Abb: © romanolebedev - Fotolia.com Nicht stark genug, um schwach zu sein Pulsatilla – die Wiederentdeckung unserer Berührbarkeit 22. Juni 2018 Homöopathie Homöopathische Antworten am Puls der Zeit von Werner Baumeister Wir alle haben uns in jahrzehntelanger mühsamer Arbeit ein Bild von uns selbst gestrickt, unsere Legende. Auf der Flucht vor altem verdrängtem Schmerz, den wir nicht noch mal spüren wollen, ist diese Legende im Grunde nichts anderes als eine Überlebensstrategie. In der Homöopathie gibt es eine kleine zarte Frühlingsblume, Pulsatilla genannt, die uns, den vom Leben Abgehärteten, Mut machen kann, uns wieder zu öffnen und berührbar zu werden. Was hinter unserer Mauer der Unberührbarkeit steht, ist das Pulsatilla-Trauma, unsere Angst, wie schon als Kind verlassen, vernachlässigt oder im Stich gelassen zu werden. Da das Leben ständig daran arbeitet, diese Mauer Stück für Stück abzubauen und letztlich wieder aufzulösen, wird diese Urangst – verbunden mit dem dazu gehörenden Schmerz – im Laufe unseres Lebens beim Verlust eines geliebten Menschen oder bei der Trauer um einen Liebespartner, der uns verlassen hat, immer wieder aktiviert. Pulsatilla hilft hier unter anderem, uns diesem Prozess mit weniger Widerstand hinzugeben, und erschafft sogar selbst Situationen, die uns in Kontakt mit den alten Verletzungen bringen. Die Legende vom einsamen Wolf Als einsamer Wolf und ewiger Wanderer (homöopathisch: Tuberkulinum) bin ich persönlich immer an (uranisch freiheitsliebende) Frauen geraten, die sich meiner flüchtigen Persönlichkeit und Bindungsunfähigkeit stets sicher sein konnten – da war ich ihnen gegenüber immer „loyal“. Weil ich Angst vor echter Nähe und Verbindung hatte, konnten sie gefahrlos ihre Bindungssehnsüchte und Kinderwünsche auf mich projizieren, ohne Gefahr zu laufen, dass es damit mit mir zusammen ernst würde. Aber wehe, ich hätte auch nur einmal mein bedürftig klammerndes kuscheliges Pulsatilla hinter meiner Wolfsmaske zum Vorschein kommen lassen – sie wären wohl allesamt schreiend weggerannt und ich hätte außer einem Kondensstreifen kaum mehr etwas von ihnen gesehen. Meine Pulsatilla-Wunde entstand, als in meiner frühen Kindheit meine Mutter plötzlich keine Zeit mehr für mich hatte, weil sie sich meinem kleinen, herzkranken Bruder vollends zuwenden musste. Ich wurde für längere Zeit zu den Großeltern weggegeben. Aus der Sicht eines fünfjährigen Jungen verschwand meine Mutter damals ohne Erklärung und ließ mich auch noch im Stich, indem sie mich der Gewalt meines kriegstraumatisierten Großvaters auslieferte. Mit 14 verliebte ich mich dann in eine viel ältere Südfranzösin. Meine Liebe blieb damals jedoch unerwidert. Ich war zu jung, ich reichte wieder nicht, um geliebt zu werden. Das war insofern verheerend, als es meiner Erfahrung des Verlassenwerdens und Im-Stich-gelassen-Werdens neue Nahrung gab. In der Folgezeit baute ich mit meiner Wolfslegende einen Wall der Unverletzbarkeit und Unberührbarkeit um mich herum. Da half es auch nicht, dass die Südfranzösin, meine erste große Liebe, 16 Jahre später meine Partnerin wurde: Ich war für die Liebe, für vollkommenes Offensein, nicht mehr erreichbar. Pulsatilla ermutigt mich heute, diesen schmerzhaften biographischen Faden zurückzuverfolgen und endlich zu dem zu stehen, was meine Natur ausmacht: die ganz natürliche Sehnsucht nach Verbindung, Nähe und Liebe. Pulsatilla: Das Weiche siegt über das Harte Pulsatilla ist nah am Wasser gebaut. Es ist wie eine fließende Bewegung, die sich an alles anpasst. Im schlechtesten Falle hat es keinen Standpunkt und verbiegt sich bis zum Gehtnichtmehr, um Zuwendung zu erhalten. Im besten Falle ist es das Weiche, das über das Harte siegt und ohne zu kämpfen den Angreifer seiner Angriffsfläche beraubt. Pulsatilla spricht unsere sanfte, weiche Seite an, unsere Berührbarkeit. Das kann unangenehm bis beängstigend sein, wenn