Pragmatische Psychologie: wie aus Verrücktheiten Möglichkeiten werden. Oder: die Kunst, mit Fragen dein Leben zu verändern.

Von Susanna Mittermaier

 

Es ist einige Jahre her, dass ich meinen weißen Kittel endgültig ausgezogen habe. Ich hatte zuvor als klinische Psychologin in einer psychiatrischen Einrichtung in Schweden gearbeitet. Heute gebe ich Seminare weltweit – und trage dazu am liebsten mein rotes Kleid. Statt Diagnosen zu stellen, stelle ich Fragen, die meinen Klienten und Seminarteilnehmern ermöglichen, ihr eigenes Wissen und ihre Fähigkeiten zu erkennen und zu leben.

Kennst du das? Du warst dir mit etwas hundert Prozent sicher, hast es dir aber ausreden lassen. Beispielsweise beim Finanzexperten, der dir zu einer Anlage rät, die „bombensicher“ ist – und hinterher, wenn das Geld weg ist, sagst du: „Ich habe es doch gewusst!“ Oder wenn du genau weißt, dass dein Partner dich betrügt. Deine Freunde beruhigen dich aber, denn sie sind sich ganz sicher, dass dein Partner dich liebt. Das mag durchaus sein! Doch sobald er dir seine Untreue gestanden hat, erinnerst du dich, dass du es eigentlich bereits wusstest.

Was wäre, wenn es noch viel mehr gäbe, was wir wissen, ohne immer im Moment eine belegbare Information dafür zu haben? Wenn es Dinge gibt, die wir einfach wissen, auch wenn das Wissen darüber nicht logisch begründbar ist. Viele von uns wussten schon als Kind von eigenen Möglichkeiten und Potenzialen, die aber von anderen schnell als naiver Kindertraum abgestempelt wurden – und dann haben wir uns dieses Wissen ausreden lassen. Vielleicht wussten wir auch einmal, dass wir völlig in Ordnung sind – so, wie wir sind. Irgendwann aber haben wir begonnen, anderen deren Meinungen abzukaufen. Wir haben die Realität anderer zu unserer eigenen gemacht.

Pragmatische Psychologie: Das Wiedererwecken des Wissens

Bei meinen Teilnehmern und Klienten habe ich darum nicht die Funktion einer wissenden Psychologin oder Leiterin, sondern einer Facilitatorin (lateinisch: facilitas = Leichtigkeit). Ich bin dazu da, um Fragen zu stellen und Prozesse zu erleichtern – ohne jegliche Ansicht, welche Wahl die Person treffen sollte, oder zu wissen, was richtig und falsch wäre. Jeder weiß im Grunde – auch wenn wir es oft nicht wissen wollen –, welche Entscheidungen die Zukunft kreieren, die wir gerne hätten. Es ist meine Aufgabe, meine Klienten zu ermächtigen, genau die Entscheidungen zu treffen, die ihr Leben bereichern. Zu glauben, keine Ahnung zu haben, was man möchte, an sich zu zweifeln, Angst zu haben oder sich Möglichkeiten ausreden zu lassen – das ist oft der Fall, wenn man mehr anderen zuhört als sich selbst Fragen zu stellen. Welche Fragen können wir in diesem Fall stellen?

Beispielsweise: „Was davon ist für mich wirklich wahr und was habe ich anderen als real abgekauft? Welcher Gedanke, welches Gefühl ist eigentlich meines? Und was ist für mich möglich, wenn ich ganz ich selbst bin?“

Verantwortung und Ermächtigung

Wie frei wärst du, wenn du keine Antworten mehr haben müsstest und jeder Tag ein Abenteuer wäre herauszufinden, welche Möglichkeiten darauf warten, von dir entdeckt zu werden? In meinem Leben und meiner Arbeit habe ich mittlerweile gar keine Antworten mehr. Aber ich stelle Fragen, und zwar so, dass wieder eine neue Tür aufgeht. Ich stelle sie nicht so, dass sie in eine bestimmte Richtung weisen. Ich gebe nichts vor. Ich bin der offene Raum, in dem alles und jeder sein kann, was ist. Ich habe gelernt, dass Veränderung viel leichter geschieht, wenn alles erlaubt ist. „Alles ist erlaubt“ heißt, dass du weder der Meinung anderer zustimmst noch ihnen Widerstand leistest. Bewertungen und Meinungen sind einfach nur interessante Ansichten und nicht echt oder real.

Und ich habe noch etwas gelernt: Je mehr ich einem Menschen die Verantwortung für sich selbst zurückgebe, umso mehr „Ermächtigung“ geschieht. Völlige Ermächtigung des anderen, das bedeutet für mich: Ich weiß nichts besser als mein Klient oder Teilnehmer! Das ist für jemanden, der an der Universität ausgebildet wurde, um ein Experte in seinem Fach zu werden, eine völlig neue Perspektive. Doch zu glauben, man wüsste es besser, hilft dem anderen nur bedingt weiter.

