Die Menschheit lebt unter einer schwarzen und drückenden Schuldwolke. Wie jede Wolke hindert uns auch diese oft daran, die Sonne zu sehen. Viele seelische Erkrankungen wie Depressionen haben in Schuldgefühlen ihre unbewusste Basis. In den bleiernen Schuhen der Schuld kommt man nicht sehr weit auf seinem Weg. Behindert wird nicht nur berufliches Fortkommen, das sich Büßer schon aus Prinzip nicht gönnen; Vereitelt wird auch jener Erfolg, den wir erleben, wenn wir Menschen durch Entfaltung unserer angenehmsten Seiten erfreuen können. Dies ist umso schlimmer, als ein Großteil der Schuldgefühle, mit denen wir uns herumschlagen, völlig unnötig sind. Höchste Zeit, aufzuräumen und zu entrümpeln!

Von Roland Rottenfußer

 

Schuldgefühle machen uns müde, traurig und ängstlich, womit auch schon drei „Volkskrankheiten“ benannt sind, deren besorgniserregende Zunahme in den letzten Jahren oft durch die Presse gegangen ist: Burnout, Depression und Angststörungen. Ein Viertes kommt hinzu: Schuldgefühle machen uns klein. Sie lassen uns zutiefst an unserem Wert zweifeln. In der Folge laufen viele von uns als Schatten dessen herum, was sie eigentlich sein könnten.

Schuldgefühle haben eine ähnliche Wirkung wie die gespenstischen „Dementoren“, die in den Harry-Potter-Büchern als Gefängniswärter fungieren: Ihre Gegenwart laugt aus, sie raubt den Eingesperrten alle Kraft und allen Lebensmut, nur noch ein Gefühl schwärzester Trostlosigkeit bleibt übrig.

Es wäre sicher falsch, pauschal zu behaupten, dass Schuldgefühle die Ursache der meisten psychischen Störungen seien. Auffällig ist aber doch, dass das Thema im psychologischen Zusammenhang wenig zur Sprache kommt – auch in Ratgeberbüchern, die sich mit Potenzialentfaltung und Heilung befassen. Dabei liegt der Zusammenhang sehr nahe:
– Wer sich schuldig fühlt, wird Anstrengungen unternehmen, dies unbewusst durch Leistungen zu kompensieren. Außerdem hilft Arbeit beim Verdrängen. Wer mit Schuldgefühlen zu kämpfen hat, läuft also Gefahr, sich zu überanstrengen (Thema Burnout).
– Wer sich schuldig fühlt, bremst sich in seiner Lebenslust, Tatkraft und Energie stark aus. Um den Schmerz zu bekämpfen, der mit der Erinnerung an eine „dunkle Vergangenheit“ und an die damit verknüpfte Verachtung durch die Mitmenschen verbunden ist, wird er Wege suchen, die Intensität seiner Gefühle zu reduzieren. Er wird auf Sparflamme leben oder – anders ausgedrückt – in einer vereisten Welt ohne Farben und Freude (Thema Depression).
– Schließlich wird, wer sich schuldig fühlt, stets Angst vor Entdeckung, Verachtung und Strafe empfinden. Auch wo kein juristischer Straftatbestand vorliegt, kann es sein, dass der Mensch unter der Schuldwolke um seine Beziehungen und seine gesellschaftliche Stellung bangt oder, wenn er religiös ist, die Strafe Gottes fürchtet (Thema Angststörungen).

Schuldgefühle: Die Wurzel vieler psychischer Leiden

Solchen weltlichen und überweltlichen Strafen versuchen viele zuvorzukommen: durch Selbstbestrafung. Ein drastisches Beispiel hierfür ist der Country-Sänger Johnny Cash. Er durchlebte in den 60ern eine schwere Krise wegen Medikamentenmissbrauchs. Trotz seiner großen Erfolge mit Hits wie „Ring of Fire“ war er in seiner Jugend labil und dünnhäutig, trank und kam mehrfach mit dem Gesetz in Konflikt. Im Oktober 1967 legte er sich in eine Höhle zum Sterben. Mit Hilfe seiner späteren Frau June Carter gelang ihm aber der Entzug, er konnte sein Leben und seine Karriere wieder auf Kurs bringen.

