Es wäre extreme Untertreibung zu sagen, dass die spirituelle Öffnung nicht unbedingt ein harmloser, angenehmer und schöner Prozess sein muss. Zunächst flirten wir vielleicht mit dem Erwachen, machen ein paar Meditationsübungen, lesen spirituelle oder metaphysische Literatur, probieren ein paar verschiedene Lehrer und Lehren aus – vielleicht in der Hoffnung, dass unsere spirituellen Erfahrungen uns glücklicher oder erfolgreicher machen werden. Aber wenn wir dann freiwillig oder gezwungener Maßen über den spirituellen Dilettantismus und seine Kulte hinauswachsen und den Punkt erreichen, wo wir keinen Dreck mehr darum geben, was spirituell korrekt ist, und wo spirituelle Öffnung keine Option mehr ist, sondern ein Grundbedürfnis – dann finden wir plötzlich heraus, dass dies viel mehr ein Prozess des Loslassens und Opferns ist, als wir es erwartet hatten: Ein Prozess, der uns notwendigerweise allem ins Auge sehen lässt, von dem wir uns abgewandt haben, über das wir uns weggehoben haben, oder das wir irgendwie anderweitig in uns selbst vermieden haben. Über spirituelles Dynamit.

 

Der ultimative Albtraum des Egos

Jenes Selbst, das so begeistert ist, spirituell zu werden, das die Transformation sucht, das Momente des Lichts zu spirituellen Immobilien macht, das sich selbst durch meditative Praxis und das Sitzen bei mit geistigen Schwergewichten definiert: Dieses Selbst wird früher oder später nicht nur selbst ein Objekt des Bewusstseins, sondern zu bloßem Brennstoff für das Feuer des Erwachens – so wie es schließlich all unseren Selbsten ergeht, all den „Ichs“, aus denen wir uns zusammensetzen.

Dies bedeutet nicht zwangsläufig die Auslöschung unseres „Ichs“, sondern beendet gerade genug unserer Identifikation, dass da wenig oder kein „Ich“ – oder irgendein glaubwürdig getrennter Selbst-Sinn – übrig bleibt, der sich noch dazu gratulieren könnte, dass er spirituell erwacht ist. Spirituelles Erwachen mag unserem Ego wie eine sehr wünschenswerte Spielerei, ein Abzeichen, ein leuchtender Ehrentitel erscheinen – aber eigentlich ist es sein ultimativer Albtraum, sein endgültiger Flop.

Die rosigen Phantasien, die das „Ich“ sich über die Teilnahme an seiner eigenen Beerdigung macht, sind nur Narzissmus, high auf spiritueller Gier. Es gibt keine Oscars für das Erwachen, es gibt kein funkelndes Drama für das erleuchtete Ego oder andere Unmöglichkeiten. Stattdessen ist da Freiheit – Freiheit von einer von sich selbst besessen Subjektivität, Freiheit von der Identifikation mit irgendetwas Bestimmtem, Freiheit davon zu träumen, dass wir nicht träumen, Freiheit zu sein.

Vielleicht mögen wir die Idee des Aufwachens aus allen unseren Träumen zunächst, aber wenn wir beginnen zu realisieren, wie viel wir in unsere Träumen investiert haben, verliert die Möglichkeit des Aufwachens plötzlich viel von ihrem Reiz. Dies und die Tatsache, dass echte spirituelle Praxis nicht umhin kommt, alles zum Vorschein zu bringen, was wir lieber versteckt und unterdrückt gehalten hätten, ist der Grund, warum so wenige ihren Weg bis in die höheren Lagen der Spiritualität fortsetzen. Ein komfortabler, gut ausgestatteter Aufenthalt im Gefängnis scheint plötzlich erstrebenswerter als die Beschwerden, die Dehnung, die Zeiten auf der Kippe, die ein genauso großer Teil einer reifen spirituellen Praxis sind, wie Freude und Gleichmut.