wir diese sehr lange verdrängt haben. Es ist homöopathisch gefragt, wenn wir unsere natürliche Sinnlichkeit unterdrücken und darunter leiden in einer Umgebung, in der diese nicht akzeptiert wird. Abgehärtet vom Leben, lassen wir uns unsere ureigene Natur oft nicht mehr anmerken und bevorzugen Mimikry (Definition: Schützende Nachahmung – in Farbe und Gestalt – von Gegenständen der Umwelt oder von wehrhaften Tieren durch wehrlose). Hierzu ein Praxis-Feedback eines bisher sehr kontrollierten männlichen Patienten nach Pulsatilla C200: „Traum: Ich stehe an einem hoch erhobenen Punkt in einer spanischen Stadt. Rechts unter mir fließen Wasserkaskaden in verschiedensten Stufen und Kurven nach unten. Auf dem Wasser bewegen sich Menschen. Wie auf Surfboards gleiten sie auf ihren Füßen das Wasser herunter. Ich habe kurz den Gedanken, dass es ja nicht ungefährlich ist, wenn man beispielsweise hinfällt, mit anderen Personen kollidiert oder links oder rechts über den Rand des Wassers tief nach unten stürzt. Auf einmal bin ich auch auf diesem Wasser und gleite auf meinen Füßen über die einzelnen Stufen, teilweise sehr steil nach unten oder zwischen anderen Personen hindurch. Ich gerate auch ganz an den Rand des Wassers – dabei wird mir leicht mulmig –, aber ich sehe, dass ich in diesem Strom sicher und gehalten bin. Das Ganze fängt an, mir Spaß zu machen. Selbst die steilsten Stellen passiere ich ohne Probleme. Irgendwann gerate ich regelrecht in Ekstase.“ Sein Unterbewusstsein signalisiert dem Träumenden hier, dass es durchaus sicher und sogar erfüllend ist, sich auf die eigenen Gefühle (Wasser) einzulassen und sich dem Leben hinzugeben. Hardcore Pulsatilla Wie stark die Angst des Kindes, verlassen zu werden, heute noch in uns wirkt, durfte ich selbst nach Pulsatilla-Einnahme sehr eindrücklich erleben – durch eine Situation, bei der das Leben eine ordentliche Portion Zivilcourage von mir forderte. Es war ein schöner Maimorgen, acht Uhr in Berlin-Kreuzberg. In diese harmonische Stille brachen die panischen Schreie einer offensichtlich heftig von einem Mann bedrängten Frau. Kurz dachte ich noch: „Das beruhigt sich schon wieder“, aber die Schreie der Frau nahmen schnell ein Ausmaß an, das nur bei einem Menschen vorkommt, der in höchster Lebensgefahr schwebt. Ob ich wollte oder nicht, ich wurde innerlich getrieben und musste eingreifen. Blitzschnell war ich angezogen und aus dem vierten Stock runter auf der Straße. Dort erwartete mich schon meine zierliche Nachbarin, die bereits einen Polizei-Notruf abgesetzt hatte. Im Hauseingang kauerte eine völlig verängstigte Frau, und meine Nachbarin bat mich um Hilfe, sollte der Täter zurückkommen. Keine Minute später kam der wild brüllende Mann tatsächlich angestürmt. Ich hatte nun die „dankbare“ Aufgabe, ihn bis zum Eintreffen der Polizei – was hieß: geschlagene 60 Minuten!!! – daran zu hindern, seine Ex-Frau umzubringen. Gottseidank hat mich die Natur mit einem Meter neunzig Größe und hundert Kilogramm Körpergewicht ausgestattet. Die brauchte ich auch, um dem Mann den nötigen Respekt einzuflößen und eine möglicherweise tödliche Eskalation zu verhindern. Jeder, der das liest, fragt sich nun sicherlich, was das mit dem oben skizzierten Pulsatilla zu tun haben soll. Nun, es zeigt, wie Pulsatilla Situationen arrangiert, in denen alte Gefühle aktiviert werden. Denn das Unangenehmste an diesem Vorfall für mich war nicht etwa die Gewalt des Mannes, die ich eine Stunde lang auszubremsen hatte. Das hat mir merkwürdigerweise keine Angst gemacht. Das Unangenehmste waren die mir unerklärlichen Tränen, mit denen ich die ganze Zeit zu kämpfen hatte. Etwas in mir hielt es schlicht nicht aus, dass sich ein Vater und eine Mutter, die sicherlich einst in Liebe ihre fünf Kinder zusammen gezeugt haben, nun in so tödlichem Hass gegenüberstehen. Dieses Etwas in mir ist das (Pulsatilla-)Kind, das zwischen seinen eigenen