Johnny Cash fühlte sich schuldig am Tod seines Bruders Jack, der sich 1944 mit einer Kreissäge tödlich verletzt hatte. Als der damals zwölfjährige Johnny von einem Ausflug heimkam, begrüßte ihn der Vater mit dem Vorwurf: „Wo bist du gewesen?“ Er suggerierte ihm, Jacks Tod durch Abwesenheit, quasi durch unterlassene Hilfeleistung, verschuldet zu haben. Außerdem sei eigentlich der falsche der beiden Brüder gestorben. Cash trug sein Leben lang schwer an dem Vorfall. Auch wenn ein Zusammenhang mit Tablettensucht und Todeswunsch schwer zu beweisen sind, liegt die Schlussfolgerung doch nahe.

Das unausgesprochene Motto einiger Menschen, die mit einem besonders empfindlichen Gewissen ausgestattet sind, lautet: „Je schlechter es mir geht, desto besser für die moralische Ordnung im Ganzen.“ Das Problem ist in vielen Fällen, dass eine Tat schwer wieder gutzumachen ist. Einen Ast, den wir unabsichtlich geknickt haben, können wir nicht wieder ankleben. Dieses Gefühl, dass etwas irreparabel ist, verleitet uns zu der Annahme, dass wir auch unsere Schuld nicht loslassen dürften: nie mehr. Die „Kunst“ liegt nun darin, sich nicht vollständig zum Gefangenen der eigenen Vergangenheit zu machen. Die Frage sollte nicht sein: Was verdient jemand aufgrund früherer Verfehlungen, sondern: Was kann aus ihm werden, wenn er es schafft, Schuld zu bewältigen. Im einen Fall richten wir unseren Blick in die Vergangenheit, im anderen in die Zukunft.

Wiedergutmachung statt Selbstbestrafung

Es gibt ein schönes Beispiel zum Thema „Schuld und Sühne“ aus der bekannten Schwarzweiß-Filmreihe „Don Camillo und Peppone“. Der Priester Don Camillo hat dem ungeliebten kommunistischen Bürgermeister Peppone einen Streich gespielt und ihm eine Flasche Rizinus zum Trinken gegeben, was für diesen mit einem unangenehmen Daueraufenthalt auf der Toilette verbunden ist. „Jesus“, der die Gewohnheit hat, vom Kreuz herunter mit Don Camillo zu sprechen, ruft in diesem allerdings schon bald einen Wunsch nach Sühne wach. Zerknirscht trinkt Camillo selbst eine Flasche Rizinus aus. Ich sehe in dieser Szene ein Symbol für den herrschenden Selbstbestrafungswahn, die Unfähigkeit zur Gnade – auch sich selbst gegenüber. Es wäre besser gewesen, Don Camillo hätte sich bei Peppone entschuldigt und ihm eine Flasche Wein als Ausgleich geschenkt. Denn: Leid wird nicht aufgehoben, indem man es verdoppelt, sondern durch eine ausgleichende Freude, die man dem Geschädigten oder anderen Menschen zukommen lässt.

Die Exterroristin Silke Meier-Witt, früher Mitkämpferin der „Roten Armee Fraktion“, hat als gerechten Ausgleich für ihre Taten nicht etwa den Selbstmord gewählt. Stattdessen betreute sie von 2000 bis 2005 Waisenkinder im Kosovo und setzte sich im Auftrag des Forums Ziviler Friedensdienst für die Versöhnung zwischen Mazedoniern und Albanern ein. Sie sagte im Rückblick über ihre Zeit bei der RAF: „Reue ist schwierig. Ich empfinde eher Scham. Ich kann mich mit dem, was ich getan habe, nicht identifizieren.“ Die Art von Meier-Witts Engagements hing also unmittelbar mit den Erkenntnissen aus ihren früheren Fehlern zusammen und verarbeitete diese konstruktiv.

Die Energie, die wir für Selbstbestrafungsaktivitäten einsetzen, fehlt uns beim Aufbau einer gerechteren und liebevolleren Welt. Fünf Minuten, in denen wir unseren Rücken mit der Geißel blutig schlagen, hätten wir besser genutzt, um einen lieben Menschen zu streicheln. Der völlig von seinem Schuldgefühl Gelähmte entzieht sich der Welt als ein schöpferisch tätiger, Liebe gebender und empfangender Mensch. Er fügt seinem ursprünglichen Fehler also noch einen zweiten hinzu, indem er sich nicht zugesteht, auf die ihm eigene Weise zu leuchten.

