch nichts mehr hervor. Anstelle der einen Welt tritt dann bei ihm die Vorstellung von unendlich vielen Welten, die sich zum Teil überlappen, zum Teil aber völlig unabhängig voneinander sind. Dabei kann nur existieren, was in einem Sinnfeld vorkommt, außerhalb davon gibt es keine Gegenstände oder Tatsachen.

Neuer Realismus meint eine unendliche Verschachtelung, die mitten im Nirgendwo, mitten im Nichts stattfindet. Ein Außerhalb gibt es nicht. Gäbe es die Welt, müsste sie seiner Meinung nach in einem Sinnfeld erscheinen, was nicht möglich ist. Könnten wir einen Gegenstand völlig isolieren, so hörte er dieser Theorie zu folge sofort auf zu existieren, denn er wäre nun von jedem Sinnfeld isoliert, in dem er aber erscheinen muss, um zu existieren. So ergibt sich das Bild einer Welt, die sozusagen unendlich häufig in sich selbst hineinkopiert ist; sie besteht aus unendlich vielen kleinen Welten, die wiederum aus unendlich vielen kleinen Welten bestehen.

So erkennen wir immer nur Ausschnitte aus dem Unendlichen, während uns der Blick auf das Ganze verwehrt bleibt, weil es nach Meinung von Gabriel nicht existiert. Gabriel spricht in diesem Zusammenhang von einer Sinnexplosion mitten im Nichts. Dabei geht der neue Realismus davon aus, dass wahre Erkenntnis eine Erscheinung der Sache selbst ist. Die Aufgabe des Forschers, eigentlich die Aufgabe von uns allen, besteht nach Meinung des Autors darin, die Suche nach der unmöglichen allumfassenden Gesamtstruktur aufzugeben und die unendlich vielen bestehenden Strukturen besser und kreativer, vorurteilsfreier zu verstehen. So können wir beurteilen, was bestehen bleiben soll und was verändert werden muss. Wir sind auf einer gigantischen Reise, auf der wir sozusagen von nirgendwo herkommend ins Unendliche schreiten.

Für Gabriel ist Erkenntnis die angemessene Erfassung eines Gegenstandes innerhalb der Regeln seines Sinnfeldes. Wobei es nicht möglich ist, diese Regeln in einer Art von Erkenntnis-Kanon explizit anzugeben. Zwar gebe es offenkundig wissenschaftlichen Fortschritt und – auch und gerade in den Geisteswissenschaften – erfassbare Kategorien zur sinnvollen Beurteilung etwa eines Textes oder einer literarischen Figur. Es bleibe beim Verstehen jedoch immer eine Sphäre des Verhandelns, und diese prinzipielle Unabgeschlossenheit unseres Zugangs zu den Phänomenen gehöre ebenso zur menschlichen Verfasstheit wie die Grundmöglichkeit des angemessenen Erkennens.

Gabriel wendet sich gegen die Metaphysik und den Neurokonstruktivismus. Beide machten den Fehler, von einer Eigentlichkeit hinter den Phänomenen auszugehen, die der Mensch erkennt oder verfehlt. Die Frage, ob es hinter unseren Wahrnehmungsakten eine anders beschaffene Realität gebe, sei aber falsch gestellt und irrelevant. Das Erscheinen der Phänomene und die Tatsache, dass sie für uns Menschen immer in Sinnfeldern erscheinen, gehörten zu unserer Existenz. Sinn sei eine ontologische Kategorie und nicht etwas, was der Mensch der Welt hinzufügt. Sinn aber ist etwas prinzipiell Unabgeschlossenes, weil er nicht einfach gegeben ist, sondern erschlossen werden kann – und somit endlos Bedeutung produziert.

Buch-Tipp
Markus Gabriel: Warum es die Welt nicht gibt, Verlag: Ullstein, Berlin 2015, ISBN: 9783550080104 | Preis: 12,00 €

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