verfeindeten Eltern steht und verzweifelt versucht zu vermitteln, damit diese letzte Sicherheit der Familienstruktur nicht auch noch den Bach runtergeht. Dass genau dieser Teil von mir zum Vorschein kommen durfte, war das Geschenk dieser krassen Situation für mich. Dogmatismus und Fanatismus Aus Sehnsucht nach Liebe, Anerkennung und Zärtlichkeit lässt sich Pulsatilla oft ausnutzen und gefügig machen, bereit, sich selbst zu verleugnen – aus Angst, die Liebe der Eltern oder des Partners zu verlieren. Harmonie um jeden Preis!!! Diese Angst ist es auch, die Widerstand gegen schlechte oder ungerechte Behandlung verhindert. Indem sie in die Umgebung quasi hineinfließt, wird die Pulsatilla-Persönlichkeit gemäß den Erwartungen ihrer Umwelt formbar wie ein Fluss, besonders wenn diese Erwartungen sehr bestimmt an diese Persönlichkeit gerichtet werden. Nachgiebig, verzagt, leicht zu lenken und ohne eigene Entschlusskraft kann sich kein starkes, wehrhaftes Ich-Gefühl entwickeln. Der Pulsatilla-Mensch kann sich zudem nicht definieren, weil er sich dauernd ändert. Meiner Meinung nach leben wir aktuell in einer Welt, die auch kollektiv nach Pulsatilla schreit, denn das zentrale Thema von Pulsatilla ist ja die Haltlosigkeit oder besser die Suche nach Halt. Pulsatilla fehlt es an Kraft, in sich eine stabile Struktur zu erschaffen, um den Weg der Individuation zu gehen. Die Anlehnungsbedürftigkeit von Pulsatilla kann man im Mentalen, im Emotionalen wie auch im Körperlichen beobachten. Da schwächelt dann zum Beispiel das Bindegewebe, das uns ja körperlich Halt geben soll (Leitsymptom: Hernienbildung, Leistenbruch). Pulsatilla ist extrem beeindruckbar, beeinflussbar, ja oft opportunistisch. Pulsatilla neigt auch zur fixen Idee, und hinter dieser Fixierung auf einen bestimmten Gedanken drückt sich sein enormes Bedürfnis nach Anlehnung und Halt aus. Pulsatilla hat einfach zu wenig Struktur in sich, um sich mutig auf den Fluss und die Vielfältigkeit des Lebens einzulassen. Aus Angst davor, einen eigenen Weg zu gehen und von anderen möglicherweise dafür verurteilt zu werden, übernimmt es im extremen Maße die Meinungen anderer. Das Phänomen, denjenigen nachzurennen, die am lautesten schreien und politischen und religiösen Fanatismus (auch mit Gewalt) verbreiten, ist ein Pulsatillaproblem und findet nur eine Lösung über jeden Einzelnen, der die eigenen damit zusammenhängenden seelischen Themen bearbeitet. Pulsatilla unterstützt uns unter anderem in diesem Prozess, uns nicht zu unterwerfen und zu verlieren, um Liebe und Zuwendung zu bekommen. Es stärkt die eigene Standfestigkeit im Vertrauen darauf, auch oder gerade wegen der eigenen Fehler geliebt zu werden. Schlagworte (mit Links zu weiteren Artikeln von Werner Baumeister): Homöopathie – Berührung – Trauma – Kind – Urangst – Verletzung – Verbindung – Zuwendung – Struktur Werner Baumeister ist Arzt und bietet individuelle homöopathische Begleitung an. 30 Jahre Erfahrung in eigener Praxis in Berlin. Einzeltermine nach Vereinbarung, Behandlungstermine zum Thema des Artikels jederzeit möglich. Information zu aktuellen Workshops immer auf der Seite „Homöopathie am Puls der Zeit“ (mit Themenregister aller Artikel) sowie unter Tel.: 0172 – 391 25 85 . Oder Newsletter mit aktuellen Terminen abonnieren unter E-mail w.baumeister{at}gmx.net . Die homöopathischen Arzneibilder von Werner Baumeister verstehen sich auch als homöopathischer Spiegel aktuellen Zeitgeschehens. Hinterlasse einen öffentlichen Kommentar Antwort abbrechenDeine Email Adresse wird nicht veröffentlicht.KommentarName* E-Mail* Meinen Namen, meine E-Mail-Adresse und meine Website in diesem Browser für die nächste Kommentierung speichern. Überschrift E-Mail-Benachrichtigung bei weiteren Kommentaren.Auch möglich: Abo ohne Kommentar. Durch Deinen Klick auf "SENDEN" bestätigst Du Dein Einverständnis mit unseren aktuellen Kommentarregeln.