Jenseits der Schuldkultur

Wo Leid erlebt wird, folgt daraus normalerweise der Wunsch nach Heilung. Die Betroffenen beginnen sich um Linderung zu bemühen und suchen nach einem passenden Arzt. Bei Schuldgefühlen ist das anders. Sie sind nicht nur selbst leidbehaftet, sondern bewirken, dass wir uns unbewusst nicht zugestehen, unsere Heilung von diesem Leiden überhaupt zu wollen. So ist der mit Schuldgefühlen Behaftete oftmals sein eigener Ankläger, Richter und Gefängniswärter in einer Person. Leider viel zu selten auch sein Strafverteidiger. Der Betroffene drangsaliert, boykottiert und behindert sich selbst in allen Lebenslagen. Wir denken (wenn auch oft nur unbewusst): „Jemandem wie mir ein erfülltes Leben zu gönnen, käme einer Verhöhnung meiner Opfer gleich.“

Leider spielt in diesem Zusammenhang auch die Schuldfixierung unserer Kultur eine große Rolle, in der ein möglichst großes Leiden des Täters als adäquate Antwort auf die Tat verstanden wird. Und dies gilt für das weltliche Justizsystem ebenso wie für religiöse Vorstellungen von Gottes Zorn, Hölle und Strafe. So fühlte ich mich als Jugendlicher höchst irritiert, wenn mir in der Kirche von einem Priester mit bohrendem Blick die Oblate überreicht wurde: „Christi Blut, für dich vergossen!“ Ich weiß noch, wie ich bei mir dachte: „Für mich? Aber ich wollte doch gar nicht, dass Jesus für mich stirbt.“

Zum Glück zeigte sich sehr bald, dass Christi Blut nicht nur für mich, sondern auch für meinen eigentlich ziemlich harmlos aussehenden Nachbarn am Altar vergossen wurde. Für alle hier in der Kirche. Und nicht nur das: für die gesamte Menschheit. Ich wusste das, ich hatte es ja im Unterricht schon gelernt. Das Abendmahl hätte ein Akt der Befreiung und der Reinigung sein sollen. Irgendwie fühle ich mich aber beschmutzt. Dass mir vergeben wurde, ist schön. Weniger schön ist, dass ich erst durch das Vergebungsritual überhaupt darauf aufmerksam gemacht wurde, dass an mir etwas nicht okay gewesen war. Ein Opfer, Millionen Täter – was für eine wundersame Schuldvermehrung!

Erkenntnis der Wahrheit = Heilung

Für das bewegende Hollywood-Drama „Good Will Hunting“ (1997) schrieben die beiden damals jungen Schauspieler Matt Damon und Ben Affleck das Drehbuch. Sie beschrieben den Weg eines genialen jungen Mathematikers (Will Hunting), der sich durch plötzlich ausbrechende Gewalttätigkeit in seinem Leben immer wieder selbst ein Bein stellte. Will Hunting stünde der Weg zu einer großen Karriere offen, aber er muss zunächst seelischen Ballast beiseite räumen. Dazu konsultiert er auf Anraten seines Professors einen warmherzigen Psychotherapeuten. Der führt ihn Schritt für Schritt an ein Kindheitstrauma heran – er wuchs in Pflegefamilien auf und wurde schwer misshandelt. Will sperrt sich gegen die Erkenntnis, gibt sich – wie viele Jugendliche heute – „cool“ und widerborstig. Bis der Therapeut den Schlüssel zu seiner hinter Mauern verbarrikadierten verletzten Seele findet. Der heilende Satz lautet „Du kannst nichts dafür.“ Da bricht es aus Will heraus, Tränen der Erleichterung dürfen fließen und all den angestauten Schmerz wegschwemmen. Erkenntnis in die Wahrheit der eigenen Unschuld bedeutet Heilung.

Übung zur „Schuldentrümpelung“

Wir haben die Formulierung „Schuldentrümpelung“ gewählt, weil es in den letzten Jahren populär geworden ist, sich von unnötigem Ballast zu trennen: Dinge, die hässlich sind und die wir nur deshalb nicht wegwerfen, weil wir an ihnen hängen, obwohl wir sie nicht brauchen. Dieses Gerümpel verstopft unseren Keller oder Speicher. Ein Großreinemachen bedeutet da Erleichterung. Wir erfreuen uns am wiedergewonnenen Platz, der wiedererlangten Bewegungsfreiheit, und dies macht sich auch auf seelischer Ebene positiv bemerkbar. Loslassen macht uns reicher und schafft Raum für einen Neuanfang. Solche Gedanken sind vielen mittlerweile vertraut.

