Innenwelten – die Kolumne von Ronald Engert

Wenn ich durch die Straßen Berlins laufe, wundere ich mich immer wieder über ein außergewöhnliches Phänomen, was anscheinend außer mir niemandem auffällt, oder was zumindestens jeder außer mir für völlig normal hält. Die Rede ist von dem faszinierenden Umstand, dass jeder, der durch die Straßen läuft, jeden anderen wie Luft behandelt. Mir fällt auf, dass jeder ganz für sich bleibt und niemanden anschaut.

Ich komme ja vom Dorf. Dort war es in meiner Kindheit üblich, die Menschen, denen man auf der Straße bzw. dem Bürgersteig begegnete, zu grüßen, und ich habe als Kind gelernt, dass ich auf jeden Fall grüßen muss. Es ist in dem Dorf auch heute noch üblich und natürlich schauen sich die Menschen dabei auch in die Augen. Ich finde das eine sehr schöne Umgangsform, die für mich etwas Persönliches und etwas Menschliches hat. Man sieht den Anderen und erkennt ihn an. Man nimmt ihn wahr und bringt ihm Respekt entgegen.

Natürlich ist es in einer so großen Stadt wie Berlin nicht möglich, jeden zu grüßen. Aber irgendwie habe ich die Gewohnheit beibehalten, die Menschen anzuschauen. Ich stelle aber fest, dass praktisch nie ein Mensch mich anschaut, mit zwei Ausnahmen: kleine Kinder und Menschen, die offenbar Streit suchen. Was die Streitsucher betrifft, schaue ich lieber weg. Was aber die Kinder betrifft, so ist es eine herzerfrischende Freude, mit ihnen im Augenkontakt zu sein. Kinder schauen mir offen und absichtlich in die Augen. Ich habe es schon beobachtet, dass sie im Kinderwagen sitzend von ihrer Mutter vorbeigeschoben werden und den Kopf verdrehen, bis sie fast aus dem Wagen fallen, nur, um mir so lange wie möglich in die Augen zu schauen.

Was ist da passiert, dass die Erwachsenen das überhaupt nicht mehr tun? Warum läuft jeder so gänzlich isoliert in seiner eigenen Welt durch die Straßen? Wo schauen die Leute eigentlich hin? Ich finde ja, dass es nichts Interessanteres gibt als ein menschliches Lebewesen. Das ist meines Erachtens das stärkste Energiezentrum, was selbstbewegt durch den Raum gleitet. Wesentlich interessanter als ein Laternenpfahl oder eine Hauswand! Auch wesentlich interessanter als ein Gebüsch oder ein Auto! Ja, sogar interessanter als eine Wolke oder ein Hund, finde ich. Warum schauen die Leute also am liebsten Autos, Hunde oder Hauswände an? Oder warum stieren sie ins Leere? Warum schauen sie durch mich hindurch oder an mir vorbei, als ob ich nicht existieren würde?

Als ich in Indien war, fiel mir auf, dass dort auch die Erwachsenen einen angaffen. Ich fand das lustig und auch menschlich. Sie waren einfach an mir oder an uns interessiert und schauten uns ungeniert zu, als ob es das Normalste der Welt wäre. Wir lagen mal mit ein paar Jungs in der Badehose am Strand des Ganges, als ein Boot mit ca. zehn Inderinnen und Indern an Bord vorbeischipperte. Als sie auf unserer Höhe waren, standen sie Spalier wie die Orgelpfeifen und schauten uns zu, bis das Schiff außer Reichweite war. Das war jedoch nicht alles. Ca. 15 Minuten später kamen sie zurück und glotzten wieder, nur um weitere 15 Minuten später ein drittes Mal vorbei zu fahren, um nochmal zu schauen. Erst dann fuhren sie ihrer Wege. Ich fand das überhaupt nicht schlimm, es amüsierte mich.

Ich habe mich lange gefragt, warum ich die Menschen anschaue, obwohl das in unserer Kultur überhaupt nicht gut angesehen ist. Natürlich bekommt man als Mann auch unterstellt, man würde ja nur schöne Frauen angaffen, ihnen auf den Busen oder auf den Hintern schauen, um sich daran aufzugeilen. Aber ich habe bei mir festgestellt, dass ich alle Menschen anschaue, alte und junge, dicke und dünne, schöne und hässliche, Kinder und Erwachsene, Männer und Frauen, Deutsche und Ausländer, Schwarze und Weiße.

