Erzählungen waren lange Zeit die traditionelle Methode, um zu unterrichten und Kenntnisse zu vermitteln. Auch in unserer Zeit besteht wieder ein großes Bedürfnis nach Erzählungen. Geschichten, die Sinn und Bedeutung geben, sind Wegweiser in unserem Leben und bestenfalls Schlüssel zum Herzen. Sie erzählen uns etwas über tiefe universelle Werte und bringen etwas auf ganz tiefen Ebenen – jenseits des Verstandes – in uns zum Klingen.

 

Im Herbst 2003 erhielt der Niederländer Leo Kaniok von seinem Vater Erich eine Plastiktüte voller Erzählungen. Mehr als 500 DIN-A4-Blätter, die mit einer alten 70er-Jahre-Schreibmaschine beschrieben worden waren. Auf vielen Seiten waren mit der Hand Bemerkungen und Änderungen hinzugefügt worden. Es waren Geschichten, die er in den vergangenen 40 Jahren aus den verschiedensten spirituellen Büchern gesammelt, aufgeschrieben und übersetzt hatte.

Erich hatte diese Geschichten in vielen Lesungen, die er im ganzen Land hielt, vorgetragen.
Geschichten waren für ihn Instrumente und Hilfsmittel, um ein Gespräch und einen Dialog mit Menschen zu beginnen. “ Was genau suchst du in den Geschichten?” fragte Leo ihn einmal.

“Eine Berührung im Herzen, einen Fingerzeig in eine größere Wirklichkeit und – nicht zu vergessen – ein Lächeln!” war seine Antwort. Diese Qualitäten erfordern einiges von einer Geschichte: Offenheit, Tiefgang, Wiedererkennen, Humor, keine Dogmen – und vor allem dürfen sie nicht moralisch sein.

Es dauerte drei Monate, bis Leo alle Geschichten gelesen hatte, und langsam wurde er von der Magie, der Stille zwischen den Worten und dem erweiterten Blickwinkel ergriffen, den viele Geschichten in ihm bewirkten. Zugleich formte sich der Gedanke: “Hiermit muss ich etwas tun, das habe ich alles nicht bekommen, um es zu lesen und dann wieder in die Plastiktüte zurückzulegen.”

 

Lehre ohne Worte

Das Resultat seiner Überlegungen heißt www.sinnige-geschichten.de. Hier findet man eine besondere Auswahl kurzer spiritueller Geschichten und Parabeln aus verschiedenen Traditionen und Kulturen: Christliche Parabeln, Sufigeschichten, Erzählungen aus dem Buddhismus, dem Taoïsmus und der jüdischen Mystik. Die Geschichten und Parabeln wollen nicht belehren. Hinter den Worten verbirgt sich in der Stimmung und in der Atmosphäre eine Weisheit, die kaum mit Worten zu beschreiben ist. Es kann jedoch geschehen, dass man beim Lesen und Zuhören unerwartet die “Lehre ohne Worte” vernimmt, dass man berührt wird und vielleicht spürt, dass sich im Innern etwas regt und verändert. Weisheit und Einsicht können starre Überzeugungen und alte Denkmuster ins Wanken bringen. Weisheit lässt uns etwas von jener Wirklichkeit erfahren, die jenseits der Worte liegt.

Die auf der Website zusammengetragenen Erzählungen zeigen uns so manche erkennbare Lebenssituation, und gerade darin liegt ihre geheimnisvolle Kraft: Sie können uns die Augen öffnen für die verborgene Weisheit, die auch in unserem eigenen Leben immer allgegenwärtig ist. Sie sind Schlüssel zum Herzen.

 

Wachrütteln

Weisheitserzählungen sind nicht geschrieben, um Menschen von einer Lehre zu überzeugen, sondern um Menschen zum Erwachen zu bringen. Zwischen den Worten, in ihrer Stimmung und Atmosphäre, liegt Einsicht verborgen, Einsicht, die in menschlicher Sprache kaum ausgedrückt werden kann. Je nachdem, ob man sie hört oder liest, kann es geschehen, dass man, fast unerwartet, einem “Lernen ohne Worte” begegnet und einen Moment lang wachgerüttelt wird.

