Viele Menschen haben wenig Zugang zu ihren Gefühlen und ihrem Potenzial oder leiden unter psychosomatischen Beschwerden unklaren Ursprungs. Sie leben ein Leben ohne Freude und Kraft. Sie haben Dutzende Therapien durchlaufen – und nichts hat geholfen. Dass der Keim ihres Martyriums darin liegen könnte, dass sie in ihrer Kindheit Linkshänder waren und auf rechts umgeschult wurden, käme ihnen nie in den Sinn. Marina Neumann hat eben diese Zwangs-Umerziehung erfahren und erlebte sich nach einer Rückschulung als neuer und befreiter Mensch.

Linkshänder – Rechtshänder

Seit es Menschen gibt, gibt es Links- und Rechtshänder. Die Händigkeit ist angeboren und steht schon im embryonalen Zustand fest. Sie zeigt sich allerdings nicht sofort nach der Geburt, sondern erst im Alter von zehn bis elf Monaten, wenn das Kleinkind zielgerichtet greifen kann. Ein Linkshänder greift instinktiv spontan mehr mit der linken Hand, ein Rechtshänder mehr mit rechts.

Im christlich-abendländischen Kulturbereich sind Linkshänder aber seit Jahrhunderten in der Minderheit. Aus ideologischen und religiösen Gründen sind sie auf die rechte (Schreib-)Hand umerzogen worden, teilweise mit drakonischen Maßnahmen. Auch im Islam und im Hinduismus gab und gibt es eine starke Unterdrückung von Linkshändern, hier gilt die linke Hand als die unreine.

Bis in die 1980er Jahre war es in der BRD und in der ehemaligen DDR absolut normal, linkshändige Kinder in der Schule zum Schreiben mit rechts anzuhalten. Deshalb gibt es unter den Erwachsenen so viele Betroffene, die ihre Linkshändigkeit nicht leben können.

Nach wie vor werden linkshändige Kleinkinder sanft an das „richtige“ Händchen gewöhnt.

Wie viel Prozent der Bevölkerung geborene Linkshänder sind, kann niemand mit Gewissheit sagen. Manche von ihnen wissen nicht einmal, dass sie eigentlich Linkshänder sind. Welche Folgen die Unterdrückung der ange – borenen Linkshändigkeit haben kann, ist bisher in der Öffentlichkeit wenig bekannt.

Umerziehung Linkshänder: Schwerer Eingriff ins Gehirn

Die Umerziehung auf rechts beim Linkshänder ist ein absolut unterschätzter Eingriff in das Gehirn, den Körper und die Psyche eines Kindes. Einer der wenigen, der die Situation von unterdrückten Linkshändern erfasst hat, war der indische Meister Osho. Er hat die Linkshänder als die am meisten unterdrückte Minderheit der Welt bezeichnet. Linkshänder haben biologisch determiniert ihre Dominanz in der linken Hand und in der rechten Gehirnhälfte, bei den Rechtshändern ist es genau umgekehrt. Das bedeutet, dass eine angeborene Rollenaufteilung zwischen beiden Händen und beiden Gehirnhälften (Hemisphären) existiert. Es gibt immer eine dominante „starke“ Hand und eine nicht dominante „schwache“, ebenso eine dominante und eine nicht dominante Gehirnhälfte.

Die dominante Hand ist die Arbeitsoder auch Führungshand, sie hat zum Beispiel mehr Kraft oder Ausdauer und ist feinmotorisch geschickter als die nicht dominante. Sie reagiert schneller, ist ausdrucksfähiger, und mit ihr zu hantieren, zu schreiben, zu malen oder auch zu musizieren fühlt sich gut und stimmig an. Die nicht dominante Hand ist die Halte- oder auch Hilfshand.

Die Bewegungen der linken Hand werden von der rechten Gehirnhälfte gesteuert, die der rechten Hand von der linken. Beide Gehirnhälften haben unterschiedliche Funktionen: Die rechte ist beispielsweise zuständig für die Subjektivität, Kreativität und Spiritualität. Die visuelle Wahrnehmung, das Melodiengedächtnis und Emotionen sind ebenfalls Funktionen der rechten Hemisphäre. Die linke Gehirnhälfte ist unter anderem für das abstrakte, logischrationale Denken zuständig, ebenso für den verbalen Ausdruck.

Zugespitzt ausgedrückt könnte man sagen, dass die rechte Hemisphäre die weibliche Seite im Menschen repräsentiert und die linke die männliche Seite.