Das Feuer des Erwachens

Spirituelles DynamitSo ist es nicht unbedingt komfortabel im Tiegel der Alchemie des Erwachens – sein Feuer gibt Licht, ja, aber es brennt auch, es erzeugt genug Wärme, um unsere Illusionen und Lügen mit allem Drumherum zu verdampfen, wenn wir nah genug an seine Flammen treten.

Dieses Feuer zerstört, aber nur, um zu erschaffen. Und zu heilen. Aus seinen Flammen entsteigt unsere Authentizität – abzüglich des Missverständnisses der Identifikation, mit der wie sie belastet und verdeckt hatten.

Bis das Feuer zu reinem Licht geworden ist, werden wir es ertragen müssen, zu brennen. Spirituelle Ausdauer. Was auch immer unerlöst oder unvergeben in uns verborgen liegt, was immer geächtet oder verurteilt in irgendeiner Ecke unserer Psyche liegt, was immer in uns im Dunkeln gehalten wurde – alles wird an die Oberfläche kommen, wenn wir uns wirklich spirituell öffnen. Zunächst ist dies die schlechte Nachricht, aber es ist eigentlich eine gute Nachricht.

Manchmal ist die Arbeit mit dem Feuer leicht, fließend, mühelos, selig, und manchmal ist es harte Arbeit. Es gibt keine Abkürzung für die Zeit im spirituellen bootcamp. Wenn wir bereit dafür sind, brauchen wir uns nicht mal anzumelden – Umstände, in Bewegung gesetzt durch unsere Handlungen und Entscheidungen werden uns dort einschreiben – oft scheinbar gegen unseren Willen. Wenn wir wirklich wüssten, auf was wir uns da einließen, würden nicht viele von uns weiter in diese Richtung gehen. Wir können gerne glauben, wir wüssten, was die optimalen Bedingungen für unser Erwachen sind, aber die Chancen stehen besser, dass wir keine Ahnung haben (und wir wollen bloß, dass es nicht allzu viel von uns verlangen wird). Aber das Leben „weiß“ und es erschafft diese Bedingungen, für die wir – verständlicherweise – selten dankbar sind zu der Zeit.

 

Spirituelles Dynamit: Keine Angst vor Chaos

Geistige Offenheit erlaubt es scheinbar verrückten oder nicht-alltäglichen Phänomenen an die Oberfläche zu treten – oder lädt diese sogar ein. Wenn dies außer Kontrolle gerät, als das, was man als einen „spirituellen Notfall“ bezeichnet, ist dies nicht unbedingt ein Problem, sondern kann tatsächlich ein völlig passender und tiefer Heilungsprozess sein. Leider werden die störenden, beunruhigenden oder schmerzhaften Schwierigkeiten, die mit der spirituellen Öffnung assoziiert sind oft von Angehörigen der Gesundheitsberufe als psychische Erkrankungen missverstanden.

Außer Kontrolle zu sein, kann tatsächlich an einem bestimmten Punkt benötigt werden, um unsichtbare oder unbewusste repressive oder dysfunktionalen Strukturen zu zerbrechen, die sich unter anderen Umständen einfach nicht zeigen würden. Außer Kontrolle zu geraten, kann uns in die offensichtlich geistigen Bereiche katapultieren – aber es kann auch die subtile Verknöcherung zerbrechen, die auftritt, wenn Spiritualität allzu spirituell wird. Gleichzeitig ist es jedoch wichtig, in der Lage zu sein – oder gekonnt dabei unterstützt zu werden – herauszutreten und die Bremse zu betätigen, wenn die Dinge zu verrückt oder beängstigend werden.

