Seit Urzeiten suchen die Menschen Orte auf, die sie inspirieren und eine besondere Atmosphäre ausstrahlen. Was können wir heute einem Kraftort lernen? Wo finden wir sie? Und wie nutzen wir sie am besten?

Von Bernita Müller

Stumme Zeugen vergangener Kulturen

Wann der erste Mensch einen Kraftort für sich entdeckte, verliert sich im Dunkel der Geschichte. Aber einige prähistorische Kraftplätze gibt es noch heute, vor allem in Höhlen. Die düsteren Gewölbe wurden nur von flackernden Öllampen erhellt, die Gemälden von roten Pferden und ockerfarbenen Wisenten Leben einhauchten. Hier fanden wohl Initiationen statt, hier verband sich der Schamane womöglich mit dem „Geist der Tiere“.

Im Laufe der Zeit entdeckten und schufen die Menschen viele weitere Kraftorte: Die Megalithkulturen stellten vor allem in Westeuropa riesige Granitblöcke auf – nicht nur in Stonehenge. Die Kelten versenkten Schwerter in heiligen Seen, um die Götter gnädig zu stimmen. In Bhutan wiederum errichtete man Tempel an Stellen, an denen Dämonen ihr Unwesen trieben. Und die Chinesen versuchten, die Energie bestimmter Orte durch Feng Shui positiv zu beeinflussen. Die Liste ließe sich endlos fortführen. Es scheint so, als hätten die meisten alten Kulturen die Kraft bestimmter Orte gesucht, kultiviert oder durch Gebet und Meditation selbst hervorgebracht.

Kraftorte im digitalen Zeitalter

Viele Mythen, die sich einst um Kraftorte rankten, sind verloren gegangen oder zu Ammenmärchen verkommen. Wenn wir hören, dass die alten Athener glaubten, Zeus wohne mit seinem Gefolge auf dem Olymp, bleibt uns nichts als ein Schulterzucken. Die Personifikation der Himmelsmächte mag unterhaltsam sein, aber als Quelle der Inspiration kann sie kaum noch dienen. Wir sind es gewohnt, für alles eine logische Erklärung zu suchen und die Welt mit dem Verstand zu erfassen. Doch das ist nur eine Art und Weise, das Leben zu begreifen. Die alten Chinesen glaubten beispielsweise, dass die Gedanken im Herzen sitzen. Wenn wir mit dem Herzen denken, erspüren wir die Welt, anstatt sie mit dem Verstand zu konstruieren, und bauen eine ganz neue Beziehung zu ihr auf.

Vielleicht geht es heute genau darum – nicht nur den Kopf, sondern auch das Herz sprechen zu lassen. Darum sind Kraftorte auch so wichtig. Mit Kraftorten kann man nur über das Herz in Verbindung treten. Logische Erklärungen dafür wie Erdstrahlen, die in Bovis-Einheiten gemessen werden, sind zwar interessant, helfen aber nicht bei der persönlichen Weiterentwicklung. Kraftorte können ein Rahmen sein, um das Herz zu öffnen und sich mit Himmel und Erde zu verbinden. Sie können als Katalysator dienen, um den nächsten Schritt im Leben zu gehen. Einzige Voraussetzung ist, ihnen eine Chance zu geben und sich tatsächlich auf den Weg zu machen.

Kraftorte in Stadt und Land

Der Ayers Rock in Australien, Stonehenge und die Pyramiden von Gizeh gehören weltweit zu den berühmtesten Kraftorten. Man muss allerdings nicht weit reisen, um magische Plätze zu finden. Berühmte deutsche Vertreter sind zum Beispiel die Externsteine im Teutoburger Wald, die den Germanen heilig waren. Noch heute fällt das Licht genau zur Sommersonnenwende auf einen Altar im Inneren des Felsen. Weniger prominente Kraftorte sind über das ganze Land verteilt. Sogar in Städten kann man sie finden: Am Heiligensee in Berlin wurde früher die Göttin Nerthus verehrt, in der Münchner Frauenkirche soll der Teufel seinen Fußabdruck hinterlassen haben, und der Römerturm in Köln ruht auf einer starken Wasserader. Auf dem Land gibt es vielerorts heilige Quellen oder Bäume, die schon seit langem als Kraftplätze dienen. Finden können Sie diese Orte, indem Sie sich mit alten Legenden vertraut machen, in denen sie eine Rolle spielen. Manche Plätze tragen ihre kultische Bedeutung auch im Namen – „Heidenheim“, „Teufelsberg“ oder „Lichtenfels“ zum Beispiel. Aber woran erkennen Sie Ihren ganz persönlichen Kraftort?