Schweres Leben: umgeschulte Linkshänder

Normalerweise sind bei jeder Tätigkeit beide Hemisphären beteiligt, sie sind durch den sogenannten Balken, das Corpus Callosum, verbunden. Hier findet die Informationsübertragung zwischen beiden Gehirnhälften statt.

Linkshänder sind aber in ihrer Selbstund Weltsicht sowie auch beim Lernen und in der Problemlösung eher rechtshemisphärisch geprägt, bei Rechtshändern ist es genau umgekehrt.

Bittet man Rechtshänder, sich mal vorzustellen, wie es wäre, wenn sie ab jetzt nur noch mit links hantieren und schreiben müssten, können die meisten ansatzweise nachempfinden, wie schwierig das Leben für umgeschulte Linkshänder sein kann. Wenn ein linkshändiges Kind eine so anspruchsvolle Tätigkeit wie das Schreiben mit seiner rechten Hand erlernen soll, so muss es eine extreme widernatürliche Anpassungsleistung vollbringen. Feinmotorische Probleme können die Folge sein.

Viele betroffene Kinder haben in der ersten Klasse unerklärliche Schwierigkeiten beim Schreibenlernen, sie drücken viel zu stark auf oder sind oft viel zu langsam. Wenn umerzogene Linkshänder mehrere Seiten schreiben müssen, schmerzt vielen die rechte Hand. Diese Symptomatik bleibt trotz jahrelanger Übung in den allermeisten Fällen bestehen. Viele betroffene Erwachsene schreiben deshalb äußerst ungern mit der Hand und sind froh, auf den PC ausweichen zu können.

Die Unterdrückung der angeborenen Linkshändigkeit wirkt sich aber auch störend auf die Zusammenarbeit beider Gehirnhälften aus. Wenn ein Linkshänder nicht mit links schreiben lernen kann, wird nicht nur die dominante Hand unterdrückt, sondern auch die dominante rechte Gehirnhälfte. Sie darf nicht am Lernen teilnehmen, obwohl beim Linkshänder gerade diese Hemisphäre die entscheidende ist. Die Umerziehung zwingt ein linkshändiges Kind dazu, seinen spontanen rechtshemisphärisch gesteuerten Impuls, die linke Hand zu benutzen, zu unterdrücken.

Stattdessen muss das Kind immer erst umdenken, bevor es die rechte Hand benutzt. Die linke Gehirnhälfte muss jetzt als dominante funktionieren und ist damit in ihrer Lern- und Leistungsfähigkeit überfordert. Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen können die Folge sein, Sprachprobleme wie Stottern und Stammeln, Leserechtschreibschwäche oder Rechenschwäche und ADS/ADHS ebenso.

Emotionale und gesundheitliche Probleme bei unterdrückten Linkshändern

Aber auch psychosomatische Beschwerden wie wiederkehrende Kopfschmerzen bis hin zur Migräne oder unerklärliche Bauchschmerzen im Kindesalter können ihre Ursache in einer unterdrückten Linkshändigkeit haben. Umerzogene Linkshänder sind mehr oder weniger stark von ihrer rechten Hemisphäre abgeschnitten. Sie können kaum entspannen, haben wenig Zugang zu ihren Gefühlen und sind in ihrer Selbstwahrnehmung beeinträchtigt. Sie fühlen oft nicht, was sie wollen, und sind deshalb dauerhaft verunsichert. Viele Betroffene merken gar nicht, wenn sie müde sind und eine Pause brauchen. Sie gehen oft über ihre körperlichen oder psychischen Grenzen und landen deshalb immer wieder in einem Burnout.

Unterdrückte Linkshänder mit ausgeprägten kreativen oder auch intuitiven Fähigkeiten bleiben dauerhaft davon abgeschnitten, solange sie ihre Händigkeit nicht leben dürfen. Stattdessen müssen sie ein Leben führen, das ihnen gar nicht entspricht. Kein Wunder, dass viele von ihnen psychische Probleme wie Depressionen und Angstattacken, Identitätsprobleme oder sonstige Persönlichkeitsstörungen unklaren Ursprungs haben.

Einen Ausweg aus diesen Schwierigkeiten kann die Rückschulung auf die linke (Schreib-)Hand bieten. Rückschulung bedeutet: Man lernt wieder mit links zu schreiben und dann auch andere Tätigkeiten im Alltag auf die linke Hand umzustellen. Dadurch werden die dominante linke Hand und die dominante rechte Gehirnhälfte wieder zum Leben erweckt und die überforderte rechte Hand und die linke Hemisphäre entlastet.

Als Betroffene habe ich diesen Prozess vor einigen Jahren selbst vollzogen und ihn als feinmotorische und psychische Befreiung erlebt!