Denn wenn ich jemandem eine Lösung oder einen Weg vorgebe, dann ermächtige ich ihn nicht. Ich stelle meine Meinung über sein Wissen. Dieses Wissen, das jeder über sich selbst hat, steht jedoch für die Pragmatische Psychologie an erster Stelle! So werden meine Klienten zum Experten Nummer eins für sich selbst.

Pragmatisch bedeutet, das zu tun und zu wählen, was funktioniert und mir gut tut. Viele glauben, das wählen zu müssen, was richtig ist (eine gedankliche Bewertung, die immer eine Auseinandersetzung mit dem Falsch nach sich zieht), was meist zu Spannungen, Stress und Drama führt, statt sich zu fragen: Welche Wahl kann ich treffen, die mich im Moment weiterbringt?

„Was ist in Ordnung an dir?“

Was ist in Ordnung an dir, das du bislang als falsch empfunden hast? Vielen meiner Teilnehmer wurde diese Frage noch niemals gestellt. Es war für sie normal, sich zu bewerten. Darum die Frage: Welche Probleme hältst du schon für so normal, dass du schon ganz vergessen hast, dass es auch andere Möglichkeiten und Sichtweisen gibt?

Die meisten halten erst einmal erstaunt inne, wenn sie merken, welche Schwierigkeiten sie zu etwas Normalem gemacht haben. Wir leben in einer Welt, wo es normal ist, ein Problem zu haben, und verrückt, keines zu haben. Wie wäre es, wenn das gar nicht so sein muss?

Wie wäre es, wenn alles, was du an dir als verrückt und falsch abgestempelt hast, genau die Ressourcen sind, die du für dich und dein Leben einsetzen könntest? Manche weinen vor Erleichterung, wenn sie diese Fragen hören. Wenn du mit dem Sich-schlecht-Machen (und sich dann entsprechend fühlen) aufhörst, dann kann wirkliche Veränderung geschehen – und dann kann das, was vorher als Verrücktheit galt, zu einer Möglichkeit werden. Dann ist es ein Potenzial statt einer Bürde. Ein Potenzial kann man leben. Hier kommen viele ins Straucheln: „Ich soll meine Verrücktheit leben?“ Dann stelle ich meistens die Frage: Welches Geschenk, das du noch gar nicht (an)erkannt hast, bist du mit deiner Verrücktheit und deinem Anderssein für die Welt?

Wichtig ist mir beim Stellen der Fragen auch, dass die Teilnehmer nicht im Kopf nach einer Antwort suchen oder eine Liste mit positiven Eigenschaften machen. Ich arbeite nicht kognitiv. Die Frage „Was, wenn an dir nichts falsch wäre?“ beispielsweise stößt einfach die Tür auf zu der Erkenntnis, dass alles andere, alles, was vermeintlich „falsch“ an dir ist, gar nicht deiner Wahrheit entspricht. Positive Affirmationen oder die Arbeit mit neuen Glaubenssätzen sind gar nicht mehr notwendig.

Kein positives Denken, kein negatives Denken – Fragen

Wenn Ansichten wegfallen, ist das meistens mit großer Erleichterung verbunden. Die Ansicht, dass etwas an uns falsch ist, muss jedoch nicht durch eine neue Ansicht ersetzt werden. Denn auch vermeintlich positive Ansichten können belastend sein. Das beste Beispiel hierfür ist der Herzschmerz, der durch die Ansicht besteht, dass unser Partner „der Richtige“ für uns ist, dieser sich aber nicht entsprechend unseren Erwartungen verhält. Was wäre, wenn wir nicht wüssten, wer oder was „richtig“ für uns ist? Was wäre, wenn wir stattdessen fragen würden, was hier und jetzt mit diesem Menschen möglich ist? Ist diese Person ein Beitrag, das Leben zu kreieren, an das ich mich gerne gewöhnen möchte? Trägt diese Person zu meinem Glücklichsein bei?

Statt zu denken, zu interpretieren und die Geschichten, die der Verstand uns als real verkaufen will, weiterhin zu glauben, entdecken meine Klienten und Teilnehmer immer mehr, dass sie schon immer wahrnehmen und wissen. Wenn wir beispielsweise nicht mehr an der Ansicht festhalten, dass unser Partner sich auf diese oder jene Weise verhalten sollte, weil er ja nun „der Richtige“ ist – dann könnten wir wahrnehmen, ob die Beziehung überhaupt für uns funktioniert. Ich lade die Menschen meist dazu ein, Fragen zu stellen, wie die Beziehung denn für sie funktionieren könnte, wenn sie den Partner so sehen, wie er ist – ohne etwas zu erwarten, was er nicht liefern wird. Eine meiner Lieblingsfragen lautet: „Was funktioniert für dich?“

Dennoch ist es mir ein Anliegen zu vermitteln, dass es bei der Pragmatischen Psychologie nicht um Problemlösung geht! Ehen werden nicht unbedingt durch neue Schlussfolgerungen gerettet. Es geht darum, durch Fragenstellen, Wahrnehmen und Sein die Türen zu neuen Möglichkeiten zu öffnen. Wie diese aussehen, wird sich zeigen, wenn es soweit ist. Es geht – vielleicht zum ersten Mal im Leben so manches Klienten – nicht um zu erreichende Ziele, um Resultate. „Doch wie ist dann Veränderung möglich?“, werde ich manchmal erstaunt gefragt.

