Wer ein Warum hat, erträgt auch jedes Wie. (Friedrich Nietzsche)

Je weniger Sinn wir im Leben sehen, desto schneller eilen wir. (Viktor Frankl)

Wer keine Zeit hat, hat keine Seele. (Jean Gebser)

Das sind drei Kommentare zu unserem menschlichen Dilemma. Es sind Vorschläge aus dem Abendland, die uns empfehlen, inne zu halten, nachzudenken und herauszufinden, was wir mit unserem Leben anfangen wollen.
Einige Thesen und Übungen aus dem Buddhismus können uns bei der Suche nach Sinn begleiten. Wir können uns einige Minuten nehmen und zehn „Dinge“ aufschreiben, die uns am Herzen liegen: beispielsweise Beziehungen, der Garten, die Umwelt, Zeit zum Lesen, Meditieren, schöne Gegenstände oder die politische Großwetterlage. In einem zweiten Schritt schreiben wir auf, was wir an einem gewöhnlichen Arbeitstag der letzten Woche den ganzen Tag gemacht haben. Auf einer dritten Liste notieren wir, wofür wir am letzten freien Tag Zeit hatten. Wir können dann die drei Listen vergleichen und uns fragen: „Wieviel Raum nehmen die Dinge in ein, die mir wirklich wichtig sind?“

Die Sucht nach angenehmen Gefühlen

Sinn im Leben ist immer konkret. Er drückt sich aus in dem, was wir tun. Buddhistisch interpretiert tun wir immer das, was uns am Herzen liegt. Wenn wir feststellen, dass wir kaum Zeit für die wesentlichen Dinge haben, können wir die offensichtlichen und heimlichen Motive untersuchen, die hinter unserem Tun stecken. Der Buddhismus nennt als Motive acht „weltliche“ Belange. Den lieben langen Tag sorgen wir uns vor allem um vier davon – um Besitz, Status, Zuwendung und angenehme Gefühle – und wir versuchen das Gegenteil, also einen Verlust davon zu vermeiden. Wir wenden viel Geld und Zeit und fast all unsere Intelligenz auf, um uns mit den fünf Sinnen und dem Denken angenehme Gefühle zu verschaffen. Das ist menschlich und in gewissem Ausmaß sinnvoll und sogar notwendig. Erwachsene sollten schließlich in der Lage sein, für sich zu sorgen und die Grundbedürfnisse zu stillen.
Aber auch ohne „Patchwork“-Biografie gibt es Brüche im Leben: Zeiten, in denen die berufliche Existenz unsicher ist, wir wenig Geld verdienen oder uns mit Kritik und Krankheiten herumschlagen müssen. Wir leben leichter, wenn wir begreifen, dass die acht weltlichen Dinge keine endgültige Sicherheit bieten können, da sie unbeständig sind und sich immer wieder verändern. Mit dieser Einsicht können wir unser Leben etwas einfacher gestalten, brauchen dann weniger Geld und haben mehr Zeit und Muße für das, was uns am Herzen liegt.

Freude finden wir überall

Die vier Ebenen des Glücks (Ayya Khema), entfalten sich mühelos von ganz alleine, wenn wir ihren Zusammenhang verstehen: Sinnenfreuden, Verbundenheit mit anderen, Sammlung und Einsicht bauen aufeinander auf. Sinnenfreuden fesseln uns dann nicht „an die Welt“, wenn wir begreifen, dass aktuelle Stimmung und Einstellungen der entscheidende Faktor dabei sind und nicht die äußeren oder inneren Auslöser. Die Sinne „arbeiten“ fast rund um die Uhr, und so gibt es immer Gelegenheit, Sinnenfreuden zu erleben. Vorausgesetzt, wir sind einigermaßen wach, entspannt und bereit, auf das zu schauen, was da ist: Wohnung, Essen, Freundschaften, Kenntnisse, Gesundheit usw. Auch wenn uns Jammern vertrauter ist, können wir lernen, uns zu freuen. Freude zieht Freude an. Dankbarkeit über die Dinge des Alltags zeigt uns die Verbundenheit mit anderen. Fühlen wir uns mit der Welt und den Menschen verbunden, sind wir eher gegenwärtig, und Präsenz ist Freude. Wer das immer tiefer versteht, erlebt das große Glück der tiefen Einsicht, das „ohne jede Beimischung von Leid ist“, das Glück der Befreiung von engen Vorstellungen und Mangelidentität. Verstehen gilt als höchstes Glück, als Sinn und Zweck des menschlichen Lebens. Es liegt an uns: Wir können ausprobieren, ob es stimmt.

Über den Autor

Avatar of Sylvia Wetzel

Jahrgang 1949, befasst sich seit Ende der sechziger Jahre mit psychologischen und politischen Wegen zur Befreiung und seit 1977 mit Buddhismus, vor allem der tibetischen Tradition. Seit 1980 bewegt sie sich in der deutschsprachigen buddhistischen „Szene“, als Mitgründerin und langjährige Vorsitzende eines buddhistischen Zentrums mit angeschlossenem Buchverlag, als Übersetzerin und Kursassistentin, als „Funktionärin“ im buddhistischen Dachverband Deutsche Buddhistische Union, als Redakteurin der Lotusblätter und seit Ende der achtziger Jahre als buddhistische Meditationslehrerin, Vortragende und Autorin. Mit ihren kulturkritischen und feministischen Ansätzen ist sie eine Pionierin des Buddhismus in Europa.

Bücher der Autorin:
„Das Herz des Lotos. Frauen und Buddhismus“, Fischer Verlag.
„Hoch wie der Himmel. Tief wie die Erde. Meditationen über Liebe, Beziehungen und Arbeit“, Theseus-Verlag.
„Leichter leben. Meditationen zum Umgang mit Gefühlen“, Theseus-Verlag

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