Was tun, wenn die Seele zu viel fühlt? Für hochsensible Kinder kann  die Schule ein Reizklima sein, das sie vollkommen überfordert. Cordula Roemer fordert deshalb Unterrichtsformen, die auch Kindern mit hoher Sensitivität gerecht werden.

 

Wir Menschen sind sinnliche Wesen und lernen über alle unsere Sinne. Allerdings setzen wir dabei nicht jeden Sinn gleichermaßen stark ein, sondern nutzen manche bevorzugt. Daraus ergeben sich die sogenannten „Lerntypen“, also zum Beispiel der auditive, visuelle oder motorische Lerntyp, der personenorientierte Lerntyp sowie der kommunikative oder der medienorientierte Lerntyp. Allein hieran sehen wir bereits, wie vielfältig Lernen sein kann und sein muss, um Gelerntes wirklich effektiv zu verankern.

Aber was bedeutet es, wenn ein Kind per se alles wesentlich intensiver wahrnimmt und verarbeitet? Wenn die Sinne permanent auf Hochtouren laufen? Hochsensibilität, oder auch Hochsensitivität, ist die veranlagte Fähigkeit des neuronalen Systems, innere und äußere Reize und Informationen deutlich vermehrt und intensiver aufzunehmen und sie zusätzlich wesentlich intensiver zu verarbeiten – als Folge daraus entsteht eine hohe innere Komplexität. Geschätzte 15-20 Prozent aller Menschen sind davon betroffen, also zirka vier bis sechs Kinder pro Schulklasse! Diese Veranlagung kann dabei einen sehr unterschiedlichen Ausdruck finden.

 

Rückzug notwendig

Suse zum Beispiel ist eine Stille. Sie wirkt scheu, verträumt, manchmal langsam und ängstlich. Die Lehrer bemängeln ihre geringe mündliche Mitarbeit, aber ansonsten sind ihre Leistungen in Ordnung. Sie malt hingebungsvoll und sehr detailverliebt. Pausen auf den Schulhof mag sie gar nicht – es ist ihr dort viel zu laut und ruppig.

Suse kann sicherlich gut zuhören, sonst wären ihre Noten schlechter. Als introvertierter Mensch scheut sie jedoch die aktive Mitarbeit und laute und volle Umgebungen – wie einen Schulhof. Da sie all diese Reize sehr intensiv wahrnimmt und sie auch nicht einfach „abstellen“ kann, ist sie mit ihren Aufgaben zuweilen recht langsam. Sie wird versuchen, über Rückzug innerlich zur Ruhe zu kommen, um den vielfältigen Reiz-Input zu verarbeiten. Sie lernt am besten in einer ruhigen Umgebung, mit Zeit für ihre Kreativität und Detailgenauigkeit.

Stefan ist der Klassenclown, unruhig, ständig in Bewegung. Er kann sich kaum konzentrieren und ist schnell abgelenkt. So lustig Stefan auch ist, so schnell kann er auch wütend werden, wenn er zum Beispiel Aufgaben – vorzugsweise Textaufgaben – nicht versteht oder Ungerechtigkeiten bemerkt. Stefan fängt gerne Neues an, probiert und experimentiert, aber wenn er es einmal geschafft hat, wendet er sich wieder etwas Neuem zu.
Stefan ist ein Bewegungs-Mensch, der durch das viele Sitzen in der Schule völlig unterfordert ist. Diesen Stress drückt er durch seinen „Clown“ aus, durch den er noch unruhiger und unkonzentrierter wird. Die Vielfalt seiner Reizaufnahme führt zu leichter Ablenkbarkeit, denn alles ist gleich wichtig. Seine Wutausbrüche sind Ausdruck des Zwiespalts zwischen Perfektionsanspruch und Leistungsergebnis – ein typisches Problem bei hochsensiblen Menschen (HSM)! Aber auch sein Gerechtigkeitssinn – ebenfalls bei vielen HSM zu finden – sorgt immer wieder für Reibereien. Als extravertierter Junge sucht er die Abwechslung, braucht also immer genügend inhaltliche Herausforderungen.

 

Unterschiedliche Lerngeschwindigkeit

Dies sind nur wenige Beispiele von Schwierigkeiten, die auf hochsensible Kinder in unseren Schulen zukommen. Viele hochsensible Kinder haben auch Schwierigkeiten mit den großen Schulklassen, denn die damit verbundene erhöhte Lautstärke und Unruhe bringt die Kinder immer wieder aus der Konzentration. Zudem wird ihre Fähigkeit, Stimmungen, Gefühle und Energien anderer Menschen wahrzunehmen, in einem solchen Umfeld zur Dauerbelastung. Auch der oftmals sehr hohen Kreativität und unorthodoxen Lösungsvielfalt hochsensibler Kinder sowie den daraus resultierenden unterschiedlichen Lerngeschwindigkeiten wird der heutige Schulalltag leider kaum gerecht.

Es zeigt sich, das die Probleme vielfältig und auch innerhalb eines Kindes sehr komplex sein können. Hochsensible Kinder sind keine „besonderen“ Lerntypen, sie lernen genauso mit ihren Sinnen wie alle anderen auch. Sie lernen es nur auf eine intensivere und umfassendere Art – und das hat Folgen!

Etwas anderes wird noch deutlich, und hier sind die hochsensiblen Kinder „Vorreiter“: dass wir uns von Unterrichtsformen, die möglichst vielen Schülern zugleich gerecht werden wollen, verabschieden müssen. Unpassende Rahmenbedingungen und Umgangsweisen, auch im Unterricht, können gravierende Auswirkungen auf die kindliche Psyche haben. Wir müssen erkennen: „Was dem einen gut tut, hilft dem anderen noch lange nicht“ – auch im Unterricht! Die hochsensiblen Kinder weisen uns auf ihre und unsere Vielfalt und Empfindsamkeit hin und fordern einen sanften, respektvollen und individuellen Umgang ein.


Abb.: © LVDESIGN – Fotolia.com

Über den Autor

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Coach, Dozentin und Sachbuch-Autorin, Expertin für Hochsensibilität & Hochbegabung
Aus einer Journalisten-Familie stammend hat die Autorin spät zum Schreiben gefunden und dabei ihre alten Wurzeln wiederentdeckt. Seit 2011 schreibt sie Sachbücher mit Hang zum Belletristischen zu ihrem Expertenthema. Im Schreibkurs verbindet sie ihr psychologisches Knowhow mit der Neugier am geschriebenen Wort.
Darüber hinaus begleitet sie feinfühlige Menschen im Life- und Job-Coaching.

Cordula Roemer ist Dipl. Pädagogin, HSP-Beraterin u. -Coach, Dozentin und Autorin. Seit 2007 weiß sie von ihrer eigenen Hochsensibilität und gründete 2009 das Offene Berliner HSP-Treffen, das seither monatlich stattfindet. Vorträge, Fortbildungen für pädagogische Fachkräfte, Beratungen für Betroffene und Sachbücher folgten.

 

Bücher:
Cordula Roemer: Hurra, ich bin hochsensibel! Und nun?, Springer 2017
Cordula Roemer: Perlen im Getriebe – Hochsensibel im Beruf, Humboldt 2018
Cordula Roemer und Anne Oemig: Ein hochsensibles Jahr mit Gustav, Springer 2018

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