Das ist im Vigyan Bhairav Tantra eine der vielen Fragen, die Shakti an Gott Shiva richtet. Stellvertretend für suchende Menschen stellt sie Fragen nach dem Göttlichen und dem Weg dorthin. Und Shiva antwortet seiner Frau in diesem etwa 5000 Jahre alten Werk, das der indischen Mythologie zufolge sein Geschenk an die Welt sein soll. Ganz in dieser Tradition sprach die Journalistin und Buchautorin Marlies Burghardt mit der spirituellen Lehrerin Pyar über das Thema Gott, göttliche Welt und die Wege dorthin.

Vigyan Bhairav Tantra – mit 112 Methoden zur göttlichen Erfahrung

Unabhängig vom Kulturkreis, in dem Menschen leben, fragen sie nach dem Woher und Wohin, suchen nach Erklärungen und stellen sich Gott auf verschiedenste Weise vor. All das zeigt das Bedürfnis der Menschen, die Welt und ihr Dasein zu verstehen und dann diesem Verständnis in Schöpfungsmythen Ausdruck zu verleihen. So auch im Vigyan Bhairav Tantra, in dem Shiva nicht intellektuell antwortet, sondern 112 Methoden nennt, die in einen Zustand jenseits des gewöhnlichen Bewusstseins führen sollen, so dass Menschen ihre eigenen Erfahrungen mit dem Göttlichen machen können. Genau dieses Thema und diese Methoden wird die spirituelle Lehrerin Pyar in ihrem Satsang in Berlin aufgreifen. Sie selbst war immer auf der Suche nach Wahrheit und ist das beste Beispiel dafür, wie sich das, was wir mit dem Göttlichen verbinden, im Leben manifestiert: Spiritualität und Alltag vereinen und mit Weisheit, Liebe, Dankbarkeit und Freude leben.

Marlies Burghardt: Pyar, ich beginne gleich einmal im Sinne Shaktis: Was ist deine Wirklichkeit? Wie siehst und erlebst du das Göttliche, Gott?

Pyar: Ich erlebe das Göttliche in und um alles. Wenn ich mich innerlich dahin wende, hüpft mein Herz. Gott ist unendlich. Daher kann er nichts aus sich hinaus erschaffen, sondern immer nur innerhalb seiner selbst!. Das ist bei Gott anders als bei uns, die wir nach außen gebären und nach außen erschaffen, wenn wir zum Beispiel ein Bild malen. Weil dem so ist, gibt es eine sehr gute Nachricht: Es kann keine Hölle oder endgültige Abtrennung von Gott geben, da ja nichts außerhalb Gottes existieren kann.

… was ja ein Problem manch traditioneller Religion ist, die Gott nach außen verlagert und in Himmel und Hölle, in Gut und Böse aufspaltet?

Ja, doch das kann nur auf einem tiefen Missverständnis oder aber auf missbräuchlicher machtbetonter Auslegung der klaren ursprünglichen Botschaft der Religiosität beruhen. Das ist tragisch, denn es verursacht viel un – nötiges Leiden.

Wozu brauchen wir überhaupt Gott?

Das ist eine lustige Frage, denn die Existenz stellt sie nicht. Wenn es Gott gibt, dann gibt es ihn – egal ob wir ihn brauchen. Und wenn es ihn nicht gibt, dann ist die Frage sowieso sinnlos … Aber du meinst wahrscheinlich: Wie wenden wir uns hin zu Gott und was macht das mit uns? Da Gott in allem und um alles und unendlich ist, können wir dem Göttlichen natürlich in allem begegnen – und ganz besonders in unserem eigenen Herzen, in unserer eigenen Mitte. Zugleich gibt es aber Orte, die diese Begegnung fördern, nämlich all die Stätten, an denen schon viele Menschen vor uns sich dieser Begegnung hingaben. Wenn wir die Unendlichkeit Gottes erfahren, dann gibt uns das Zuversicht, Freude und Vertrauen in einem Maße, wie es sonst nichts kann.

Was hat sich nach dem Erwachen, diesem Aufgehen im Göttlichen, in deinem Leben verändert?

Das Leben selbst ist nach wie vor geprägt von Höhen und Tiefen, von Freuden und traurigen Dingen – wie zuvor und wie bei jedem Menschen. Was sich verändert hat, ist die Gewissheit dessen, was von all diesen Wellenbewegungen des Lebens unabhängig ist. Und dieses ist freudig und liebevoll, weit und klar und immer zugänglich. Diese Tatsache verändert alles, ohne dass sich etwas verändert

… Du sprichst in deinem Buch „WIR – Wege zur Verbundenheit“ von einer bestimmten Wahrnehmung des Göttlichen als unendliche Weite und zitierst den tibetischen Meister Padmasambhava: „Im unendlichen Mandala des Raums haben alle Phänomene leicht Platz …“ Wie erlebst du diese Weite?

Das ist schwer zu beschreiben – wie so vieles auf diesem Gebiet. Ich schlage vor: Probiere es aus! Es geht ganz einfach: Du hast ein Gefühl oder erlebst irgendetwas, jetzt erinnere dich zugleich, dass im unendlichen Mandala des Raumes immer alles Platz hat und immer noch Weite bleibt. Du wirst sofort – vor allem bei unangenehmen Erfahrungen – den Unterschied wahrnehmen. Und das ist viel besser, als wenn ich dir mein Erfahren schildere.