Weisheit belehrt nicht, Weisheit bricht durch die Schale von Ansichten, Überzeugungen, Meinungen und fixen Denkmustern, sie macht den Menschen empfänglich für eine Wirklichkeit, die mit gelehrten Worten nicht zu sagen ist.

Unser eigenes Leben ist eine Erzählung, keine Philosophie, keine Abstraktion. Geschichten und Parabeln geben oft Situationen aus unserem eigenen Leben wieder und lassen uns eine Weisheit fühlen, die oft, ohne dass wir es erkennen, aus unserem eigenen Leben zum Vorschein kommt.
Vielleicht liegt gerade darin die verborgene Kraft von Geschichten und Erzählungen.

 

Unausgesprochene Geheimnisse

Geschichten wie die der drei Siebe auf dieser Seite sprechen in erster Linie nicht unseren Verstand, sondern unser Gefühl an. Überdies weisen sie auf eine Lebensart hin, die auf Mitgefühl und Mitmenschlichkeit basiert. Sinnvolle Geschichten bestehen nicht nur aus Worten. Das “nicht nur” ist schwer zu beschreiben, es ist das unausgesprochene Geheimnis der Erzählungen. Es liegt verborgen unter den Worten, zwischen den Worten und jenseits der Worte.

Es vibriert etwas zwischen den Worten, und beim Lesen kann ein Blitz des Erkennens aufleuchten.

Solche Geschichten sind Wegweiser, ein Finger, der die Richtung anzeigt. Wegweiser sind nicht der Weg, aber ohne Wegweiser finden wir den Weg oft nicht. Der Weg, den Weisheitsgeschichten weisen, ist der Weg nach innen. Und tief in uns brauchen wir keine Worte, dort befindet sich das stille Erkennen, jenseits der Worte.

Eine Geschichte macht Freude. Eine Geschichte ist ein Mittel, um Menschen zu erfreuen, zu relativieren und um vom Alltagsgeschehen frei zu werden. Aber sie verändert auch unsere Denkmuster. Die Welt ist nicht, wie sie ist, sondern wie wir sie sehen. Wenn wir eine Geschichte hören, verändert sich unsere selbstgestaltete Wirklichkeit. Eine Geschichte zeigt uns, dass es auch noch andere Standpunkte und Perspektiven gibt. Die Einsicht, dass etwas anders sein kann, bewirkt schon allein, dass es für uns bereits anders geworden ist.

Eine Geschichte berührt. Eine Geschichte hat eine vielschichtigere Bedeutung als ein guter Ratschlag, da sie Symbole und implizierte Hinweise enthält. Der Zuhörer kann der Geschichte selbst die Bedeutung geben, die gut und richtig für ihn ist. Geschichten überbringen absichtlich oder unabsichtlich eine Botschaft, ohne dass das Bewusstsein des Zuhörers sich dagegen wehren muss. In komplizierten Situationen zeigen Geschichten oftmals auf, wo der Kern des Problems im eigenen Wesen oder in der Struktur einer Organisation zu finden ist.

Eine Geschichte führt in die Stille. Menschen werden still und lauschen mit offenen Ohren. Ohne Ausnahme. Wir brauchen uns als Zuhörer nicht gezwungen zu fühlen, etwas zu tun, Antwort zu geben oder uns eine Meinung zu bilden. Als Vorbereitung für Veränderungen liegen in der Stille wesentliche Berührungspunkte verborgen. Die Stille ist nicht still… Es sind Momente, in denen nachgedacht und wahrgenommen wird, innere Räume geöffnet und Entscheidungen getroffen werden.