Erwachen braucht psychologische Arbeit

Psychologische Arbeit zu tun ist sehr hilfreich, sowohl vor als auch während der spirituellen Öffnung. Es ist nicht genug, die eigenen „Ichs“ zu überwinden – man sollte auch ein tiefes Wissen, eine intime Kenntnis des eigenen psychologischen Konstrukts haben – sonst werden dessen Schatten-Elementen die eigenen spirituellen Bemühungen kontaminieren. Schon viele haben ihre Segel mit großen Hoffnungen gesetzt, nur um an den Riffen des spirituellen Ehrgeizes Schiffbruch zu erleiden. Das vorzeitige Eintauchen in das Transpersonale ist die Garantie für einen baldigen Wiederabsturz ins Persönliche – und zwar mehr als oft auf Händen und Knien – damit wir uns endlich mit dem auseinandersetzen, was wir versuchten, durch unsere sogenannte Spiritualität zu vermeiden. Es ist ein narrensicherer Prozess: Niemand gelangt durch die heilige Pforte, der nicht bereit ist dafür.

Die nichtkonzeptuelle Realisierung unserer wahren Natur ist spirituelles Dynamit. Auch ein Vorgeschmack darauf sprengt Türen auf, von denen wir gar nicht wussten, dass sie existieren.

 

Reines Sein – Mensch-sein

Und durch diese Türen, durch diese Lichtung, ist reines So-Sein – radikal roh, jenseits unserer wildesten, verrücktesten Träume, jenseits von dem, was „jenseits“ bedeutet. Es ist die ultimative Büchse der Pandora. Also spielen wir einige Zeit „Kuckuck“ mit der maskierten Realität, wir stopfen unsere flüchtigen Einblicke in Flaschen, die dazu bestimmt sein, viel Staub anzusetzen, bevor sie schließlich und endlich entkorkt werden. Zu viel Licht blendet. Wir neigen daher dazu, die Flaschen im Dunkeln zu halten. Jeder Einblick – jedes Satori – enthält Realitäts-erschütterndes Potenzial vor der unsere Menschlichkeit zittert und entflieht.

Die einzige Möglichkeit, Gott direkt gegenüberzutreten – (Gott als das, was absolut befreit, wenn es erkannt wird) – ist das eigene Gesicht vollständig zu verlieren. Wenn wir Gott begegnen, begegnen wir weit mehr als den äußersten Grenzen unseres Menschseins. Wir sind mehr als wir uns vorstellen können. Wir sind nicht einmal ein „wir“ …
Und doch: Wir sind auch dieses Mensch-sein – jeder von uns einzigartig personalisiert, wenn wir jetzt nach unserem Meditationskissen oder der Fernbedienung oder dem Stück Schokolade greifen, das wir im Kopf hatten, bevor wir begannen, diesen Aufsatz zu lesen.

Jenseits des nondualen spirituellen Gebrabbels – wir alle eins sind, gibt es nur Gott, etcetera, etcetera – das derzeit allerorts von den neuesten spirituellen Lehrern für hungrige Satsang-Gespenster wieder und wieder erbrochen wird, und jenseits der Ich-zentrierten, Selbstvergötterung die unsere zeitgenössische Kultur verseucht und jenseits aller Konflikt zwischen spirituellen Ansätzen, sind wir gleichzeitig unendlich groß und unendlich klein, gleichzeitig unsterblich und sterbend. Unsere Universalität und Partikularität sind unzertrennlich, unser gemeinsames Herz hat Raum für alle.

Wir haben nicht nur Raum für alle, wir sind der Raum für alles – auch wenn wir gleichzeitig das Alles sind, für das wir Raum haben. Sich für diese Realität zu öffnen, bereitet dem Verstand ein jähes Ende. Die Wahrheit ist, was intuitiv erkannt ist, wenn ein ontologisches Paradox unerklärlichen und dennoch totalen Sinn ergibt.

