In seinem Buch „Leben als Symbol“ schreibt Edgar Daqué, ein zu Unrecht vergessener Paläontologe und Naturphilosoph: „Alle Erscheinungen müssen als lebendige Herausstellungen und in solchem Sinn als lebendige Symbole der inneren Wirklichkeit begriffen und erlebt werden“. Eine Betrachtungsweise dieser Art hat heute einen gegen Null gehenden Kurswert, wie wir täglich erfahren.

Die reduktionistische Naturwissenschaft ist primär auf die abstrakte Skelettierung der Phänomene gerichtet. Dies – und nichts Anderes – gilt als Wissenschaft. Hier feiert der rationale Geist seine größten Triumphe. Dass das Lebendige dabei verdorrt oder gar nicht erst in den Blick gerät, gehört zur Negativ- seite dieses Siegeszuges. Und so haben wir gute Gründe, den Ansatz von Daqué aufzugreifen und ernst zu nehmen.

Was Daqué „innere Wirklichkeit“ nennt, bezeichne ich als „Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit“ oder, in Anlehnung an die keltische Mythologie, als „Anderswelt“. Vieles spricht dafür, dass die Sinnenwelt, die den Sinnesorganen zugängliche Welt der Materie und der Dinge/ Formen/ Gestalten, nicht einfach platt sie selbst ist, sondern dass sie einer anderen oder höheren/ tieferen Wirklichkeit aufliegt und von dieser unausgesetzt durchstrahlt, ja getragen und gehalten wird. Das Unsichtbare durchstrahlt, trägt und hält das Sichtbare. Und es ist offenbar die ursächliche Sphäre, der Quellgrund all dessen, was sich uns in der Erscheinungswelt als so kompakt-real darbietet, als sei das Außen die eigentliche und wahre Realität.

Die Anderswelt in meinem Sinn kann auch als transpersonale Parallelwelt verstanden werden. Erfahrbar ist sie nur in anderen und höheren Zuständen des Bewusstseins; dem sinnlichen und rationalen Bewusstsein verschließt sie sich.
„Die Natur liebt es, sich zu verbergen“, sagt der altgriechische Philosoph Heraklit. Und „Natur“ (=physis) meint hier das Wesen der Dinge, ihre innere Wirklichkeit. Wichtig ist hierbei, dass die andere und höhere/tiefere Welt, die „Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit“, kein abgetrenntes Jenseits darstellt, sondern eine Welt der höheren Formen und Gestalten, wobei diese auch als „Urbilder“ zu bezeichnen wären, wie dies etwa bei Platon geschieht. Dann wäre die Sinnenwelt eine Welt der Abbilder und damit eine „nur gespiegelte Welt“, wobei der Weltenspiegel die höheren Gestalten nicht einfach pur und direkt (also eins zu eins) abbildet, sondern auf rätselhafte Weise verändert.

Diese Veränderung deutet auf einen der tiefsten und am schwersten zu bewältigenden Aspekte unserer Existenz: Als inkarnierte Wesen leben wir in einer Art Spiegelwelt, einer Welt der Abbilder und Symbole, die sich aber zugleich als massiv wirklich darstellt bzw. uns auffordert, uns ganz auf sie einzulassen, unsere Inkarnation wirklich anzunehmen. Das ICH (= der kosmische Anthropos) muss fast gänzlich im Ich (= im Sinnenmenschen) aufgehen, um seiner Aufgabe gerecht zu werden. Das große Ich (ICH) braucht das kleine Ich.

Ein Symbol kann als ein Etwas verstanden werden, als ein Bild oder Ding, das über sich hinausweist, das eine höhere Wirklichkeit zu erkennen gibt, ohne dass diese naiv-direkt „abzugreifen“ wäre. Es bedarf der geistigen Bemühung, um das jeweils „Gemeinte“ zu entschlüsseln, das Eigentliche im Uneigentlichen, das Urbild im Abbild zu erkennen. Allerdings entbehrt dieses Erkennen seinem Wesen nach der letzten Trennschärfe; es bleibt Annäherung. Der Philosoph Giordano Bruno schreibt in seinem Buch „Über die Ursache, das Prinzip und das Eine“ von 1584: „Wenn also der Geist, die Seele und das Leben in allen Dingen vorkommen und in gewissen Abstufungen die gesamte Materie erfüllen, so sind sie zweifellos die wahre Wirklichkeit und die wahre Form der Dinge.“ Das ist weitgehend und führt zu einer erkenntnis-erhellenden Neubewertung der Formen und Gestalten, auch der organischen Welt einschließlich unseres eigenen Körpers. Alle lebendigen Formen der Erscheinungswelt werden zu Symbolen und Zeichen, zu einer großen Chiffrenschrift für den suchenden und deutenden Geist. Schon bei Paracelsus (erste Hälfte des 16. Jahrhunderts) klingt dies an – in seiner Lehre von den „Signaturen der Dinge“ („signatura rerum“).

Die Welt der Erscheinungen ist ein „Wald voll Symbolen“. Alle lebendigen Formen bekunden ihr Sein, indem sie sich in der Sichtbarkeit manifestieren, aber in dieser Manifestation zugleich symbolhaft über sich hinausweisen in die in ihnen wirkende, in ihnen anwesende/ mitwesende „wahre Form aller Dinge“, die Parallelwelt des Transpersonalen. In dieser inneren Wirklichkeit, die auch die eines anderes und höheren Raumes, einer anderen und höheren Zeit sowie eine anderen und höheren Selbst (=ICH) ist, sind wir im Wurzelgrund der Erscheinungen, im Quellbereich aller Formen und Gestalten. Menschen sind Doppelwesen. Sie sind „hier“ (in der Sinnenwelt) und zugleich „dort“ (in der Anderswelt). Jeder Form oder Gestalt „hier“ hat ihre Entsprechung in der Anderswelt, in der transpersonalen Parallelwelt, die immer „gleich nebenan“ ist und zu der es viele Tapetentüren gibt, die entdeckt und durchschritten sein wollen.

Das macht die inkarnierte Existenz – das Sein in der Spiegelwelt – zur großen und nie endenden Bewusstseinsaufgabe, zur ständigen Herausforderung, der sich niemand dauerhaft entziehen kann. Die Symbole und Zeichen der Erscheinungswelt wollen entschlüsselt und in ihrem lebendigen Sein erkannt werden, ob es sich nun um eine Blattform, eine Pfauenfeder, den Regenbogen, das Wintersternbild Orion oder um die menschliche Gestalt handelt. Stets hat die sinnliche Form sublimen Verweisungscharakter. Sie deutet auf eine höhere Form in ihr oder „hinter ihr“, die sich nur einer ihr entsprechenden Ebene des Bewusstseins öffnet. Der Bewusstwerdungsprozess des Menschen, offenbar gezogen von einem gewaltigen kosmischen Attraktor, besteht vielleicht in nichts Anderem als eben in diesem: einer Annäherung an die (höhere) Wirklichkeit, die wir zugleich immer schon sind …

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