 

Die eigene Wirklichkeit

Eine Geschichte enthüllt. In einer Geschichte sind wir nicht daran gebunden, was in der Wirklichkeit möglich oder auch nicht möglich ist. Menschen erzählen eine Geschichte, so wie sie zu ihnen passt. Es ist ihre Wahrheit. Menschen, die ihre Geschichte erzählen, zeigen, wie sie ihr Weltmodell aufgebaut haben und wie ihr System funktioniert. In jeder Geschichte liegen die persönlichen Elemente von Verpflichtung (müssen), Verwunderung (können) und Verlangen (wollen) verborgen und geben Hinweise auf die Identität eines Menschen.

Eine Geschichte verbindet. Der Zuhörer erkennt etwas von sich selbst in der Geschichte, die ein anderer erzählt. Somit werden Denkbilder und Gefühle von Menschen miteinander verbunden und dadurch die Menschen selbst auch. Im Zusammenspiel entsteht eine eigene charakteristische Geschichte, die eine bestimmte Identität aufzeigt und die durch die Menschen, die darin leben, weitergetragen wird. Und wer zu dieser Welt der Geschichten hinzutritt, wird selbst ein Teil davon.

Weisheitsgeschichten sind auch wunderbar für Kinder: sich miteinander Zeit nehmen – den Raum dafür schaffen – eine geborgene Atmosphäre – miteinander nachdenken – Gedanken und Meinungen miteinander teilen – sich mitteilen –unterschiedliche Meinungen haben – die eigene Meinung ändern – voneinander lernen – wachsen – weiser werden….

Beim “Philosophieren” über Weisheitsgeschichten erfahren Kinder, dass für ihre Gedanken Raum ist. Eine sichere Atmosphäre lädt ein, all ihre Gedanken und Gefühle miteinander zu teilen. Dabei geht es nicht um das beste Wissen, sondern um das gemeinsame Suchen nach Antworten in einem Raum, in der der Beitrag eines jeden Kindes wertvoll ist.

 


Die drei Siebe

Einst lief Sokrates durch die Straßen von Athen. Plötzlich kam ein Mann aufgeregt auf ihn zu. “Sokrates, ich muss dir etwas über deinen Freund erzählen, der…”
“Warte einmal, “unterbrach ihn Sokrates. “Bevor du weitererzählst – hast du die Geschichte, die du mir erzählen möchtest, durch die drei Siebe gesiebt?”
“Die drei Siebe? Welche drei Siebe?” fragte der Mann überrascht.
“Lass es uns ausprobieren,” schlug Sokrates vor.
“Das erste Sieb ist das Sieb der Wahrheit. Bist du dir sicher, dass das, was du mir erzählen möchtest, wahr ist?”
“Nein, ich habe gehört, wie es jemand erzählt hat.”
“Aha. Aber dann ist es doch sicher durch das zweite Sieb gegangen, das Sieb des Guten? Ist es etwas Gutes, das du über meinen Freund erzählen möchtest?”
Zögernd antwortete der Mann: “Nein, das nicht. Im Gegenteil….”
“Hm,” sagte Sokrates, “jetzt bleibt uns nur noch das dritte Sieb. Ist es notwendig, dass du mir erzählst, was dich so aufregt?”
“Nein, nicht wirklich notwendig,” antwortete der Mann.
“Nun,” sagte Sokrates lächelnd, “wenn die Geschichte, die du mir erzählen willst, nicht wahr ist, nicht gut ist und nicht notwendig ist, dann vergiss sie besser und belaste mich nicht damit!”

 


Abb: © dimdimich – Fotolia.com

www.sinnige-geschichten.de ist eine Webseite mit sinnigen Kurzgeschichten, die zum Nachdenken anregen, uns auf humorvolle Weise den Spiegel vorhalten und uns berühren – immer mit einem Augenzwinkern und einem Lächeln.

Einmal im Monat kann man gratis eine Geschichtenmail mit einer neuen Geschichte erhalten.
Die Geschichten gibt es auch auf Karten und in Büchern, die auf der website angeboten werden.

Über den Autor

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Bewegungspädagogin, Psychomotorikerin, Übersetzerin und Geschäftsführerin von ZINTENZ EDITION, dem deutschsprachigen Bereich www.sinnige-geschichten.de
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