Beim Thema „Schuld“ erscheinen sie allerdings ungewohnt. Sind Schuldgefühle wirklich nur „Gerümpel“, das man einfach wegwerfen kann? Die Antwort lautet: nicht alle, aber viele. Entrümpelung bedeutet zuallererst: Brauchbares von Unbrauchbarem unterscheiden. Bei Schuld geht es darum, Schuldgefühle, die wir berechtigterweise hegen, von solchen zu unterscheiden, die unnötig sind oder uns nur von außen eingeimpft wurden. Auch wenn wir tatsächlich Schuld auf uns geladen haben, ist ein konstruktiver Umgang damit möglich, vielfach geht es aber zunächst darum, gleichsam den Schuldgefühl-Ramsch zu entsorgen.

Wir haben diesen Prozess in unserem Buch „Schuldentrümpelung“ ausführlich beschrieben. Einen ersten Denkanstoß bekommen Sie, wenn Sie folgende Übung durchführen:

– Schreiben Sie auf einen leeren Bogen (auf Papier oder am Computer) den Ausgangssatz: „Ich fühle mich schuldig, weil…“ und ergänzen Sie diesen Satz aufgrund Ihrer eigenen persönlichen Schulderfahrung. Z.B. „Ich fühle mich schuldig, weil mein Vater, als ich noch klein war, unsere Familie verlassen hat.“

– Stellen Sie sich in Hinblick auf den betreffenden „Fall“ dann folgende Fragen und notieren Sie die Antworten am besten schriftlich:

  1. Vom wem kommt der Schuldvorwurf – von mir selbst oder von anderen?
  2. Wenn der Schuldvorwurf von anderen kommt, sind die betreffenden Personen kompetent und berechtigt, über mich zu urteilen?
  3. Gibt es bei meiner „Tat“ überhaupt eine Geschädigte/einen Geschädigten?
  4. Kann ich sicher sein, dass ich die Ursache für ihr/sein Leiden bin?
  5. Hat das „Opfer“ auch einen Vorteil davon, dass ich mich schuldig fühle?
  6. Gibt es für meine Tat mildernde Umstände?
  7. Wird meine schuldhafte Tat vielleicht durch positive Taten aufgewogen?

Lassen Sie sich diese Fragen gut durch den Kopf gehen. Wenn Sie zu der Überzeugung gelangen, dass Sie sich mit Schuldgefühlen unnötig oder über Gebühr herumgequält haben, veranstalten Sie ein kleines Schuldbefreiungsritual, in dem Sie endgültig mit dem betreffenden Vorfall abschließen. Beschreiben Sie zum Beispiel einen großen Stein mit einem schwarzen Filzstift („Ich fühle mich schuldig, weil…“) und werfen Sie diesen in einem rituellen Akt in den Fluss: „Mir fällt ein Stein vom Herzen“.

Fühlt es sich schon leichter an? Genauere Beschreibungen für Schuldentrümpelung und befreiende Rituale sind in unserem Buch zu finden (siehe Autoreninfo am Ende der Seite). Ebenso Antwort auf die Frage: „Wie gehe ich konstruktiv mit tatsächlich bestehender Schuld um?“

 


Der freie Wille – nur ein Mythos?

„Who’s to blame?“ sagen die Engländer, wenn sie nach einem Schuldigen suchen. Übersetzt heißt das etwa: „Wer kann beschimpft werden?“ Das Bedürfnis, jemanden zu beschuldigen, sitzt tief. Das ganze Justizsystem mit unzähligen Arbeitsplätzen ist auf der Vorstellung aufgebaut, dass es für einen Schaden einen Verantwortlichen geben müsse. Schuld setzt voraus, dass sich jemand böswillig oder fahrlässig zu einer Tat entschieden hat. Was aber, wenn der freie Wille gar nicht existieren würde?

Gehirnforscher haben begründete Zweifel an unserer gängigen Alltagspsychologie. Schon Anfang der 80er wagte der US-amerikanische Neuropsychologe Benjamin Libet ein Aufsehen erregendes Experiment. Durch Messung elektrischer Hirnaktivitäten von Versuchspersonen, die willentliche Körperbewegungen ausführten, fand er heraus: Das so genannte Bereitschaftspotenzial, ein Hirnsignal, das die Vorbereitung motorischer Aktivität anzeigt, ging der bewussten Willensentscheidung um etwa eine Fünftelsekunde voraus. Das Gehirn hatte die Handlung eingeleitet, bevor sich die Person zu ihr „entschloss“. Libet folgerte: „Wir tun nicht, was wir wollen, sondern wir wollen, was wir tun!“

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