Und meine Worte, unsere Worte, die Worte, zerbrechen, sie zerbrechen wie das Sternenlicht auf plätschernder See, so dass die Kluft zwischen ihnen und dem was sie beschreiben, sich verengt zu einem Nichts, und mich sprachlos zurücklässt – zumindest für ein paar Minuten – in der immer frischen Vertrautheit des Geistes, zurückgekehrt in das, was ich nie verlassen hatte, sondern von dem ich nur geträumt habe, ich hätte es verlassen.

 

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3 Responses

  1. Trident

    Der Autor suggeriert durch ausführliche Beschreibung seiner Theorien, er selber habe das (Satori) so erfahren. Ich denke, wenn man DAS in irgendeiner Weise beschreiben kann, dann, das es nicht denkbar und nicht sagbar ist.

    Er suggeriert ebenso, er sei über die Identifikation mit dem bösen Ego hinaus, doch andererseits ist er wiederum sehr egohaft stolz und von sich eingenommen. Er prahlt damit, „über den spirituellen Dilettantismus und seine Kulte hinaus(ge)wachsen“ zu sein, doch eigentlich kommen da immer nur die üblichen Phrasen des Eso-Games. Nichts Neues, immer dieselbe Leier, schöne Worte, kein wahrer Realitätsbezug.

    Antworten
  2. Christa

    Ja, es ist wunderbar, dass die Zeiten des ‚entweder oder‘ sich gewandelt haben in ’sowohl als auch‘.
    Vieles spirituell Erlebte lässt sich kaum vom menschlich begrenzten Verstand erfassen. Das Formulieren, also auch das Eingrenzen des Erfahrenen in Worte ist etwas, das mir manchmal kaum möglich erscheint.
    Ist es nicht zudem so, das Worte einschließlich der beinhalteten Energien von jedem Lesenden auf die eigene Art verstanden, abgelehnt oder angenommen werden?

    Meine spirituelle Entwicklung hat viele Teile von mir, also von meinem menschlichen oder persönlichen Ich, auf eine teilweise brutale Weise absterben lassen, damit Teile meines wahren Ich zum Vorschein kommen können und gelebt werden wollen. Da geht es nicht um: ‚Hat mein menschliches oder mein spirituelles Ich das Sagen?‘, sondern einzig um: ‚Was kommt aus dem Verstand und was aus dem Herzen?‘
    Und es ist mein Bedürfnis, einfach aus dem Herzen zu tun und zu sein.
    Denn von hier aus kann ich die sein, die ich bin und das ausdrücken, was ich bin in der grenzenlosen Weite des Universums.
    Danke

    Christa

    http://www.elevio.de/alltag/elearning-profil/verstandesbewusstsein—emotionales-bewusstsein—k%c3%b6rperbewusstsein—herzbewusstsein/1149

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  3. Tanja Richter, Seelen(t)raum

    Aus meiner Sicht geht es nicht darum, das Ich zu überwinden. Das erscheint mir viel zu anstrengend und ich empfinde es als Selbstverleugnung. Aus meiner Sicht geht es um Erweiterung des eigenen Ichs. Dann darf ich ich bleiben und schließe alles andere mit ein.
    ICH BIN DAS erscheint mir lebensnaher als ICH BIN DAS NICHT. Womit sollte ich mich denn sonst identifizieren, wenn nicht mit mir selbst?
    Wenn ich sage, ich bin das, dann kann ich mich frei in der Einheit allen Seins bewegen. Dann kann ich immer bestimmen, ob ich gerade weit und enbegrenzt sein möchte oder ob es mir hier und jetzt hilfreicher ist, mich als inkarniertes Wesen mit Grenzen zu sehen. Grenzen zu setzen ist wichtig. Wie sollten wir sonst Vielfalt leben können? Wie sollten wir sonst etwas erschaffen können? Die Grenzen sind unsere Überzeugungen und Gefühle.
    Von mir aus gesehen sieht DAS GANZE (was andere gern Gott nennen) anders aus als von dir aus. Und das ist GUT so, weil es sonst am Ende schlicht langweilig wird.

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