Ich dachte die ganze Zeit, mit mir stimmt etwas nicht und in letzter Zeit übte ich mich darin, die Menschen nicht mehr anzuschauen. Obwohl also diese starken und so furchtbar interessanten Energiezentren ganz dicht an mir vorbei laufen, behandle ich sie, als ob sie nicht existieren würden. Ich mache es jetzt also wie im Koran, der den muslimischen Männern empfiehlt, den Blick niederzuschlagen, wenn sie an einer Frau vorbeigehen. Gerade neulich hörte ich die rührende Geschichte von Lakshman, dem Bruder des sagenumwobenen vorgeschichtlichen indischen Königs Ram. Lakshman war so tugendhaft, dass er Sita, die Ehefrau seines Bruders, nie angeschaut hat. Als ihm deshalb einmal die Frage gestellt wurde, welchen Halsschmuck Sita trüge, konnte er die Frage nicht beantworten und erwiderte, er könne höchstens die Frage beantworten, welche Schuhe oder Fußkettchen sie trüge. Sie hatten zu dem Zeitpunkt schon vierzehn Jahre zusammen im Wald gelebt!

Allerdings habe ich nun noch eine andere Lesart gefunden, neueren Datums und sicherlich nicht so ehrenhaft wie die Geschichte von Lakshman oder von den muslimischen Männern. Angesichts unserer modernen Zeiten kann ich nicht umhin, dieser Interpretation eine wisse Plausibilität zuzugestehen. Sie stammt von niemand geringerem als Friedrich Engels, dem Mitbegründer des Kommunismus. Er schreibt von seinen Wanderungen durch London folgendes:

„So eine Stadt wie London, wo man stundenlang wandern kann, ohne auch nur an den Anfang des Endes zu kommen, ohne dem geringsten Zeichen zu begegnen, das auf die Nähe des platten Landes schließen ließe, ist doch ein eigen Ding. Diese kolossale Zentralisation, diese Anhäufung von dritthalb Millionen Menschen auf einem Punkt hat die Kraft dieser dritthalb Millionen verhundertfacht; sie hat London zur kommerziellen Hauptstadt der Welt erhoben, die riesenhaften Docks geschaffen und die Tausende von Schiffen versammelt, die stets die Themse bedecken … Aber die Opfer, die alles das gekostet hat, entdeckt man erst später. Wenn man sich ein paar Tage lang auf dem Pflaster der Hauptstraßen herumgetrieben hat, dann merkt man erst, dass diese Londoner das beste Teil ihrer Menschheit aufopfern mussten, um alle die Wunder der Zivilisation zu vollbringen … Schon das Straßengewühl hat etwas Widerliches, etwas, wogegen sich die menschlichen Natur empört. Diese Hunderttausende von allen Klassen und aus allen Ständen, die sich da aneinander vorbei drängen, sind sie nicht alle Menschen, mit denselben Eigenschaften und Fähigkeiten, und mit demselben Interesse, glücklich zu werden? Und haben sie nicht alle ihr Glück am Ende doch durch ein und dieselben Mittel und Wege zu erstreben? Und doch rennen sie aneinander vorüber, als ob sie gar nichts gemein, gar nichts miteinander zu tun hätten, und doch ist die einzige Übereinkunft zwischen ihnen die stillschweigende, dass jeder sich auf der Seite des Trottoirs hält, die ihm rechts liegt, damit die beiden aneinander vorbeischießenden Strömungen des Gedränges sich nicht gegenseitig aufhalten; und doch fällt es keinem ein, die andern auch nur eines Blickes zu würdigen. Die brutale Gleichgültigkeit, die gefühllose Isolierung jedes Einzelnen auf seine Privatinteressen tritt umso widerwärtiger und verletzender hervor, je mehr diese Einzelnen auf den kleinen Raum zusammengedrängt sind; und wenn wir auch wissen, dass diese Isolierung des Einzelnen, diese bornierte Selbstsucht überall das Grundprinzip unserer heutigen Gesellschaft ist, tritt sie doch nirgends so schamlos unverhüllt, so selbstbewusst auf, als gerade hier in dem Gewühl der großen Stadt.“

Friedrich Engels spricht hier etwas aus, was doch meistens beschämt geleugnet wird. Sollte es doch nicht das ehrenhafte Taktgefühl sein, was jeden außer den Kindern dazu bewegt, niemanden eines Blickes zu würdigen? Sollte es die „brutale Gleichgültigkeit, die gefühllose Isolierung jedes Einzelnen“ sein, die hier am Werke ist?