Vor Beginn einer Rückschulung sollte die unterdrückte Linkshändigkeit zweifelsfrei geklärt und das gute Gefühl für die linke Hand geweckt worden sein. Durch einen Händigkeitstest lässt sich herausfinden, ob jemand links- oder rechtshändig ist. Manche Erwachsene können sich daran erinnern, dass sie bereits im Vorschulalter dazu angehalten worden sind, das „richtige“ Händchen zu benutzen. Solche Erinnerungen sind ernst zu nehmen. Anderen Betroffenen ist bewusst, dass sie für viele einfache Tätigkeiten im Alltag die linke Hand benutzen, auch das kann ein wichtiger Hinweis auf eine unterdrückte Händigkeit sein. Es gibt aber auch Betroffene, die sich bisher für Rechtshänder gehalten haben, die sich an nichts erinnern können und die trotzdem umerzogene Linkshänder sind.

Zurück auf links = Entspannung und Leichtigkeit

Da es sich gut und stimmig anfühlt, mit der dominanten Hand Dinge zu tun, zu malen und zu schreiben, ist es mir sehr wichtig, dass Kinder, Jugendliche und Erwachsene am Ende der Händigkeitstestung selbst erkennen, ob sie links- oder rechtshändig sind. Kinder ab dem Alter von fünf Jahren sind zum Beispiel in der Lage zu merken, mit welcher Hand es sich besser anfühlt, große einfache Figuren zu malen. Etliche betroffene Erwachsene erleben beim Ausprobieren mit der linken Hand zu ihrer eigenen Überraschung eine Entspannung und Leichtigkeit, die sie mit rechts nie erfahren konnten, selbst wenn sie jahrzehntelang die linke Hand kaum benutzt haben.

Das gute Gefühl, das sich beim Benutzen der linken Hand einstellt, erleichtert Betroffenen, ihre unterdrückte Linkshändigkeit anzuerkennen, und weckt bei vielen den Wunsch, sich auf links zurückzuschulen. Das Schreiben mit links sollte spielerisch, behutsam und langsam vollzogen werden. Professionelle Unterstützung kann helfen, leistungsorientiertes Vorgehen und Selbstüberforderung zu vermeiden.

Für den Beginn der Rückschulung eignet sich zum Beispiel ein längerer Urlaub, für Kinder und Jugendliche die Sommerferien. Die Umstellung auf links beim Schreiben kann bei Erwachsenen einen spannenden und tiefgreifenden psychischen Veränderungsprozess in Gang setzen. Die Rückschulung kann der Aufbruch zu einem Leben sein, das mehr den eigenen Bedürfnissen, Interessen und Begabungen entspricht. Betroffene können bisher unterdrückte Fähigkeiten und ihre Kreativität wiederentdecken oder endlich fühlen, welchen Beruf sie wirklich ausüben möchten.

Durch die Öffnung der rechten Gehirnhälfte können aber auch verdrängte Gefühle und Erinnerungen freigesetzt werden. Dadurch werden unterdrückte Linkshänder immer wieder auch mit ihrer leidvollen Vergangenheit konfrontiert. Psychotherapeutische Unterstützung kann helfen, diese schwierigen Phasen leichter und schneller zu durchleben und Unbewältigtes zu integrieren.

3 Responses

  1. Kunigunde

    Ich bin leider ein umgeschulter Linkshänder und habe früher oft den Spruch von der schönen Hand hören müssen. Ich schreibe mit rechts, aber total verkrampft und ziemlich unschön ! Ich mache sehr viel mit links, aber nicht konsequent alles, weil ich viel mit rechts machen müsste! Es ist manchmal eigenartig, weil man oft denkt, die falsche Hand zu benutzen. Umschulung? – ich weiss nicht so richtig.

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  2. Mihailo Arsenski
    Eine große Erkenntnis, Danke!

    Vielen Dank für diesen tollen Artikel! Das habe ich lebenslang gesuch und habe den Kontakt der ersten linkshänder Beratungsstelle in München, bei mir um die Ecke und alle weiteren Kontakte und Infos gefunden. Selber bin ich Therapeut und arbeite mit Gehirnplastizitaet Methoden :Feldenkrais und Tomatis. Jetzt ich verstehe warum ich das brauchte! Herzlichen Dank!

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  3. Max
    Empfehlung und Danke

    Ich will Frau Neumann als Begleiterin zur Umschulung empfehlen. Ich selbst schule mich seit 14 Monate um und es ist die heftigste Veränderung in meinem Leben. Ich fühle mich lockerer, leichter, entscheidungsfreudiger, glücklicher und weiß mehr was ich will. Vielen Dank und weiter so!

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