Erde, Feuer, Wasser, Luft

Nicht jeder Kraftort spricht jeden an. Das ist eine Binsenweisheit. Die einen lieben die Berge, die anderen das Meer – so ist es nun einmal. Überlegen Sie also, in welcher Umgebung Sie sich am wohlsten fühlen und am besten entspannen können. Vielleicht gibt es einen See in der Nähe, der in alten Sagen vorkommt? Oder einen Hügel, der Feen bergen soll? Sie können auch einfach Ihrer Intuition freien Lauf lassen und sich bei einem Spaziergang von Ihrem Herzen leiten lassen, ohne sich vorher überlegt zu haben, wohin Sie laufen. Wenn Sie ein bestimmtes Problem lösen wollen, könnte Ihnen auch ein Blick auf die Chakren, Ihre eigenen Energiezentren, weiterhelfen.

Haben Sie vielleicht das Gefühl, nicht wirklich „dazuzugehören“? Fühlen Sie sich schwach und unsicher, weil das Leben schwer auf Ihren Schultern lastet? Vielleicht könnte Ihr erstes Chakra einen Energieschub vertragen. Es steht für Selbstsicherheit und Stabilität – buchstäblich für Erdung. Deshalb könnte Ihnen die Erde helfen, sich auszugleichen. Haben Sie schon einmal unter der Erde meditiert, zum Beispiel in einer Höhle? Oder in einer Senke, in der das Erdreich um sie herum greifbar war?

Probieren Sie es aus. Kälte, innere Erstarrtheit und Probleme, Grenzen zu ziehen, können auf ein schwaches zweites Chakra hindeuten. Da es mit dem Wasser in Verbindung steht, tut Ihnen vielleicht die Nähe eines Sees oder eines Bachs gut. Vielleicht hilft er Ihnen, ins Fließen zu kommen und einen Teil Ihrer Kraft wiederzufinden. Wut, Verdauungsprobleme und ein geringes Selbstwertgefühl wiederum könnten mit einer Schwäche des dritten Chakras zusammenhängen, das am Nabel zu finden ist und mit dem Willen in Verbindung steht. Ein Lagerfeuer könnte helfen, Ihr inneres Feuer wieder zu entfachen.

Sind Sie eher zurückhaltend, verletzlich und abhängig von der Zuneigung anderer? Oder ist Ihr Herz verschlossen? Das Herz-Chakra steht mit dem Element Luft in Verbindung. Gehen Sie in die Berge oder an einen Ort, an dem Sie grenzenlose Weite umgibt, um sich zu öffnen. Natürlich wird ein schöner Platz in der Natur nicht alle Probleme lösen. Aber womöglich kann er Ihnen Starthilfe geben. Doch welcher Berg, welcher See oder welche Höhle ist die richtige, um inneren Themen zu begegnen?

Den eigenen Kraftort finden

Wenn Sie mehrere Plätze gefunden haben, die in Frage kommen, wird es spannend. Nehmen Sie den Ort mit allen Sinnen wahr: Blicken Sie über die Felder, ohne einen Gegenstand zu fixieren, berühren Sie die Bäume oder beobachten Sie die Wirbel des Flusses. Hören Sie genau hin, was Ihnen dieser Ort zu sagen hat. Spüren Sie seine Präsenz – und vergessen Sie sich selbst. Vielleicht werden Sie auf einmal sehr emotional und möchten für immer hier bleiben. Vielleicht sind Sie inspiriert, haben plötzlich tolle Ideen, wollen tanzen oder ein Gedicht schreiben. Oder Sie fühlen sich beschützt, sicher, zu Hause und zufrieden. Sie wissen, dass Sie eins mit der Natur sind – und dieses Glück nichts trüben kann. Natürlich kann diese Erfahrung jederzeit und überall in unser Leben schneien. Kommt sie aber an einem bestimmten Ort auf, hat dieser Platz vielleicht die richtigen Bedingungen dafür geschaffen. Dann haben Sie Ihren Kraftort gefunden.