Ja, wir leben im Zeitalter des Individualismus, in dem jeder mit sich selbst beschäftigt ist und andere Menschen nicht viel mehr als Statisten oder ein Hintergrundrauschen sind, vielleicht ein Publikum für die eigene Performance, für die Selbstinszenierung des ach so eigenständigen und unabhängigen Ichs. Kürzlich bemerkte jemand, dass die heute übliche Anmutung, bedingungslos um seiner selbst willen geliebt werden zu wollen, nichts weiter als eine Spielart dieser individualistischen Kultur ist. Man möchte nicht mehr Teil eines Kollektivs oder einer Gemeinschaft sein, in der es sehr wohl die Frage ist, was man dieser Gemeinschaft nützt und wie man sich dort konstruktiv einbringt. Diese Unverbindlichkeit und Verpflichtungslosigkeit ist zugleich Isolation, schwindendes Mitgefühl und fehlende Verantwortung für den anderen. Das Desinteresse an den andern Menschen, das als „guter Ton“ rationalisiert wird, ist eine Verfallserscheinung des Kapitalismus und vielleicht liegt der Ursprung dieser Verhaltensweise deshalb bei den „feinen“ Leuten, weil sie die Nutznießer des kapitalistischen Systems sind.

Ich schlage vor, dass wir uns auf das Menschliche zurückbesinnen und von den unschuldigen Kindern und den unschuldigen Menschen der Dritten Welt lernen. Ein Blick in offene Augen und ein Lachen sind mehr wert als Individualismus, Macht und Geld.

Weitere Informationen

Friedrich Engels:
Die Lage der arbeitenden Klasse in England, zweite Ausgabe, Leipzig 1848, S. 36-37

 

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4 Responses

  1. Micha
    Da bist du ja !

    Ronald, lass dich bloß nicht beirren. Ich schaue grundsätzlich fast jeden Menschen an, der an mir vorbei läuft. Einfach, weil ich an den Gesichtern interessiert bin, und natürlich auch den Kontakt, den Gruß suche. Manchmal ist es, als würde ich etwas oder jemanden suchen, aber das ist wohl nur Schein weil man sich so exotisch vorkommt. Wenn Menschen Menschen ansehen ist das ganz normal. Manchmal ergeben sich sehr vielsagende Blickkontakte und das entschädigt alles. Meistens sehe ich sie so lange an, bis sie zurücksehen. Das geht bei fast allen ganz gut, wenn man echtes Interesse hat. Komisch sind nur die Telefonherumträger, die dann auf- und an mir vorbeischauen. Das sieht dann sehr wichtig aus.. Kinder sind die besten. Dann lasse ich ganz langsam meine Zunge herauswandern und ernte die breitesten Grinsen. Wie gesagt, lass dich nicht beirren. Individualismus ist eine Illusion, eine Kampagne, die sich gut verkauft, aber das geht vorbei…
    beste Grüße aus Schöneweide

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  2. Dorothea Ziller
    Blickkontakt

    Das sind spannende Beobachtungen. Als ich vor 15 Jahren für ein Soziales Jahr raus aus Berlin in eine hessische Kleinstadt gegangen bin, habe ich bewusst auf der Straße geübt, Leuten in die Augen zu schauen. Das hat mich recht viel Überwindung gekostet, auch zu ungewohnten, ungewollten Avancen geführt, mich aber selbst bewusster und selbst sicherer gemacht. Zurück in Berlin habe ich dann die lustige Erfahrung gemacht, dass Unbekannte, die ich direkt angesehen habe, etwas irritiert gegrüßt haben, als wüssten sie nicht, ob sie mich kennen würden und also vorsichtshalber mal grüßen. Und mit meinen Kindern habe ich auch beobachtet, dass sie vor allem bei Bahnfahrten (S-, U-, Regional-, wo auch immer man sich längere Zeit gegenüber sitzt), mit Blicken auf die Suche gegangen sind nach Erwachsenen, die sich mit ihnen freuen oder vielleicht sogar unterhalten. Sie waren eindeutig enttäuscht, wenn niemand (vor allem junge Männer nicht, aber auch coole junge Frauen oder Menschen, die irgendwie mit sich beschäftigt waren) reagierte. Und noch tun sie das (4 und 2 Jahre) und ich werde sie auch weiterhin ermutigen, Kontakt aufzunehmen!! 😉

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    • Ronald

      Schön, dass du das teilst. Ich bin froh, dass so viele Menschen das ähnlich empfinden. (Auf FB habe ich den Beitrag gepostet und da gibt es viele berührende Kommentare: https://www.facebook.com/tattva.viveka?ref=hl)

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