Menschen versuchen mit der göttlichen Ebene auf verschiedenste Weise in Kontakt zu treten: Über Meditation, über Anbetung der Natur, Anrufung von Göttern, Gebete, die an einen Gott oder an Engel gerichtet sind… Etwas salopp gefragt: Welche Art der Kontaktaufnahme ist in der Weite möglich? Gibt es da Platz für Engel, „Adressaten“ für Gebete?

Ja, natürlich. Engel, Heilige, Bodhisattvas, Shiva, Buddhas und Götter haben in der unendlichen Weite des Mandalas leicht Platz … Und wir dürfen uns an sie wenden.

Wie ist es zu verstehen, dass es über diese göttliche Weite einerseits heißt, „alles ist eins“, dass aber andererseits von Individualität gesprochen wird?

Es ist wie mit den Blättern eines Baumes. Blätter und Baum sind miteinander Baum. Sie sind eins. Ein Blatt ohne Baum verliert seine Funktion, und ein Baum ohne Blatt ist auf Dauer nicht lebensfähig. Und zugleich ist jedes einzelne Blatt jedes Baumes höchst individuell und einzigartig.

In deinem Buch „Hütet das Feuer – Jesus als radikalen Weisheitslehrer entdecken“ gehst du darauf ein, wie mit dem Essen vom Baum der Erkenntnis das Bewusstsein von Gut und Böse in unseren Geist kam, betonst dabei aber auch, wie wichtig genau dieser Schritt für den Menschen ist.

Ja, das ist ein wichtiger Punkt. Bewusstsein entwickelt sich seit Anbeginn der Zeit: von den ersten Zellen bis jetzt, bis zu uns im Moment. An einem gewissen Punkt der Bewusstseins-Evolution musste unbedingt die Möglichkeit von Freiheit, von freier Entscheidung eingeführt werden, sonst wäre weitere Entwicklung nicht möglich gewesen. Das bedeutet, dass wir ab diesem Moment die Möglichkeit haben, Ja oder Nein zu sagen, uns für oder gegen etwas zu entscheiden. Es ist ein unglaublich wichtiger Schritt in unserer Entwicklung, und es erfüllt mich immer wieder mit Erstaunen, dass Gott oder die Existenz das wirklich ermöglichte. Dargestellt ist dies in der Geschichte vom Baum der Erkenntnis im Paradies, als Adam und Eva entscheiden mussten, ob sie von dieser Frucht der Erkenntnis von Gut und Böse essen wollen. Erst ab da ist ja auch ein echtes, gültiges JA zu Gott, zur Liebe, zur Wahrheit möglich! Ja, ohne diesen ersten Schritt hinein in die Bewusstheit mitsamt der damit verbundenen Trennung ist wahre Weisheit, ist das Transzendieren von Gut und Böse, von Dualität nicht möglich …

Im Vigyan Bhairav Tantra wird stark betont, dass der Mensch akzeptierend und annehmend mit sich und anderen umgehen sollte. Wie kann man dabei starke Emotionen und das sogenannte Böse handhaben – es ausleben?

Hinter jeder unheilsamen Emotion verbirgt sich eine gute Kraft, die leider in dem Moment durch die Negativität vernebelt ist. Zum Beispiel verbirgt sich unter Aggression Präsenz, Klarheit und Achtsamkeit. Daher ist es wichtig, diese Negativität weder auszuleben noch abzulehnen. In Samantabhadras Wunschgebet heißt es dazu: „Möge das Wunschgebet von mir, dem Buddha, alle Wesen dazu inspirieren, wenn wilder Zorn in ihnen entbrennt, diesen weder aufzugeben noch anzunehmen, sondern einfach im ureigenen Platz zu entspannen und das Gewahrsein in seinem ureigenen Platz zu halten, so dass sie die ursprüngliche Bewusstheit der Klarheit erlangen.“

Wie bei den meisten Meditationstechniken nimmt auch im Vigyan Bhairav Tantra das Atmen eine wichtige Rolle als Weg zum Göttlichen ein. Warum?

Der Atem ist eine wunderbare Methode, weil er uns immer zur Verfügung steht, solange wir leben. Man braucht keinerlei Hilfsmittel außerhalb des eigenen Körpers. Außerdem ist der Atem verbunden mit dem Leben. Und der Atem hat ein Ein und ein Aus – so wie die Natur sich ausdehnt und zusammenzieht. Und er hat immer eine Lücke dazwischen, in der die Weite der Wirklichkeit des Göttlichen erfahrbar wird, wenn wir unsere Aufmerksamkeit darauf richten. Ist das nicht wunderbar?

Viele Menschen kommen durch Fragen nach dem Woher und dem Wohin des Menschen zur Auseinandersetzung mit dem Göttlichen. Was sagt das Vigyan Bhairav Tantra, was sagt Shiva zum Thema Geburt und Sterben?

Im Vigyan Bhairv Tantra steht: „Wie Wellen gemeinsam mit Wasser daherkommen und Flammen mit Feuer, so wogt das Universelle mit uns.“ Formen verändern sich, Körper werden geboren und sterben. Doch das Universelle, das Leben jenseits von Form, ist ewig. Und was die Materie betrifft: Sie wandelt sich, aber nie kann im Universum irgendetwas verloren gehen.

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