Kraftorte pflegen

Kraftorte sind keine Wundermittel. Was Sie empfinden, hängt stark von Ihrer aktuellen Gemütslage ab. Das nächste Mal machen Sie vielleicht ganz andere Erfahrungen. Deshalb muss ein Kraftort gepflegt werden: Würdigen Sie diesen Platz mit einem kleinen Ritual, einer Meditation oder einem Gebet. Nutzen Sie ihn, um Antworten auf drängende Fragen zu erhalten, aber nicht für ein Picknick mit Freunden und Bekannten. Je tiefer die Verbindung zu Ihrem Kraftort ist, desto stärker werden die Assoziationen, die er hervorruft. Es ist Ihre Energie, die diesen Ort auflädt. Wenn Sie sich daran erinnern, wie wohl Sie sich das letzte Mal hier gefühlt haben, können Sie diese Zufriedenheit auch in diesem Augenblick spüren, während Sie diese Zeilen lesen. Daran ist nichts Magisches. Oder doch?

Energie ist dort, wo unsere Aufmerksamkeit hingeht. Erinnern wir uns an etwas Positives, hält dieses Schöne wieder Einzug in unser Leben. Sind wir an einem Ort, den wir lieben, ist das, was wir lieben, auch in uns. Der Mensch ist kein Schatten, der über eine leblose Bühne huscht. Seine Umgebung gestaltet ihn genauso wie er sie. Was er im Inneren trägt, projiziert er nach außen, was von außen auf ihn einwirkt, formt seine Gedanken- und Gefühlswelt. Aber der Mensch kann bewusst in diese endlose Verkettung eingreifen: Seine Energie auf das Höhere in sich zu lenken und sie dann dem Universum zu übergeben, ist vielleicht tatsächlich etwas Magisches. Aber Zauberei ist es nicht.

Kraftorte in der Wohnung

Es gibt Tage, an denen bleibt einfach keine Zeit, um nach draußen zu gehen und seinem Kraftort einen Besuch zu abzustatten. Dann ist es gut, wenn Sie auch in Ihren vier Wänden einen magischen Platz eingerichtet haben. Gehen Sie ganz unvoreingenommen durch Ihre Wohnung und spüren Sie in sich hinein. Wo fühlen Sie sich am wohlsten? Wenn Sie einen Ort gefunden haben, schmücken Sie ihn mit Gegenständen, die Ihnen etwas bedeuten. Kerzen, Räucherstäbchen, Figuren oder Blumen werden besonders gerne verwendet. Ihrer Kreativität sind aber keine Grenzen gesetzt. Wenn Sie möchten, weihen Sie Ihren neuen Kraftort mit einem Ritual ein.

Machen Sie sich bewusst, wofür Sie diesen Ort nutzen wollen. Ihre Intention ist ein Anker, der Ihnen auch in stürmischen Zeiten Halt geben kann. Vielleicht erfüllt Sie Ihr Kraftort mit Stolz, vielleicht auch mit Dankbarkeit oder Hingabe. Wichtig ist, dass Sie eine tiefe Verbindung zu ihm auf – bauen, die Sie regelmäßig pflegen. Kraftorte in der Natur und zu Hause sind Hilfsmittel, die Sie auf Ihrem persönlichen Weg begleiten können. Der wichtigste Kraftort liegt allerdings in Ihrem Inneren – denn dort pulsiert die Quelle, die Sie erreichen möchten, die Ihnen jeden Tag neues Leben schenkt und die ein Tor zu der Kraft ist, die das Universum durchzieht. Am Ende geht es darum, selbst zum Kraftort zu werden – und diese Kraft an andere weiterzugeben. Deshalb sagte Rumi: „Wo immer du bist, sei die Seele dieses Ortes.“

Hinterlasse einen öffentlichen Kommentar

Deine Email Adresse wird nicht veröffentlicht.

*