Die Macht der Wahl

Veränderung geschieht, wenn eine neue Wahl getroffen wird. Und diese Wahl kann ganz unterschiedlich ausfallen. Etwas Neues, etwas Eigenes zu wählen, das bedeutet auch auszuprobieren. Die Wahl ist keine Entscheidung für die Ewigkeit, sondern ein Spiel mit den Möglichkeiten. „Könnte ich mir für zehn Sekunden erlauben, meiner Vergangenheit keine Macht mehr über mich zu geben? Was ist jetzt für mich möglich?“ Und nach weiteren zehn Sekunden kann ich wieder etwas anderes wählen.

Auch hier ist es wieder wichtig, die Wahl eines anderen nicht zu bewerten. Denn wer bin ich, dass ich be- oder verurteilen könnte, was ein anderer Mensch für sich wählt? Ich bin fest davon überzeugt, dass jeder, der eine Wahl getroffen hat (auch zum Beispiel die, sich ganz erbärmlich zu fühlen), jederzeit wieder neu wählen kann. Ich weiß nicht, welche Wahl die beste für einen anderen ist. Aber ich kann die Einladung sein, eine neue Wahl auszuprobieren, und Zeuge der Veränderung sein, die sich vollzieht. Veränderung ist nur eine Wahl entfernt!

Verrücktheit und Anderssein als Möglichkeit

Das zu wählen, was für mich funktioniert – das kann auch bedeuten, dass alle Welt mich für verrückt hält. Eine Psychologin, die glücklich im kurzen roten Kleid in der Welt herumreist … ja, spinnt die denn? Doch ich erlaube mir zu tun, was für mich und meinen Körper am besten funktioniert. Diese Einladung möchte ich für jeden sein, der mir begegnet.

Wenn jemand anders funktioniert, als wir das gewohnt sind, dann wird dies oft als „verrückt“ bezeichnet … und ich stelle dann gemeinsam mit diesen Menschen Fragen nach den grandiosen Möglichkeiten, die in dieser „Verrücktheit“ stecken: Der Legastheniker ist dann vielleicht derjenige, der sich als besonders kreativ entpuppt. Ein Mann mit der Funktionsweise, die ADHS genannt wird, fragte sich, was für ihn mit seinen Besonderheiten funktioniert, und hörte auf mit seinen Versuchen, sich zu fokussieren und zu konzentrieren, was für ihn eine Verlangsamung bedeutet – heute führt er zwei Unternehmen, und zwar gleichzeitig.

Was wäre, wenn in dem, was als verrückt gilt, großartige Möglichkeiten verborgen liegen? Denn in einer Welt, in der „normal“ (was ist das überhaupt?) als „gut“ und „unnormal“ als „schlecht“ oder „krank“ gilt, wird oft übersehen, dass nicht nur Künstler und Visionäre „unnormal“ sind, sondern auch viele andere Menschen, die „verrückt“ oder „anders“ wirken. Und was wäre, wenn gerade diese Menschen nicht nur ein unendlicher Beitrag sein könnten für sich selbst, sondern für eine andere, glücklichere Welt? – nämlich dann, wenn sie sich erlauben würden, die eigene Verrücktheit nicht mehr zu verurteilen, sondern zu leben.

 


Die Einführungsseminare in die Pragmatische Psychologie
sind für alle Menschen geeignet, die am Entdecken ihrer Verrücktheit als Möglichkeit interessiert sind – Vorkenntnisse sind nicht notwendig. Wer mit Klienten arbeitet, wird die Vorgehensweise der Pragmatischen Psychologie in Aktion erleben und kann diese anschließend in der Praxis einsetzen.

Infos zu Seminaren auf
www.susannamittermaier.accessconsciousness.com

Termine in Berlin mit Susanna Mittermaier:
Foundation Level 1
(Voraussetzung Access Bars® Kurs)
26.-29. August 2016

Vorbereitungsseminar:
Access-Bars-Kurs in Berlin mit Martina und Frank Klimpel
16./17. August 2016 18-22 Uhr
23./24. August 2016 18-22 Uhr

Auf Mallorca: Das Seminar zum Buch
Pragmatische Psychologie mit Susanna Mittermaier am 7.-9. Oktober 2016

Infos und Anmeldung
unter Tel.: 030-47363930
oder info@matrix2point.de
oder über den Terminkalender von Martina und Frank Klimpel auf www.matrix2point.de

Hinterlasse einen öffentlichen Kommentar

Deine Email Adresse wird nicht veröffentlicht.

*